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20. X. 1914

An Breisach Zustimmung.

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Abends begeben wir uns beide, von der Arbeit übermüdet, früh zu Bett. Schon im Bette liegend höre ich den Sirenenruf, Ax „Extraausgabe“; ich springe auf, kleide mich an u. hole mir aus dem Caféhaus eine Nummer der „N. Fr. Pr.“, die Erfolge in Galizien u. Bukowina meldet, darunter auch die Befreiung von Striy u. Sereth. 1 Somit wäre die letzgenannte [sic] Stadt aus der Urne des Schicksals als erste glücklich hervorgegangen. – Mit diesem Blatte laufe ich nun zu Lie-Liechen, die ich im Bette vermute. Aber auch sie tat dasselbe, was ich getan, sprang aus dem Bett, zog blos den Schlafrock an u. holte sich von der Straße die Extraausgabe! So konnte ich nun also, über ihr Mitwissen beruhigt, wieder rasch nachhause gehen. In der Reisnerstraße stieß ich noch auf einen Wachmann, der nach dem Inhalt der Extraausgabe Neugier zeigte; ich geriet mit ihm in ein Gespräch, das ihn mir als einen gegen sein Vaterland tief erbitterten Menschen enthüllte, der insbesondere nicht genug darüber staunen konnte, daß noch keine Kriegssteuer erhoben wird!

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Die Eitelkeit verbietet es den Menschen anzunehmen, daß sie selbst daran Schuld tragen, wenn die Liebe zu ihnen, die sie bis dahin von einer Frau genossen haben, schwindet. Dafür solchen Fall prägen sie gerne die unpersönliche Wendung, die seit Menschengedenken als Lüge der Eitelkeit geläufig ist: „Die Liebe schwindet.“ In Wahrheit aber ist es nicht die Liebe, die vergeht; nur der Mensch allein ist es, der vor den Augen der Liebe vergeht!

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© Transcription Marko Deisinger.

October 20, 1914.

To Breisach: agreement.

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In the evening the two of us, exhausted from our work, go to bed early. Even lying in bed, I hear the wail of a siren, "extra edition." I jump up, get dressed, and collect an issue of the Neue freie Presse from the coffee house, which reports the successes in Galicia and Bukovina, including also the liberation of Stryi and Sereth. 1 Thus the last-named town is the first to emerge happily from the urn of fate. – With this paper, I now run to Lie-Liechen, who I assume is in bed. But she, too, did the same as I did, merely putting on her dressing gown and collecting the extra edition from the street! So now I, assured that she knows about it, can go home quickly. In the Reisnerstraße I still came upon a watchman who showed curiosity about the content of the extra edition. I got into a conversation with him, which revealed him to me to be a man deeply embittered about his fatherland, someone who in particular could not be astonished enough by the fact that no war tax had yet been raised!

*

Vanity prevents people from accepting that they themselves are to blame if a woman's love that they had previously enjoyed disappears. In such cases they like to use the impersonal expression, which has commonly served as the lie of vanity from time immemorial: "Love disappears." In truth, however, it is not the love that disappears; it only the person who disappears before the eyes of love!

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© Translation William Drabkin.

20. X. 1914

An Breisach Zustimmung.

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Abends begeben wir uns beide, von der Arbeit übermüdet, früh zu Bett. Schon im Bette liegend höre ich den Sirenenruf, Ax „Extraausgabe“; ich springe auf, kleide mich an u. hole mir aus dem Caféhaus eine Nummer der „N. Fr. Pr.“, die Erfolge in Galizien u. Bukowina meldet, darunter auch die Befreiung von Striy u. Sereth. 1 Somit wäre die letzgenannte [sic] Stadt aus der Urne des Schicksals als erste glücklich hervorgegangen. – Mit diesem Blatte laufe ich nun zu Lie-Liechen, die ich im Bette vermute. Aber auch sie tat dasselbe, was ich getan, sprang aus dem Bett, zog blos den Schlafrock an u. holte sich von der Straße die Extraausgabe! So konnte ich nun also, über ihr Mitwissen beruhigt, wieder rasch nachhause gehen. In der Reisnerstraße stieß ich noch auf einen Wachmann, der nach dem Inhalt der Extraausgabe Neugier zeigte; ich geriet mit ihm in ein Gespräch, das ihn mir als einen gegen sein Vaterland tief erbitterten Menschen enthüllte, der insbesondere nicht genug darüber staunen konnte, daß noch keine Kriegssteuer erhoben wird!

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Die Eitelkeit verbietet es den Menschen anzunehmen, daß sie selbst daran Schuld tragen, wenn die Liebe zu ihnen, die sie bis dahin von einer Frau genossen haben, schwindet. Dafür solchen Fall prägen sie gerne die unpersönliche Wendung, die seit Menschengedenken als Lüge der Eitelkeit geläufig ist: „Die Liebe schwindet.“ In Wahrheit aber ist es nicht die Liebe, die vergeht; nur der Mensch allein ist es, der vor den Augen der Liebe vergeht!

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© Transcription Marko Deisinger.

October 20, 1914.

To Breisach: agreement.

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In the evening the two of us, exhausted from our work, go to bed early. Even lying in bed, I hear the wail of a siren, "extra edition." I jump up, get dressed, and collect an issue of the Neue freie Presse from the coffee house, which reports the successes in Galicia and Bukovina, including also the liberation of Stryi and Sereth. 1 Thus the last-named town is the first to emerge happily from the urn of fate. – With this paper, I now run to Lie-Liechen, who I assume is in bed. But she, too, did the same as I did, merely putting on her dressing gown and collecting the extra edition from the street! So now I, assured that she knows about it, can go home quickly. In the Reisnerstraße I still came upon a watchman who showed curiosity about the content of the extra edition. I got into a conversation with him, which revealed him to me to be a man deeply embittered about his fatherland, someone who in particular could not be astonished enough by the fact that no war tax had yet been raised!

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Vanity prevents people from accepting that they themselves are to blame if a woman's love that they had previously enjoyed disappears. In such cases they like to use the impersonal expression, which has commonly served as the lie of vanity from time immemorial: "Love disappears." In truth, however, it is not the love that disappears; it only the person who disappears before the eyes of love!

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Günstiger Fortgang der Schlacht in Mittelgalizien. Die Städte Stryi (Galizien), Sereth (Bukowina) und Körösmezö (Karpathen) in unserem Besitz," Neue Freie Presse, No. 18016, October 20, 1914, special edition, p. 1.