25. VI. 16 13°, regnerisch;
später bessert sich das Wetter. — — Von Fr. Deutsch K. mit Zusage für Montag (statt Freitag!). — — Programmentwurf der nachfolgenden Tage auf Basis einer eventuellen Abreise nach Schladming. — — Nachmittag zu Bednař, richtiger Dodi, wo wir etwa 1½ Stunden verbleiben. Gerade da wir eintreten empfiehlt sich die Mutter des Verwundeten, um mit dem Hauptmann, ihrem zweiten nichtoffiziellen Gatten, sich zum Rennen zu begeben. Sonderbare Verhältnisse! — *— Abends bei schönstem Wetter im Maria-Josepha-Park gesessen u. gelesen. — Zuhause angekommen treffe ich von Frau Gutherz einen Brief mit Weisses Bildchen u. der Mitteilung [an], daß er an Typhus erkrankt sei u. derzeit im Spital zu Brzesany – welche Verkettung von Zufällen – liegt. — *„Heilige Nüchternheit“ betitelt sich ein Feuilleton von Ulrich Rauscher in der „Frankf. Ztg.“ vom 11. VI. 16. 1 Gut gemeint, aber doch im Kern vergriffen; deutsche Sachlichkeit muß als Poesie u. nicht als Nüchternheit gewertet werden. So wie die Menschen schon an sich selbst Wunder sind, so sind es ja nicht minder auch die Sachen der Welt. Ganz in den Sachen aufzugehen bedeutet also unter allen Umständen so viel, wieals im Dienst von der Wundern zu stehen, womit aber zugleich der Charakter tiefster Poesie gegeben aufgeprägt ist. Nur die Eitelkeit allein bedeutet einen vollen Gegensatz hiezu, indem sofern sie sich dem Dienst der Wunder in den Dingen en ztzieht, leider auch dem Dienst des Wunders im Menschen selbst, (worüber die Eitelkeit sicher am wenigsten unterrichtet ist). Die einzige Nüchternheit in der Welt ist somit lediglich die Eitelkeit; sie allein bleibt allen Wundern im Menschen u. in den Dingen alles schuldig u. stellt in den Vordergrund Kleinlichkeiten in Form von kleinlichen persönlichen Bedürfnissen, die das Wunder des Menschen kompromittieren u. zerstören. — *{305} Ueber Verallgemeinerung: Zur Zeit erheben gerne Durchschnittsmenschen Vorwürfe gegenüber höherstehenden Denkern u. Dichtern nach der Richtung hin, daß die letzteren angeblich mit Unrecht von gewissen unerfreulichen Elementen unserer Gegner verallgemeinernde Schlüsse über den Gegner überhaupt ziehen. Die Durchschnittsmenschen gefallen sich darin, nur sich allein als streng logisch, objektiv u. gerecht vorzukommen, während sie Unlogik, unbillige Leidenschaftlichkeit als Ursache von Fehlschlüssen bei den Andersdenkenden annehmen. Die Sache liegt indessen umgekehrt u. zwar wie folgt: Schon im Begriffe der Verallgemeinerung liegt der Schluß , aus einem Individuum auf ein Allgemeines u. Typisches, von einem Einzelnen auf ein Ganzes. Wer das Wesen des dichterischen, künstlerischen u. philosophischen Denkens begreift[,] weiß auch, daß solche Schlüsse zum Hauptgeschäft der Künstler u. Denker gehören. Sie allein, als wirklich schaffende Menschen obliegen ständig der Aufgabe, aus einer von Haus aus empfundenen Naturidee, einem Urtypus Individuen zu gestalten oder umgekehrt Individuen zum Typus zu erhöhen. Ihnen allein sind jene Kennzeichen geläufig, die das Individuum mit dem Typus verbinden u. daher bei jedem unerlässlich sind, wenn sie es zugleich das letztere vorstellen soll. Sie allein begreifen, wie sich der Typus im Individuum prolongiert u. umgekehrt. Ja als die einzige u. wertvollste Gabe der Künstler u. Denker muß die Befähigung zu solchen Prolongationen bezeichnet werden. Und so, schon von Natur aus, hernach auch durch ständige Uebung mit dem Geschäft der Prolongation vertraut, bleiben sie völlig innerhalb ihrer Aufgabe, wenn sie gelegentlich auch auf Reisen Schlüsse aus Beobachtungen an Einzelnen auf ein ganzes Volk, eine ganze Nation oder Rasse ziehen. Reisend zogen sie ihre Schlüsse Heine, Fontane, Goethe über Engländer u. Franzosen, Grillparzer ube u. Hebbel über Italiener u. Franzosen usw. Wohlgemerkt hängt es gerade damit, daß diese Dichter auch nur solche Schlüsse ziehend doch nur wieder innerhalb ihrer dichterischen Aufgabe blieben[,] zusammen, {306} daß sie bei ihren Schlüssen frei von jeder persönlichen Eitelkeit, unerschrocken in Wahrhaftigkeit verfuhren. Erhaben über soziale Stände u. Schichten holten sie die innere Wahrheit der Schlüsse aus unvoreingenommenen aus den Dingen selbst geholten Prämissen. Nicht englische Lords, nicht französische Marquisen, nicht römische Landschaft oder dergleichen hätten es je vermocht, in die dichterische