21. VIII. 14

Brief von Fl., in dem er von seiner Einberufung mitteilt u. auch davon, daß er vielleicht 5 Kronen Tagesgage erhalten wird. Offenbar wußte er von all dem auch schon früher, nur ein gewisses Etwas, eben der letzte Rest des Anstandes, hinderte ihn, es mir gleich mitzuteilen.

*

Welche Formen der Neid annehmen kann zwischen Individuen w wie Nationen zeigt die Möglichkeit, daß, wie ich schon sagte, allein die Anwesenheit des Ueberlegenen für den Minder- {659} wertigen zur Veranlassung wird, jenen unter allen Umständen, also auch verbrecherisch aus der Welt zu schaffen. Es fällt mir hiebei das Wort von PObjedonos cze vw ein, der meinet, daß der russische Bauer mit Recht wider den russischen Juden erbittert sei, weil jener er selbst Schnaps trinke, dieser der Jude aber nicht! Eben darin liegt ja die Tragödie der Menschheit, daß sie Leute braucht die keinen Schnaps trinken, gegen das eigene Interesse aber am liebsten über die Menschen herfallen, die sie brauchen. In ihrer Wut u. Verblendung merken sie nicht, daß die Gleichmachung in der Richtung ihres eigenen Wesens nur Schaden bringen würde, den sie selbst aber nicht wollen.

*

Abendblätter melden einen entscheidenden Sieg deutscher Truppen bei Metz, eine Mitteilung von faszinierendem Inhalt. 1 In stürmischer Erregung versuche ich, auf der Straße Vorübergehenden davon Mitteilung zu machen. Zunächst wandte ich mich an Soldaten; sie waren aus ihrer Stumpfheit nicht herauszubringen, wußten aber trotz Stumpfheit eines entgegenzusetzen: „Ob 50 Prozent davon wahr sei?“ Selbstverständlich soll dieses Mißtrauen nicht den einfachen Soldaten zur Last gelegt werden; sie mußten, von einer schandvollen Presse in Oesterreich umgeben, die sich in der Jagd nach Abon[n]enten nicht genugtun kann, das Gift des Mißtrauens begreiflicherweise schon mit der Muttermilch einsaugen. Und wenn ich auch in diesem einen Falle auf den unzweifelhaften Charakter der Mitteilung, die vom deutschen Generalstab komme, hinweisen konnte, so habe ich damit nur den einen günstig liegenden Fall erledigt. Das allgemeine Mißtrauen aber zu beseitigen, müßte , erst die Pressedirne korrigiert werden; daß es aber dazu kommt, halte ich vorläufig für ausgeschlossen, so lange die natürliche Correktur ausbleibt, die eine Folge größerer allgemeiner Interessen in Oesterreich wäre.

Einige Schritte weiter zeigte ich das Blatt einem Feldwebel, demgegenüber ich auch über die Stimmung der Soldaten Klage führte, worauf er erwiderte: Leider gibt es solcher Menschen sehr viele. Doch auch der Feldwebel war nicht in die Begeisterung einzufangen u. so ging es mir mit allen Personen, denen wir auf der Straße oder im Laden begegneten. Gemeinsam war aber allen Passanten die Erwiderung, daß wir Österreicher so etwas doch nicht machen könnten. Unbildung, Kleinmut, Stumpfheit sind, trotz allen Begeisterungswogen, das letzte {660} Residuum der oesterreichischen Seele. Gerne möchten sie die Waffentaten der Deutschen nachahmen, sich aber die Anstrengung hiezu lieber ersparen. Das eErnten wäre ihnen angenehm, nur das Säen fällt ihnen beschwerlich.

