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OJ 10/1, [18] - Handwritten letter from Dahms to Schenker, dated March 31, 1916
Neue Anschrift: Grünewald-Berlin Warmbrunnerstr. 4 Pension Kaschke den 31. III. 16. Lieber Herr Doktor! 1 Herzlichen Dank für Ihre herrliche Sendung; 2 op. 111 habe ich gestern erhalten und ich freue mich auf das Studium. Was Ihnen die „Gesamtheit“ und vor allem die Klique der Musikhistoriker noch nicht dankt, das empfinden und wissen aber sicher schon viele: dass Ihre Tat noch bestehen wird, wenn unsere „mit Recht[“] berühmten und beliebten zeitgenössichen Grössen längst vermodert und vergessen sind. {2} Jedesmal, wenn ich an Sie denke, und das ist täglich, verfluche ich den Krieg noch heftiger. Denn von Tag zu Tag sehe ich noch mehr ein, wie ganz von vorn ich anfangen muss, um zur Wahrheit fähig zu werden. Gestern war ich in einem Brahms-Abend, den Max Fiedler dirigierte: D-Dur Sÿmphonie, Haÿdn-Variationen u. 2 Ouvertüren. Man vergisst dann ganz, was für Musik nach Brahms gemacht worden ist. Man hält all das, wie es gekommen ist, nicht für möglich. – Ihren langen Brief 3 vor einiger Zeit mit habe ich noch im Lazarett {3} erhalten. Wenn ich Ihnen noch nicht darauf geantwortet habe, dann ist es auf die Veränderungen in meiner äusseren Lage: Überweisung in ein Erholungsheim zurückzuführen[.] Ich befinde mich hier freier, kann spazieren gehen, ungestört lesen und so. Mit der Musik geht’s schlecht genug. Das Lese- und Vorstellungsvermögen hat erschrecken nachgelassen; das merke ich besonders beim Klavierspiel. Ich übe mich jetzt in den einfachsten Dingen, z.B. Instrumentieren von „Liedern ohne Worte“ von Mendelssohn. Daneben verbrenne ich alles, was ich bisher {4} in der Komposition verbrochen habe – es ist nicht gerade wenig – und wünschte nur, dass ich noch nichts über Musik geschrieben hätte. Denn ich muss mich ja schämen, wenn ich Ihre Wa[h]rheiten lese und als einzig wahr anerkenne. Ob’s noch einmal anders wird, dass ich mich sehen lassen kann? – Ich fühle jetzt erst, wo ich zur Ruhe gekommen bin, wie krank meine Nerven eigentlich sind. Entschuldigen Sie diesen Klagesermon. Ich klammere mich mit meiner ganzen Zukünftshoffnung an Sie. © Transcription John Koslovsky, 2012 |
New address: Grünewald-Berlin Warmbrunnerstrasse 4 Pension Kaschke March 31, 1916. Dear Dr. [Schenker,] 1 Many thanks for your wonderful parcel; 2 I received Op. 111 yesterday and look forward to studying it. That which the "totality" and especially the clique of music historians do not yet thank you for, for sure many already sense and know: that your achievement will continue to exist "with justification" when our famous and beloved modern greats have long rotted away and been forgotten. {2} Every time that I think of you, and that is every day, I curse the war ever more vehemently. From day to day I see ever more how much I must begin afresh to attain the truth. Yesterday I attended a Brahms evening, which Max Fiedler conducted: the D-major Symphony, the Haydn Variations, and two overtures. One then completely forgets what kind of music has been written after Brahms. One considers all of it, how it has come about, not possible. – I received your long letter 3 from some time ago while still in the military hospital. {3} If I have not yet answered it, it is because of the change in my external situation: transfer back to a rest home. I find myself here much freer, I can go for walks, read undisturbed, and so forth. With music it is bad enough. The ability to read and to ponder things has diminished horribly; I notice this in particular when playing piano. I practice the simplest things now, such as instrumental arrangements of Songs Without Words by Mendelssohn. In addition I am burning everything that up to now I {4} have perpetrated in composition – it is no small amount – and I only wish that I had not yet written anything about music. I must feel ashamed of myself when I read your truths and acknowledge them as the sole truth. Whether it will be different one day, whether I am able to look at myself once again? – I am only now starting to feel, when I have come to rest, just how sick my nerves actually are. Please excuse this complaining sermon. I cling to you with my whole hope for the future. © Translation John Koslovsky, 2012 |