Werksta dtt der Schlüsse einzugreifen u. die Dichter zu Fälschungen zu verführen. – In jeder Hinsicht anders liegt es aber bei den Durchschnittsmenschen; ihnen ist es nicht gegeben, den Weg vom Einzelfall zum Typus täglich u. stündlich zu begehen. Alle Welt löst sich ihnen in so viel Einzelfälle auf, als sie mit ihren Augen wahrnehmen. Eine Welt von Einzelfällen steht vor ihnen, aber niemals ein Typus vor ihrem geistigen Auge. So, ohne jede Befähigung zu Prolongationen, erliegen sie der Einzelerscheinung, auf die sie am empfindlichsten mit ihrer Eitelkeit reagieren. Wer ihre Eitelkeit am besten befriedigt, hat auch ihre Sympathie, gleichviel wie er in der Reihe der Einzelerscheinungen u. im Verhältnis zum Typus steht. Auf einer Reise befindlich genügt es dem Durchschnittsmenschen von einem pfiffigen Hotelier sehr ergeben aufgenommen oder von einem sozial höherstehenden Engländer oder Italiener liebenswürdig oder herablassend empfangen worden zu sein, u. schon genügt diese Befriedigung der Eitelkeit, um dem Durchschnittsmenschen den Schluss auf nur beste Eigenschaften des Franzosen, Engländers oder Italieners [illeg]nahezulegen. Und so geschieht es denn auch im weiteren Verlaufe, daß der Durchschnittsmensch, für seine Eitelkeit kämpfend, sich so kurzsichtig gezogene Schlüsse von keinem Goethe, Schiller, Lessing rauben läßt. Wieder ist es nur die Eitelkeit, die ihm eine Art Gegnerschaft wider die anders denkenden Künstler u. Gelehrten einbildet: Er sieht sich als Gegner in einer Rolle, die ihn von sich selbst einnimmt, u. so beharrt er denn erst recht darauf, daß man seine Verallgemeinerung, nur seine eigene gelten läßt, dagegen die der Künstler zurückweise. Nur seine eige- {307} nen Schlüsse hält er für logisch, die der anderen aber für unerlaubt verallgemeinernd. Solcher falschen Schlüsse machen sich augenblicklich die wortführenden Zeitungen schuldig u. ihnen nach Kreti u. Pleti. 2 Und daher stammt die unglaubliche Verwirrung, bei der es sonderbarerweise so zugeht, daß sich diejenigen, die mit Recht u. aus natürlicher Veranlagung heraus verallgemeinern, der Vorwürfe erwehren müssen seitens derjenigen, denen es hiezu an jeglicher Befähigung u. Uebung fehlt! — *Harden tritt für Zensurfreiheit ein u. zitiert zum Beweis Bismarcks Praxis. 3 Schon dies allein genügt, um H. Befähigung zur Politik abzusprechen, sofern unter Politik , die Kunst – ich sage ausdrücklich Kunst! – verstanden werden muß, eine jede neue Situation aus ihrem eigenen Kern heraus zu lösen. Daß aber die Dinge heute, zumal während des Krieges ganz anders als zu Bismarcks Zeiten liegen, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. — *Kaufmann: Geht vom Axiom aus, eine möglichst hohe Summe müsse ihm per Jahr gesichert sein, eine Summe, die Beamtenbezüge weit überflügelt. Den Anspruch auf so hohen Erwerb motiviert er laut wie heimlich damit, daß er den anderen es nicht schuldet, sich mit wenig zu begnügen, als wäre ein solches Motiv nicht auch Ursache dafür, daß die Beamten auf ähnlich hohe Bezüge reflektierten. Von diesem Standpunkt aus fordert er, schon damit es sich Auslagen erspare, alle geistigen Erzeugnisse [illeg]womöglich als geistiges unentgeltliches Eigentum ein. Von Recht auf Unentgeltlichkeit ist er so durchdrungen, daß es vergebens wäre, ihm zu erklären, wie jegliche Ware weit eher Ware der Natur sei als geistige Arbeit, die nur eine künstlich prolongierte Erscheinung darstellt; daß mit Rücksicht darauf , daß die geistigen Erzeugnisse höher gezahlt werden müßten als die Waren, die unmittelbar von der Natur {308} selbst bezogen werden. Sinfonien wachsen ja nicht wie Getreide – u. dennoch begreift es der Kaufmann nicht, weshalb ein Beethoven teurer entlohnt werden müßte für seine Mühewaltung im Reiche der Fantasie, als der Mühlenhändler, der Bäcker, der Landwirt usw. Daß z. B. ein Beethoven sich ebenfalls wie ein Kaufmann auf den Grund berufen würde, niemand gegenüber zu einer unentgeltlichen Leistung verpflichtet zu sein, kann der Kaufmann aus Borniertheit u. Egoismus nicht begreifen u. nur von sich selbst wehrt er ab, anderen nach deren Belieben zur Verfügung stehen zu müssen. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 25, 1916. 13°, rainy;
