Browse by
OJ 10/1, [19] - Handwritten letter from Dahms to Schenker, undated but presumably May 1, 1916
Warum ist denn immer noch nicht Frieden? Man hofft jetzt, wenn man nach dem Westen sieht, was man kaum zu hoffen wagen darf. Sollte es wirklich möglich sein, dass wir im Herbst vielleicht schon wieder an unser persönliches Glück, an unsere Ideale, an die Kultur denken dürfen? Das Grauenhafte der Tage, die wir jetzt durchleben, wird ja überhaupt nur erträglich, wenn wir von der Zukunft und allem Schönen träumen dürfen. Wie viel ist mir in all den endlosen, schlaflosen Nächten im Lazarett durch den Kopf gegangen. Wieviel Pläne und Versuche, an ihre Verwirklichung zu denken. {2} Mit dem Ende des Krieges mache ich auch unter mein ganzes bisheriges Leben einen dicken Schlussstrich. Ich will ein anderer besserer Mensch werden. Alles was ich bisher geleistet habe an irgendwelchen Arbeiten, namentlich Kompositionen, will ich vergessen und noch einmal ganz von vorn anfangen. Halten Sie das noch für möglich, trotzdem ich nun bald 29 Jahre alt werde? Ach, ich klammere mich so an die Möglichkeit, nach Wien kommen zu können. Ich fühle mich ja auch noch weit jünger, weil ich so viele Zeit unter den erdrückendsten äusseren Verhältnissen leben musste. Hier in Berlin mutet mich alles so trostlos verkommen an. Kein Mensch, der die ideale Forderung in Kunst und Leben unerbittlich erhöhe. Alles käuflich, die Zeitungskritik ein einziges übler Sumpf. Es ist fürchterlich. Wo ich auch spreche und meine Überzeugungen von der Heiligkeit der Kunst vertrete – verständnisloses Be- {3} harren in der plattesten Alltäglichkeit. Kein Mensch ist mehr eines Aufschwungs fähig. Einzige Ausnahme hier: Conrad Ansorge, den ich aber leider lange Zeit nicht gesehen habe. Immer, auch bei den sogenannten guten, lieben Menschen heisst es: „Gewiss, die Kunst soll ernst getrieben werden, die Meisterwerke sind heilig; aber man muss doch auch Konzessionen machen. Die Menschen wollen doch Zerstreuung.” – Wen nennt man hier einen „Meister“!! – Marschalk schreibt in der Vossischen Zeitung, „ R. Strauss begleitete lässig und von oben herab „eben wie ein Meister“!! Köstlich. – Letztens war Ferd. Löwe
hier, dirigierte Brahms
I. u. Bruckner
III. – Riesen erfolg beim Publikum und in den Zeitungen. Ich war nicht
dort. Leider ist man bei den komponierenden Kritikern immer im unklaren, ob ihr Lob auch nicht stinkt, d.h. ob K sie den Künstler nicht damit zum Aufführungen ihrer eigenen höchst vortrefflichen Werke ermuntern wollen. {4} Genug: es ist alles so jämmerlich, wen sodass man eben nur auf das Bessere hoffen kann. Hoffentlich geht es Ihnen gut. © Transcription John Koslovsky, 2012 |
Why is there still no peace? When one looks to the West, one hopes what one can hardly dare to hope. Might it actually be possible that in the autumn we may again think about our personal happiness, about our ideals, and about culture? The atrocities that we must live through today are only tolerable if we can dream of the future and of everything beautiful. So much has gone through my head in all of the endless, sleepless nights in the military hospital. So many plans, attempts and their implementation to think about. {2} When the war comes to an end I also intend to write the double bar line for my entire life as it has been lived up to now. I wish to become a different and better person. I want to forget everything I have produced up to now in all aspects of work, especially composition, and I want to begin once again completely from the beginning. Do you think this is still possible, even though I will soon turn twenty-nine? Ah, I cling to the possibility of being able to come to Vienna. I still feel much younger because I have had to live for so much time under the most overwhelming external conditions. Here in Berlin everything appears to me to have decayed so miserably. Not a single person who raises the demand for art and life relentlessly. Everything can be bought, and newspaper criticism is just one big nasty swamp. It's dreadful. Whenever I also speak of and represent my convictions about the sanctity of art – nothing but uncomprehending {3} persistence of the most plain banality. No one is capable of improvement anymore. One exception here: Conrad Ansorge, whom I unfortunately have not seen for a long time. It is always like the following, even with so-called good and kind people: "Certainly, art should be taken seriously, the masterworks are sacred; but one must also make concessions. People want a diversion." – Who does one call a "master"!! Marschalk writes in the Vossische Zeitung , Richard Strauss conducts casually and from above "even like a master"!! Priceless. – Recently Ferdinand Löwe
was here conducting Brahms's First Symphony and Bruckner's Third. – Huge success with the public and in the
newspapers. I wasn't there. Unfortunately one is always uncertain about composer-critics, whether their praise does not also reek, that is, whether they do not want to encourage the artist thereby to perform their own highly superb works. {4} Enough: it is so pitiful, in such a way that one can only hope for better things. I hope you are well. © Translation John Koslovsky, 2012 |