Neue Anschrift: Grünewald-Berlin Warmbrunnerstr. 4 Pension Kaschke den 31. III. 16. Lieber Herr Doktor! 1 Herzlichen Dank für Ihre herrliche Sendung; 2 op. 111 habe ich gestern erhalten und ich freue mich auf das Studium. Was Ihnen die „Gesamtheit“ und vor allem die Klique der Musikhistoriker noch nicht dankt, das empfinden und wissen aber sicher schon viele: dass Ihre Tat noch bestehen wird, wenn unsere „mit Recht[“] berühmten und beliebten zeitgenössichen Grössen längst vermodert und vergessen sind. {2} Jedesmal, wenn ich an Sie denke, und das ist täglich, verfluche ich den Krieg noch heftiger. Denn von Tag zu Tag sehe ich noch mehr ein, wie ganz von vorn ich anfangen muss, um zur Wahrheit fähig zu werden. Gestern war ich in einem Brahms-Abend, den Max Fiedler dirigierte: D-Dur Sÿmphonie, Haÿdn-Variationen u. 2 Ouvertüren. Man vergisst dann ganz, was für Musik nach Brahms gemacht worden ist. Man hält all das, wie es gekommen ist, nicht für möglich. – Ihren langen Brief 3 vor einiger Zeit mit habe ich noch im Lazarett {3} erhalten. Wenn ich Ihnen noch nicht darauf geantwortet habe, dann ist es auf die Veränderungen in meiner äusseren Lage: Überweisung in ein Erholungsheim zurückzuführen[.] Ich befinde mich hier freier, kann spazieren gehen, ungestört lesen und so. Mit der Musik geht’s schlecht genug. Das Lese- und Vorstellungsvermögen hat erschrecken nachgelassen; das merke ich besonders beim Klavierspiel. Ich übe mich jetzt in den einfachsten Dingen, z.B. Instrumentieren von „Liedern ohne Worte“ von Mendelssohn. Daneben verbrenne ich alles, was ich bisher {4} in der Komposition verbrochen habe – es ist nicht gerade wenig – und wünschte nur, dass ich noch nichts über Musik geschrieben hätte. Denn ich muss mich ja schämen, wenn ich Ihre Wa[h]rheiten lese und als einzig wahr anerkenne. Ob’s noch einmal anders wird, dass ich mich sehen lassen kann? – Ich fühle jetzt erst, wo ich zur Ruhe gekommen bin, wie krank meine Nerven eigentlich sind. Entschuldigen Sie diesen Klagesermon. Ich klammere mich mit meiner ganzen Zukünftshoffnung an Sie. © Transcription John Koslovsky, 2012 |
New address: Grünewald-Berlin Warmbrunnerstrasse 4 Pension Kaschke March 31, 1916. Dear Dr. [Schenker,] 1 Many thanks for your wonderful parcel; 2 I received Op. 111 yesterday and look forward to studying it. That which the "totality" and especially the clique of music historians do not yet thank you for, for sure many already sense and know: that your achievement will continue to exist "with justification" when our famous and beloved modern greats have long rotted away and been forgotten. {2} Every time that I think of you, and that is every day, I curse the war ever more vehemently. From day to day I see ever more how much I must begin afresh to attain the truth. Yesterday I attended a Brahms evening, which Max Fiedler conducted: the D-major Symphony, the Haydn Variations, and two overtures. One then completely forgets what kind of music has been written after Brahms. One considers all of it, how it has come about, not possible. – I received your long letter 3 from some time ago while still in the military hospital. {3} If I have not yet answered it, it is because of the change in my external situation: transfer back to a rest home. I find myself here much freer, I can go for walks, read undisturbed, and so forth. With music it is bad enough. The ability to read and to ponder things has diminished horribly; I notice this in particular when playing piano. I practice the simplest things now, such as instrumental arrangements of Songs Without Words by Mendelssohn. In addition I am burning everything that up to now I {4} have perpetrated in composition – it is no small amount – and I only wish that I had not yet written anything about music. I must feel ashamed of myself when I read your truths and acknowledge them as the sole truth. Whether it will be different one day, whether I am able to look at myself once again? – I am only now starting to feel, when I have come to rest, just how sick my nerves actually are. Please excuse this complaining sermon. I cling to you with my whole hope for the future. © Translation John Koslovsky, 2012 |