later the weather improves. — — Postcard from Mrs. Deutsch with confirmation for Monday (instead of Friday!). — — Draft schedule for the coming days, on the basis of a possible trip to Schladming. — — In the afternoon to the Bednařs, or rather to Dodi, where we stay for about an hour and a half. At the moment we arrive, the mother of the wounded man takes her leave in order to go to the races with the captain, her unofficial second husband. Strange circumstances! — *— In the evening, in the most beautiful weather, in the Maria-Josepha-Park to eat and to read. — Returning home, I find a letter from Mrs. Gutherz with Weisse's picture and the news that he has fallen ill with typhoid fever and is at present in the hospital – what a chain of coincidences – at Brzesany. — *"Sacred Sobriety" is the title of a feuilleton by Ulrich Rauscher in the Frankfurter Zeitung of June 11, 1916. 1 Well intended, but essentially mistaken: German objectivity must be understood as poetry and not as sobriety. Just as people are in themselves miracles, no less is this true of the objects of the world. To be fully engaged with things means, then, in all cases to stand in the service of miracles; but the character of the most profound poetry is likewise imprinted. Only vanity signifies a complete opposite, insofar as it avoids the service of miracles in things, also the service of the miracle in people themselves (about whom their vanity is surely least of all schooled). The only sobriety in the world, then, is simply vanity: it alone remains indebted to all miracles in people and in things, and it prioritizes trivialities in the form of petty personal needs, which comprise and destroy the human miracle. — *{305} On generalization: at present, ordinary people like to raise objections to thinkers and poets of a higher standing on the grounds that the latter – apparently without justification – make generalizations about our opponents on the basis of certain unpleasant characteristics of theirs. The ordinary people take pleasure in imagining that only they themselves are strictly logical, objective, and fair, and that they assume that illogicality and undue fervor are the cause of false conclusion among those who think differently from them. The matter is the other way round, and indeed as follows: in the very concept of generalization lies the inference from the individual to the general and typical, from the single to an entirety. Anyone who understands the essence of poetic, artistic and philosophical thinking will also know that such inferences are part of the main occupation of artists and thinkers. They alone, as truly creative persons, are always applying themselves to the task of fashioning individuals from that which is inherently felt as a natural idea, an original character, or conversely to raise an individual to a character type. They alone are familiar with those characteristics that connect an individual with a character, and thus indispensable when a character type is to be represented. They alone understand how the character type is prolonged in the individual, and vice versa. Indeed, the single most valuable gift of artists and thinkers must be taken to be the capacity for such prolongations. And thus, already entrusted at first by Nature and afterwards also through constant practice with the business of prolongation, they remain entirely within their task if they occasionally transfer, even when on their travels, observations about individuals to an entire people, to an entire nation or race. Heine, Fontane, and Goethe drew their conclusions about the English and French when they were travelling, likewise Grillparzer and Hebbel about the Italians and French, and so on. Note, however, that this is verily connected to the fact that these poets, when drawing their conclusions, remained within the confines of their poetic work, {306} and that in drawing these conclusions they proceeded in truthfulness unflinchingly, free of all personal vanity. Being above every class and strand of society, they collected the inner truth of their inferences from unbiassed premises that were derived from the things themselves. No English lord, no French marquis, no Roman landscape or suchlike would have ever been able to infiltrate the poetic workshop of inferences and beguile the poets into making falsifications. – With ordinary people, however, things are different in every respect; they are not contracted to travel the path daily, hourly, from the