*

Die Zeitungswirtschaft artet in eine skandalöse Orgie aus; da ist ein Blatt das keine Abendausgabe hat – so versucht es in Extraausgaben demjenig enem Blatt zuvorzukommen, das als Mittagsblatt seit Jahren bereits eingeführt ist. So werden Zeitungen schon um 11h ausgegeben, obwohl sie kaum nennenswertes mehr mitzuteilen haben, als die Morgenblätter. Es geht ja nur darum, nicht etwa dem [recte der] Publikum Bevölkerung zu dienen, sondern um das Geschäft des Mittagsblattes wegzunehmen. Zeitungen, die ein Mittagsblatt haben, beschleunigen das erscheinen, so daß sie zu Tisch in den Gasthäusern fälschlich als Extraausgaben herumgetragen werden. Oder: Ein Blatt erscheint um 8h, also eine Stunde später, als das den Wienern geläufige 6h bezw. 7h Blatt! Mit einem Wort: Was sich im Krieg der Staaten an Schmutz, Verbrechen, Lügenhaftigkeit zeigt, zeigt sich auch im Kleinkrieg der Presse, der, wie Lie-Liechen sagt, nebenher läuft. Die „N. Fr. Pr.“ markiert England sozusagen: Auch wenn zahllose Extraausgaben schon längst die Nachricht verbreitet haben, behauptet die „N. Fr. Pr.“ immer, die Erste gewesen zu sein, die … Dem Publikum aber ist nicht zu helfen, da es auch jetzt die Schande der Presse leider nicht merkt!

*

© Transcription Marko Deisinger.

August 21, 1914.

Letter from Floriz, in which he tells me that he has been called up for service, and also that he shall probably receive a daily allowance of 5 Kronen. Apparently he knew all about this before; only a certain something, just that last residue of decorum, prevented him from telling me immediately.

*

The forms that envy can take between individuals, and nations, is shown by the possibility that, as I have already said, merely the presence of the superior gives occasion for the inferior {659} to get rid of the former by any means, even by criminal means. In this connection I am reminded of a remark by Pobedonostev, who said that the Russian peasant has a right to feel aggrieved by the Russian Jew because he himself drinks hard liquor, whereas the Jew does not! In this very point lies the tragedy of humanity: that it needs people who do not drink hard liquor and yet, against its own interests, it would most wish to attack those whom it needs. In its fury and blindness, it does not see that equalization towards its own level can only bring harm, which however it does not itself want.

*

Evening papers report a decisive victory of German troops at Metz, a communication of fascinating content. 1 In my tumultuous excitement I attempt to inform people passing in the street about it. At first I turned towards soldiers; they were not to be brought out of their dullness although one, in spite of his dullness, was able to counter: "Is 50 percent of this true?" It goes without saying that this mistrust should not be held against these simple soldiers; surrounded by a shameful Austrian press that is never satisfied in its hunt for subscribers, they must understandably imbibe the poison of mistrust even with their mothers' milk. And if even in this one case I could point to the undisputed character of the communication, which comes from the German general staff, then I have taken care of only the one auspicious case. To eliminate general mistrust, however, the press-whore must first be corrected; that this will happen is, however, something I regard at present as impossible, so long as the natural correction is missing that would be a consequence of greater general interest in Austria.

A few steps further on, I showed the paper to a sergeant to whom I also commented about the mood of the soldiers, whereupon he replied: "Unfortunately there are many such people." Yet the sergeant too was not to be trapped into becoming enthusiastic; and thus, it went for me with all the people whom we met on the streets or in the shops. The common reply from all who passed me was that we Austrians could not do such a thing. Lack of education, faintheartedness, dullness are, in spite of all surges of enthusiasm, the final {660} residue of the Austrian soul. They would gladly replicate the military deeds of the German, but would rather spare themselves the effort. The harvest would please them, only the sowing requires a great effort on their part.

*

The newspaper industry is degenerating into a scandalous orgy. One paper, which does not publish an evening edition, is using extra editions in an attempt to get ahead of a newspaper which has been appearing as a midday paper for years. Thus newspapers are being distributed as early as 11 o'clock although they have hardly any more to report than the morning papers. This is all happening not to serve the populace but to take business away from the midday papers. Newspapers that publish a midday paper accelerate their appearance, so that they falsely appear at lunch in the restaurants as extra editions. Or a newspaper will appear at 8 o'clock, i.e. an hour later than the usual time of 6 or 7 o'clock for Viennese newspapers! In a word: what is revealed in the way of greed, crime, mendacity in a war between states is also revealed in the petty war of the press which, as Lie-Liechen says, runs alongside it. The Neue freie Presse is, so to speak, copying England: even when countless extra editions have long spread the news, the Neue freie Presse always maintains that it was the first to … . The public cannot be helped, however, as it unfortunately does not notice the press's scandalous behavior!

*

© Translation William Drabkin.