Footnotes1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at p. 145, April 4, 1916: "Von Dahms (Br.): dankt für op. 111 u. spricht die Überzeugung von der Fortdauer meiner Arbeiten aus; kann nicht begreifen, wie nach Brahms das kommen konnte, was gekommen ist u. teilt mit, er habe seine eigenen Arbeiten vernichtet u. wollte, er hätte auch alles übrige Geschriebene besser nicht geschrieben." ("From Dahms (letter): thanks [me] for Op. 111 and voices his conviction as to the lasting quality of my works. He cannot comprehend how what has come after Brahms could possibly have come about, and informs me that he has destroyed his own works and wishes that had been written better all the other things he has written."). 2 This dispatch is recorded in Schenker's diary at OJ 2/1, p. 169, March 22, 1916: "An Hertzka Brief; Anfrage wegen der Exemplare, u. Bitte um ein Exemplar für Dahms." ("To Hertzka, letter; inquiry regarding the copies, and request of a copy for Dahms."); p. 171, March 25, 1916: "Von Hertzka (Br.): meldet die Absendung der Ehrenexemplare an die Förderer." ("From Hertzka (letter): announces the dispatch of the complimentary copies to the supporters."). 3 Writing of this letter, which is not known to survive, is recorded in Schenker's diary at OJ 2/1, p. 156, March 10, 1916: "An Dahms (Br.): stelle der allgemeinen Meinung gegenüber fest, daß meine Tätigkeit fern davon wirkliche Persönlichkeit zu erdrücken, weit eher karg begabte Talente zu fördern, also mindestens in die Nähe von Persönlichkeiten zu bringen vermag. Diejenigen, die von ihrer Persönlichkeit sprechen, wollen als solche gelten, da sie es nicht wirklich sein u. werden können. Ihre Eitelkeit verleitet sie dazu zu glauben, sie hätten das Ziel schon erreicht, noch ehe sie sich an die Ausführung gemacht haben. Indem sie es einfach von sich behaupten, sie wären Persönlichkeiten, bilden sie sich ein, auch schon den Beweis dafür erbracht zu haben ‒ doch eben mit ihrer Behauptung u. Einbildung. Solche Naturen haben nicht einmal hinreichend Talent Vorbildern nachzuahmen, obgleich Nachahmung ihr einziges Geschäft bleibt. Und da bin nun gerade ich derjenige, der durch Erläuterung der Vorbilder ihnen mindestens die Nachahmung erleichtert. Daher sollten alle vom positiven Charakter meiner Tätigkeit wohl auch nach dieser Richtung sprechen u. endlich verstehen, daß das Negative ja lediglich auf ihrer Seite ist." ("To Dahms (letter): Contrary to general opinion, I assert that the work I do, far from crushing true personality, is much rather capable of fostering poorly gifted talents, thus at least bringing [them] into something closer to personalities. Those who speak of their personality want to count as such, since they really are not and cannot become such. Their vanity misleads them into believing that they have already attained the goal even before they have completed its development. While they simply assert that they are themselves personalities, they imagine they have furnished the evidence for that ‒ solely by virtue of their assertion and imagination. Such types do not even have sufficient talent to imitate their models, although imitation remains their only business in life. And hence it is I who am precisely the only one who at least makes their imitation easier by elucidation of their models. Accordingly everyone ought in fact to speak of the positive character of what I do from this point of view, and finally understand that that which is negative really lies solely on their side."). |
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Commentary
Digital version created: 2012-09-27 |