individual to the character type. For them the whole world dissolves into so many individual cases as they can perceive with their eyes. A world of individual cases stands before them, but never a character type before their intellectual eye. Thus, without any capacity for prolongations, they fall victim to the individual manifestation, to which they react most sensitively with their vanity. Whoever best panders to their vanity also has their sympathy, regardless of where he stands in regard to individual manifestations and in relation to a character type. If he is travelling, it is enough for an ordinary person to be welcomed with devotion by a shrewd innkeeper or received by a higher-standing Englishman or Italian with kindness or with condescension; and already this gratification of his vanity is already sufficient for the ordinary person to infer only the best qualities of the Frenchman, the Englishman, or the Italian. And so it then happens in the further course of events that the ordinary person, fighting for his vanity, will not allow any Goethe, Schiller, or Lessing to rob him of the inferences he has drawn with such shortsightedness. Again, it is only his vanity that gives him the illusion of a kind of opposition to artists and intellectuals who think differently: as opponent, he sees himself in a role that elevates his own importance, and so he insists more than ever on having his generalization, and only his, being the valid one, and conversely on repudiating those of the artists. {307} Only his own inferences does he regard as logical; those of others he takes as illicit generalization. Of such false inferences, the leading newspapers are currently guilty and, following them, every other Tom, Dick, and Harry. 2 And from this arises the unbelievable confusion, according to which it happens strangely enough, that those who generalize rightly and from natural disposition, must ward off the objections on the part of those who in this respect are lacking in all capability and practice! — *Harden espouses freedom of censorship and quotes as evidence Bismarck's practice. 3 This is in itself sufficient to disqualify him from politics inasmuch as, in politics, art – I emphasize, art! – must be understood as the resolution of every new situation from its own nucleus. That matters today – all the more so during the war – are, however, completely different from what they were in Bismarck's time is something that need not be elaborated. — *The businessman: he proceeds from the axiom that the highest possible sum must be secured for him each year: a sum that far exceeds what public officials earn. He justifies his claim to such a high income, aloud and in secret, on the grounds that he does not owe it to the others to be satisfied with little – as if such an argument were not also a reason for the officials to consider similarly high payments for themselves. From this standpoint he claims, just to save on expenses, that all intellectual creations, insofar as they are intellectual goods, are gratuitous property. He is so consumed by a right to non-remuneration that it would be futile to explain that every product is far more a product of Nature than an intellectual piece of work, which represents only an artificially prolonged manifestation and that, in view of this, the intellectual creations must count for more than the products that are themselves directly sourced from Nature. {308}. Indeed, symphonies do not grow like grain – and yet the businessman does not understand why a Beethoven should be remunerated more generously for his efforts in the realm of imagination than grain merchant, the baker, the farmer, and so on. That for example a Beethoven, no less than a businessman, would appeal to the principle of being obliged to no one for an unpaid achievement, is something that a narrow-minded, egoistic businessman cannot understand; and so it is only for his own sake that he fights off having to be at the service of others on their terms. — *
© Translation William Drabkin. |
25. VI. 16 13°, regnerisch;