Warum ist denn immer noch nicht Frieden? Man hofft jetzt, wenn man nach dem Westen sieht, was man kaum zu hoffen wagen darf. Sollte es wirklich möglich sein, dass wir im Herbst vielleicht schon wieder an unser persönliches Glück, an unsere Ideale, an die Kultur denken dürfen? Das Grauenhafte der Tage, die wir jetzt durchleben, wird ja überhaupt nur erträglich, wenn wir von der Zukunft und allem Schönen träumen dürfen. Wie viel ist mir in all den endlosen, schlaflosen Nächten im Lazarett durch den Kopf gegangen. Wieviel Pläne und Versuche, an ihre Verwirklichung zu denken. {2} Mit dem Ende des Krieges mache ich auch unter mein ganzes bisheriges Leben einen dicken Schlussstrich. Ich will ein anderer besserer Mensch werden. Alles was ich bisher geleistet habe an irgendwelchen Arbeiten, namentlich Kompositionen, will ich vergessen und noch einmal ganz von vorn anfangen. Halten Sie das noch für möglich, trotzdem ich nun bald 29 Jahre alt werde? Ach, ich klammere mich so an die Möglichkeit, nach Wien kommen zu können. Ich fühle mich ja auch noch weit jünger, weil ich so viele Zeit unter den erdrückendsten äusseren Verhältnissen leben musste. Hier in Berlin mutet mich alles so trostlos verkommen an. Kein Mensch, der die ideale Forderung in Kunst und Leben unerbittlich erhöhe. Alles käuflich, die Zeitungskritik ein einziges übler Sumpf. Es ist fürchterlich. Wo ich auch spreche und meine Überzeugungen von der Heiligkeit der Kunst vertrete – verständnisloses Be- {3} harren in der plattesten Alltäglichkeit. Kein Mensch ist mehr eines Aufschwungs fähig. Einzige Ausnahme hier: Conrad Ansorge, den ich aber leider lange Zeit nicht gesehen habe. Immer, auch bei den sogenannten guten, lieben Menschen heisst es: „Gewiss, die Kunst soll ernst getrieben werden, die Meisterwerke sind heilig; aber man muss doch auch Konzessionen machen. Die Menschen wollen doch Zerstreuung.” – Wen nennt man hier einen „Meister“!! – Marschalk schreibt in der Vossischen Zeitung, „ R. Strauss begleitete lässig und von oben herab „eben wie ein Meister“!! Köstlich. – Letztens war Ferd. Löwe
hier, dirigierte Brahms
I. u. Bruckner
III. – Riesen erfolg beim Publikum und in den Zeitungen. Ich war nicht
dort. Leider ist man bei den komponierenden Kritikern immer im unklaren, ob ihr Lob auch nicht stinkt, d.h. ob K sie den Künstler nicht damit zum Aufführungen ihrer eigenen höchst vortrefflichen Werke ermuntern wollen. {4} Genug: es ist alles so jämmerlich, wen sodass man eben nur auf das Bessere hoffen kann. Hoffentlich geht es Ihnen gut. © Transcription John Koslovsky, 2012 |
Why is there still no peace? When one looks to the West, one hopes what one can hardly dare to hope. Might it actually be possible that in the autumn we may again think about our personal happiness, about our ideals, and about culture? The atrocities that we must live through today are only tolerable if we can dream of the future and of everything beautiful. So much has gone through my head in all of the endless, sleepless nights in the military hospital. So many plans, attempts and their implementation to think about. {2} When the war comes to an end I also intend to write the double bar line for my entire life as it has been lived up to now. I wish to become a different and better person. I want to forget everything I have produced up to now in all aspects of work, especially composition, and I want to begin once again completely from the beginning. Do you think this is still possible, even though I will soon turn twenty-nine? Ah, I cling to the possibility of being able to come to Vienna. I still feel much younger because I have had to live for so much time under the most overwhelming external conditions. Here in Berlin everything appears to me to have decayed so miserably. Not a single person who raises the demand for art and life relentlessly. Everything can be bought, and newspaper criticism is just one big nasty swamp. It's dreadful. Whenever I also speak of and represent my convictions about the sanctity of art – nothing but uncomprehending {3} persistence of the most plain banality. No one is capable of improvement anymore. One exception here: Conrad Ansorge, whom I unfortunately have not seen for a long time. It is always like the following, even with so-called good and kind people: "Certainly, art should be taken seriously, the masterworks are sacred; but one must also make concessions. People want a diversion." – Who does one call a "master"!! Marschalk writes in the Vossische Zeitung , Richard Strauss conducts casually and from above "even like a master"!! Priceless. – Recently Ferdinand Löwe
was here conducting Brahms's First Symphony and Bruckner's Third. – Huge success with the public and in the
newspapers. I wasn't there. Unfortunately one is always uncertain about composer-critics, whether their praise does not also reek, that is, whether they do not want to encourage the artist thereby to perform their own highly superb works. {4} Enough: it is so pitiful, in such a way that one can only hope for better things. I hope you are well. © Translation John Koslovsky, 2012 |
Footnotes1 Receipt of this letter appears not to be recorded in Schenker's diary (which is almost entirely preoccupied with wartime matters). |