21. VIII. 14

Brief von Fl., in dem er von seiner Einberufung mitteilt u. auch davon, daß er vielleicht 5 Kronen Tagesgage erhalten wird. Offenbar wußte er von all dem auch schon früher, nur ein gewisses Etwas, eben der letzte Rest des Anstandes, hinderte ihn, es mir gleich mitzuteilen.

*

Welche Formen der Neid annehmen kann zwischen Individuen w wie Nationen zeigt die Möglichkeit, daß, wie ich schon sagte, allein die Anwesenheit des Ueberlegenen für den Minder- {659} wertigen zur Veranlassung wird, jenen unter allen Umständen, also auch verbrecherisch aus der Welt zu schaffen. Es fällt mir hiebei das Wort von PObjedonos cze vw ein, der meinet, daß der russische Bauer mit Recht wider den russischen Juden erbittert sei, weil jener er selbst Schnaps trinke, dieser der Jude aber nicht! Eben darin liegt ja die Tragödie der Menschheit, daß sie Leute braucht die keinen Schnaps trinken, gegen das eigene Interesse aber am liebsten über die Menschen herfallen, die sie brauchen. In ihrer Wut u. Verblendung merken sie nicht, daß die Gleichmachung in der Richtung ihres eigenen Wesens nur Schaden bringen würde, den sie selbst aber nicht wollen.

*

Abendblätter melden einen entscheidenden Sieg deutscher Truppen bei Metz, eine Mitteilung von faszinierendem Inhalt. 1 In stürmischer Erregung versuche ich, auf der Straße Vorübergehenden davon Mitteilung zu machen. Zunächst wandte ich mich an Soldaten; sie waren aus ihrer Stumpfheit nicht herauszubringen, wußten aber trotz Stumpfheit eines entgegenzusetzen: „Ob 50 Prozent davon wahr sei?“ Selbstverständlich soll dieses Mißtrauen nicht den einfachen Soldaten zur Last gelegt werden; sie mußten, von einer schandvollen Presse in Oesterreich umgeben, die sich in der Jagd nach Abon[n]enten nicht genugtun kann, das Gift des Mißtrauens begreiflicherweise schon mit der Muttermilch einsaugen. Und wenn ich auch in diesem einen Falle auf den unzweifelhaften Charakter der Mitteilung, die vom deutschen Generalstab komme, hinweisen konnte, so habe ich damit nur den einen günstig liegenden Fall erledigt. Das allgemeine Mißtrauen aber zu beseitigen, müßte , erst die Pressedirne korrigiert werden; daß es aber dazu kommt, halte ich vorläufig für ausgeschlossen, so lange die natürliche Correktur ausbleibt, die eine Folge größerer allgemeiner Interessen in Oesterreich wäre.

Einige Schritte weiter zeigte ich das Blatt einem Feldwebel, demgegenüber ich auch über die Stimmung der Soldaten Klage führte, worauf er erwiderte: Leider gibt es solcher Menschen sehr viele. Doch auch der Feldwebel war nicht in die Begeisterung einzufangen u. so ging es mir mit allen Personen, denen wir auf der Straße oder im Laden begegneten. Gemeinsam war aber allen Passanten die Erwiderung, daß wir Österreicher so etwas doch nicht machen könnten. Unbildung, Kleinmut, Stumpfheit sind, trotz allen Begeisterungswogen, das letzte {660} Residuum der oesterreichischen Seele. Gerne möchten sie die Waffentaten der Deutschen nachahmen, sich aber die Anstrengung hiezu lieber ersparen. Das eErnten wäre ihnen angenehm, nur das Säen fällt ihnen beschwerlich.

*

Die Zeitungswirtschaft artet in eine skandalöse Orgie aus; da ist ein Blatt das keine Abendausgabe hat – so versucht es in Extraausgaben demjenig enem Blatt zuvorzukommen, das als Mittagsblatt seit Jahren bereits eingeführt ist. So werden Zeitungen schon um 11h ausgegeben, obwohl sie kaum nennenswertes mehr mitzuteilen haben, als die Morgenblätter. Es geht ja nur darum, nicht etwa dem [recte der] Publikum Bevölkerung zu dienen, sondern um das Geschäft des Mittagsblattes wegzunehmen. Zeitungen, die ein Mittagsblatt haben, beschleunigen das erscheinen, so daß sie zu Tisch in den Gasthäusern fälschlich als Extraausgaben herumgetragen werden. Oder: Ein Blatt erscheint um 8h, also eine Stunde später, als das den Wienern geläufige 6h bezw. 7h Blatt! Mit einem Wort: Was sich im Krieg der Staaten an Schmutz, Verbrechen, Lügenhaftigkeit zeigt, zeigt sich auch im Kleinkrieg der Presse, der, wie Lie-Liechen sagt, nebenher läuft. Die „N. Fr. Pr.“ markiert England sozusagen: Auch wenn zahllose Extraausgaben schon längst die Nachricht verbreitet haben, behauptet die „N. Fr. Pr.“ immer, die Erste gewesen zu sein, die … Dem Publikum aber ist nicht zu helfen, da es auch jetzt die Schande der Presse leider nicht merkt!