später bessert sich das Wetter. — — Von Fr. Deutsch K. mit Zusage für Montag (statt Freitag!). — — Programmentwurf der nachfolgenden Tage auf Basis einer eventuellen Abreise nach Schladming. — — Nachmittag zu Bednař, richtiger Dodi, wo wir etwa 1½ Stunden verbleiben. Gerade da wir eintreten empfiehlt sich die Mutter des Verwundeten, um mit dem Hauptmann, ihrem zweiten nichtoffiziellen Gatten, sich zum Rennen zu begeben. Sonderbare Verhältnisse! — *— Abends bei schönstem Wetter im Maria-Josepha-Park gesessen u. gelesen. — Zuhause angekommen treffe ich von Frau Gutherz einen Brief mit Weisses Bildchen u. der Mitteilung [an], daß er an Typhus erkrankt sei u. derzeit im Spital zu Brzesany – welche Verkettung von Zufällen – liegt. — *„Heilige Nüchternheit“ betitelt sich ein Feuilleton von Ulrich Rauscher in der „Frankf. Ztg.“ vom 11. VI. 16. 1 Gut gemeint, aber doch im Kern vergriffen; deutsche Sachlichkeit muß als Poesie u. nicht als Nüchternheit gewertet werden. So wie die Menschen schon an sich selbst Wunder sind, so sind es ja nicht minder auch die Sachen der Welt. Ganz in den Sachen aufzugehen bedeutet also unter allen Umständen so viel, wieals im Dienst von der Wundern zu stehen, womit aber zugleich der Charakter tiefster Poesie gegeben aufgeprägt ist. Nur die Eitelkeit allein bedeutet einen vollen Gegensatz hiezu, indem sofern sie sich dem Dienst der Wunder in den Dingen en ztzieht, leider auch dem Dienst des Wunders im Menschen selbst, (worüber die Eitelkeit sicher am wenigsten unterrichtet ist). Die einzige Nüchternheit in der Welt ist somit lediglich die Eitelkeit; sie allein bleibt allen Wundern im Menschen u. in den Dingen alles schuldig u. stellt in den Vordergrund Kleinlichkeiten in Form von kleinlichen persönlichen Bedürfnissen, die das Wunder des Menschen kompromittieren u. zerstören. — *{305} Ueber Verallgemeinerung: Zur Zeit erheben gerne Durchschnittsmenschen Vorwürfe gegenüber höherstehenden Denkern u. Dichtern nach der Richtung hin, daß die letzteren angeblich mit Unrecht von gewissen unerfreulichen Elementen unserer Gegner verallgemeinernde Schlüsse über den Gegner überhaupt ziehen. Die Durchschnittsmenschen gefallen sich darin, nur sich allein als streng logisch, objektiv u. gerecht vorzukommen, während sie Unlogik, unbillige Leidenschaftlichkeit als Ursache von Fehlschlüssen bei den Andersdenkenden annehmen. Die Sache liegt indessen umgekehrt u. zwar wie folgt: Schon im Begriffe der Verallgemeinerung liegt der Schluß , aus einem Individuum auf ein Allgemeines u. Typisches, von einem Einzelnen auf ein Ganzes. Wer das Wesen des dichterischen, künstlerischen u. philosophischen Denkens begreift[,] weiß auch, daß solche Schlüsse zum Hauptgeschäft der Künstler u. Denker gehören. Sie allein, als wirklich schaffende Menschen obliegen ständig der Aufgabe, aus einer von Haus aus empfundenen Naturidee, einem Urtypus Individuen zu gestalten oder umgekehrt Individuen zum Typus zu erhöhen. Ihnen allein sind jene Kennzeichen geläufig, die das Individuum mit dem Typus verbinden u. daher bei jedem unerlässlich sind, wenn sie es zugleich das letztere vorstellen soll. Sie allein begreifen, wie sich der Typus im Individuum prolongiert u. umgekehrt. Ja als die einzige u. wertvollste Gabe der Künstler u. Denker muß die Befähigung zu solchen Prolongationen bezeichnet werden. Und so, schon von Natur aus, hernach auch durch ständige Uebung mit dem Geschäft der Prolongation vertraut, bleiben sie völlig innerhalb ihrer Aufgabe, wenn sie gelegentlich auch auf Reisen Schlüsse aus Beobachtungen an Einzelnen auf ein ganzes Volk, eine ganze Nation oder Rasse ziehen. Reisend zogen sie ihre Schlüsse Heine, Fontane, Goethe über Engländer u. Franzosen, Grillparzer ube u. Hebbel über Italiener u. Franzosen usw. Wohlgemerkt hängt es gerade damit, daß diese Dichter auch nur solche Schlüsse ziehend doch nur wieder innerhalb ihrer dichterischen Aufgabe blieben[,] zusammen, {306} daß sie bei ihren Schlüssen frei von jeder persönlichen Eitelkeit, unerschrocken in Wahrhaftigkeit verfuhren. Erhaben über soziale Stände u. Schichten holten sie die innere Wahrheit der Schlüsse aus unvoreingenommenen aus den Dingen selbst geholten Prämissen. Nicht englische Lords, nicht französische Marquisen, nicht römische Landschaft oder dergleichen hätten es je vermocht, in die dichterische Werksta dtt der Schlüsse einzugreifen u. die Dichter zu Fälschungen zu verführen. – In jeder Hinsicht anders liegt es aber bei den Durchschnittsmenschen; ihnen ist es nicht gegeben, den Weg vom Einzelfall zum Typus täglich u. stündlich zu begehen. Alle Welt löst sich ihnen in so viel Einzelfälle auf, als sie mit ihren Augen wahrnehmen. Eine Welt von Einzelfällen steht vor ihnen, aber niemals ein Typus vor ihrem geistigen Auge. So, ohne jede Befähigung zu Prolongationen, erliegen sie der Einzelerscheinung, auf die sie am empfindlichsten mit ihrer Eitelkeit reagieren. Wer ihre Eitelkeit am besten befriedigt, hat auch ihre Sympathie, gleichviel wie er in der Reihe der Einzelerscheinungen u. im Verhältnis zum Typus steht. Auf einer Reise befindlich genügt es dem Durchschnittsmenschen von einem pfiffigen Hotelier sehr ergeben aufgenommen oder von einem sozial höherstehenden Engländer oder Italiener liebenswürdig oder herablassend empfangen worden zu sein, u. schon genügt diese Befriedigung der Eitelkeit, um dem Durchschnittsmenschen den Schluss auf nur beste Eigenschaften des Franzosen, Engländers oder Italieners [illeg]nahezulegen. Und so geschieht es denn auch im weiteren Verlaufe, daß der Durchschnittsmensch, für seine Eitelkeit kämpfend, sich so kurzsichtig gezogene Schlüsse von keinem Goethe, Schiller, Lessing rauben läßt. Wieder ist es nur die Eitelkeit, die ihm eine Art Gegnerschaft wider die anders denkenden Künstler u. Gelehrten einbildet: Er sieht sich als Gegner in einer Rolle, die ihn von sich selbst einnimmt, u. so beharrt er denn erst recht darauf, daß man seine Verallgemeinerung, nur seine eigene gelten läßt, dagegen die der Künstler zurückweise. Nur seine eige- {307} nen Schlüsse hält er für logisch, die der anderen aber für unerlaubt verallgemeinernd. Solcher falschen Schlüsse machen sich augenblicklich die wortführenden Zeitungen schuldig u. ihnen nach Kreti u. Pleti. 2 Und daher stammt die unglaubliche Verwirrung, bei der es sonderbarerweise so zugeht, daß sich diejenigen, die mit Recht u. aus natürlicher Veranlagung heraus verallgemeinern, der Vorwürfe erwehren müssen seitens derjenigen, denen es hiezu an jeglicher Befähigung u. Uebung fehlt! — *Harden tritt für Zensurfreiheit ein u. zitiert zum Beweis Bismarcks Praxis. 3 Schon dies allein genügt, um H. Befähigung zur Politik abzusprechen, sofern unter Politik , die Kunst – ich sage ausdrücklich Kunst! – verstanden werden muß, eine jede neue Situation aus ihrem eigenen Kern heraus zu lösen. Daß aber die Dinge heute, zumal während des Krieges ganz anders als zu Bismarcks Zeiten liegen, braucht nicht auseinandergesetzt zu werden. — *Kaufmann: Geht vom Axiom aus, eine möglichst hohe Summe müsse ihm per Jahr gesichert sein, eine Summe, die Beamtenbezüge weit überflügelt. Den Anspruch auf so hohen Erwerb motiviert er laut wie heimlich damit, daß er den anderen es nicht schuldet, sich mit wenig zu begnügen, als wäre ein solches Motiv nicht auch Ursache dafür, daß die Beamten auf ähnlich hohe Bezüge reflektierten. Von diesem Standpunkt aus fordert er, schon damit es sich Auslagen erspare, alle geistigen Erzeugnisse [illeg]womöglich als geistiges unentgeltliches Eigentum ein. Von Recht auf Unentgeltlichkeit ist er so durchdrungen, daß es vergebens wäre, ihm zu erklären, wie jegliche Ware weit eher Ware der Natur sei als geistige Arbeit, die nur eine künstlich prolongierte Erscheinung darstellt; daß mit Rücksicht darauf , daß die geistigen Erzeugnisse höher gezahlt werden müßten als die Waren, die unmittelbar von der Natur {308} selbst bezogen werden. Sinfonien wachsen ja nicht wie Getreide – u. dennoch begreift es der Kaufmann nicht, weshalb ein Beethoven teurer entlohnt werden müßte für seine Mühewaltung im Reiche der Fantasie, als der Mühlenhändler, der Bäcker, der Landwirt usw. Daß z. B. ein Beethoven sich ebenfalls wie ein Kaufmann auf den Grund berufen würde, niemand gegenüber zu einer unentgeltlichen Leistung verpflichtet zu sein, kann der Kaufmann aus Borniertheit u. Egoismus nicht begreifen u. nur von sich selbst wehrt er ab, anderen nach deren Belieben zur Verfügung stehen zu müssen. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 25, 1916. 13°, rainy;