*

© Transcription Marko Deisinger.

August 21, 1914.

Letter from Floriz, in which he tells me that he has been called up for service, and also that he shall probably receive a daily allowance of 5 Kronen. Apparently he knew all about this before; only a certain something, just that last residue of decorum, prevented him from telling me immediately.

*

The forms that envy can take between individuals, and nations, is shown by the possibility that, as I have already said, merely the presence of the superior gives occasion for the inferior {659} to get rid of the former by any means, even by criminal means. In this connection I am reminded of a remark by Pobedonostev, who said that the Russian peasant has a right to feel aggrieved by the Russian Jew because he himself drinks hard liquor, whereas the Jew does not! In this very point lies the tragedy of humanity: that it needs people who do not drink hard liquor and yet, against its own interests, it would most wish to attack those whom it needs. In its fury and blindness, it does not see that equalization towards its own level can only bring harm, which however it does not itself want.

*

Evening papers report a decisive victory of German troops at Metz, a communication of fascinating content. 1 In my tumultuous excitement I attempt to inform people passing in the street about it. At first I turned towards soldiers; they were not to be brought out of their dullness although one, in spite of his dullness, was able to counter: "Is 50 percent of this true?" It goes without saying that this mistrust should not be held against these simple soldiers; surrounded by a shameful Austrian press that is never satisfied in its hunt for subscribers, they must understandably imbibe the poison of mistrust even with their mothers' milk. And if even in this one case I could point to the undisputed character of the communication, which comes from the German general staff, then I have taken care of only the one auspicious case. To eliminate general mistrust, however, the press-whore must first be corrected; that this will happen is, however, something I regard at present as impossible, so long as the natural correction is missing that would be a consequence of greater general interest in Austria.

A few steps further on, I showed the paper to a sergeant to whom I also commented about the mood of the soldiers, whereupon he replied: "Unfortunately there are many such people." Yet the sergeant too was not to be trapped into becoming enthusiastic; and thus, it went for me with all the people whom we met on the streets or in the shops. The common reply from all who passed me was that we Austrians could not do such a thing. Lack of education, faintheartedness, dullness are, in spite of all surges of enthusiasm, the final {660} residue of the Austrian soul. They would gladly replicate the military deeds of the German, but would rather spare themselves the effort. The harvest would please them, only the sowing requires a great effort on their part.

*

The newspaper industry is degenerating into a scandalous orgy. One paper, which does not publish an evening edition, is using extra editions in an attempt to get ahead of a newspaper which has been appearing as a midday paper for years. Thus newspapers are being distributed as early as 11 o'clock although they have hardly any more to report than the morning papers. This is all happening not to serve the populace but to take business away from the midday papers. Newspapers that publish a midday paper accelerate their appearance, so that they falsely appear at lunch in the restaurants as extra editions. Or a newspaper will appear at 8 o'clock, i.e. an hour later than the usual time of 6 or 7 o'clock for Viennese newspapers! In a word: what is revealed in the way of greed, crime, mendacity in a war between states is also revealed in the petty war of the press which, as Lie-Liechen says, runs alongside it. The Neue freie Presse is, so to speak, copying England: even when countless extra editions have long spread the news, the Neue freie Presse always maintains that it was the first to … . The public cannot be helped, however, as it unfortunately does not notice the press's scandalous behavior!

*

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Kolossaler Sieg der deutschen Armee über die Franzosen. Viele tausende Gefangene. Zahlreiche Geschütze erbeutet. Die Franzosen zwischen Metz und den Vogesen geschlagen," Neues Wiener Journal, special edition to No. 7478, 22nd year, August 21, 1914, evening, p. 1.