later the weather improves. — — Postcard from Mrs. Deutsch with confirmation for Monday (instead of Friday!). — — Draft schedule for the coming days, on the basis of a possible trip to Schladming. — — In the afternoon to the Bednařs, or rather to Dodi, where we stay for about an hour and a half. At the moment we arrive, the mother of the wounded man takes her leave in order to go to the races with the captain, her unofficial second husband. Strange circumstances! — *— In the evening, in the most beautiful weather, in the Maria-Josepha-Park to eat and to read. — Returning home, I find a letter from Mrs. Gutherz with Weisse's picture and the news that he has fallen ill with typhoid fever and is at present in the hospital – what a chain of coincidences – at Brzesany. — *"Sacred Sobriety" is the title of a feuilleton by Ulrich Rauscher in the Frankfurter Zeitung of June 11, 1916. 1 Well intended, but essentially mistaken: German objectivity must be understood as poetry and not as sobriety. Just as people are in themselves miracles, no less is this true of the objects of the world. To be fully engaged with things means, then, in all cases to stand in the service of miracles; but the character of the most profound poetry is likewise imprinted. Only vanity signifies a complete opposite, insofar as it avoids the service of miracles in things, also the service of the miracle in people themselves (about whom their vanity is surely least of all schooled). The only sobriety in the world, then, is simply vanity: it alone remains indebted to all miracles in people and in things, and it prioritizes trivialities in the form of petty personal needs, which comprise and destroy the human miracle. — *{305} On generalization: at present, ordinary people like to raise objections to thinkers and poets of a higher standing on the grounds that the latter – apparently without justification – make generalizations about our opponents on the basis of certain unpleasant characteristics of theirs. The ordinary people take pleasure in imagining that only they themselves are strictly logical, objective, and fair, and that they assume that illogicality and undue fervor are the cause of false conclusion among those who think differently from them. The matter is the other way round, and indeed as follows: in the very concept of generalization lies the inference from the individual to the general and typical, from the single to an entirety. Anyone who understands the essence of poetic, artistic and philosophical thinking will also know that such inferences are part of the main occupation of artists and thinkers. They alone, as truly creative persons, are always applying themselves to the task of fashioning individuals from that which is inherently felt as a natural idea, an original character, or conversely to raise an individual to a character type. They alone are familiar with those characteristics that connect an individual with a character, and thus indispensable when a character type is to be represented. They alone understand how the character type is prolonged in the individual, and vice versa. Indeed, the single most valuable gift of artists and thinkers must be taken to be the capacity for such prolongations. And thus, already entrusted at first by Nature and afterwards also through constant practice with the business of prolongation, they remain entirely within their task if they occasionally transfer, even when on their travels, observations about individuals to an entire people, to an entire nation or race. Heine, Fontane, and Goethe drew their conclusions about the English and French when they were travelling, likewise Grillparzer and Hebbel about the Italians and French, and so on. Note, however, that this is verily connected to the fact that these poets, when drawing their conclusions, remained within the confines of their poetic work, {306} and that in drawing these conclusions they proceeded in truthfulness unflinchingly, free of all personal vanity. Being above every class and strand of society, they collected the inner truth of their inferences from unbiassed premises that were derived from the things themselves. No English lord, no French marquis, no Roman landscape or suchlike would have ever been able to infiltrate the poetic workshop of inferences and beguile the poets into making falsifications. – With ordinary people, however, things are different in every respect; they are not contracted to travel the path daily, hourly, from the individual to the character type. For them the whole world dissolves into so many individual cases as they can perceive with their eyes. A world of individual cases stands before them, but never a character type before their intellectual eye. Thus, without any capacity for prolongations, they fall victim to the individual manifestation, to which they react most sensitively with their vanity. Whoever best panders to their vanity also has their sympathy, regardless of where he stands in regard to individual manifestations and in relation to a character type. If he is travelling, it is enough for an ordinary person to be welcomed with devotion by a shrewd innkeeper or received by a higher-standing Englishman or Italian with kindness or with condescension; and already this gratification of his vanity is already sufficient for the ordinary person to infer only the best qualities of the Frenchman, the Englishman, or the Italian. And so it then happens in the further course of events that the ordinary person, fighting for his vanity, will not allow any Goethe, Schiller, or Lessing to rob him of the inferences he has drawn with such shortsightedness. Again, it is only his vanity that gives him the illusion of a kind of opposition to artists and intellectuals who think differently: as opponent, he sees himself in a role that elevates his own importance, and so he insists more than ever on having his generalization, and only his, being the valid one, and conversely on repudiating those of the artists. {307} Only his own inferences does he regard as logical; those of others he takes as illicit generalization. Of such false inferences, the leading newspapers are currently guilty and, following them, every other Tom, Dick, and Harry. 2 And from this arises the unbelievable confusion, according to which it happens strangely enough, that those who generalize rightly and from natural disposition, must ward off the objections on the part of those who in this respect are lacking in all capability and practice! — *Harden espouses freedom of censorship and quotes as evidence Bismarck's practice. 3 This is in itself sufficient to disqualify him from politics inasmuch as, in politics, art – I emphasize, art! – must be understood as the resolution of every new situation from its own nucleus. That matters today – all the more so during the war – are, however, completely different from what they were in Bismarck's time is something that need not be elaborated. — *The businessman: he proceeds from the axiom that the highest possible sum must be secured for him each year: a sum that far exceeds what public officials earn. He justifies his claim to such a high income, aloud and in secret, on the grounds that he does not owe it to the others to be satisfied with little – as if such an argument were not also a reason for the officials to consider similarly high payments for themselves. From this standpoint he claims, just to save on expenses, that all intellectual creations, insofar as they are intellectual goods, are gratuitous property. He is so consumed by a right to non-remuneration that it would be futile to explain that every product is far more a product of Nature than an intellectual piece of work, which represents only an artificially prolonged manifestation and that, in view of this, the intellectual creations must count for more than the products that are themselves directly sourced from Nature. {308}. Indeed, symphonies do not grow like grain – and yet the businessman does not understand why a Beethoven should be remunerated more generously for his efforts in the realm of imagination than grain merchant, the baker, the farmer, and so on. That for example a Beethoven, no less than a businessman, would appeal to the principle of being obliged to no one for an unpaid achievement, is something that a narrow-minded, egoistic businessman cannot understand; and so it is only for his own sake that he fights off having to be at the service of others on their terms. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Ulrich Rauscher, "Heilige Nüchternheit. Betrachtungen," Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, No. 161, June 11, 1916, 60th year, first morning edition, p. 1. 2 The expression Kret(h)i und Plet(h)i (also Kreter und Pleter and Kereter und Peleter), which is often used pejoratively to mean any sort of people. It derives from a story told of the bodyguards to the biblical King David, in the second Book of Samuel. 3 "Die Unterirdischen," Die Zukunft 95 (June 24, 1916), pp. 309-320. See also "Maximilian Harden und der Reichskanzler," Neues Wiener Journal, No. 8136, June 25, 1916, 24th year, p. 1. |