27. VI. 16 11°, hin u. wieder Regen!
— Schon des Vormittags manche Wege: zu Fritz um Brotvorrat, ins Verkehrsbüro wegen Schladming, in den Bankverein, wo die Lose zur zweiten Ziehung erneuert werden. — — Brief aus St. Anton; Verteuerung des Pensionspreises. — Von Frau Gutherz (Br.); meldet die Besserung in Weisses Befinden; an sie Brief mit Dank. — — Von Rothberger Brief mit Einladung für Mittwoch. — — Frau Deutsch zu Tisch u. im Caféhaus; hat leider zum erstenmal Gelegenheit, Lie-Liechen in gereizter Stimmung zu sehen, was mir um Lie-Liechens willen sehr leid tat. Lie-Liechen merkte meine die Hilfe nicht, die ich ihr darbot u. die Gereiztheit schien eher zu- als abzunehmen. Und alle Gereiztheit u. vorgeschützte Müdigkeit kam aus Eitelkeit, die sich verletzt fühlte, weil ich ihr bestritt nicht zugeben konnte, daß die Friseuse, die Pflicht habe, sie immer einen Kundinnen auch ohne Verabredung im Laden abzuwarten u. darüber etwa einträglichere Wege zu versäumen, u. weil ich die Analogie mit scheinbar verwandten Situationen zurückwies u. in letzter Linie auf die eigene Einrichtung in eben diesem Laden hinwies. Erst im Caféhaus gewann Lie-Liechen ihre normale flüssige u. heitere Farbe, wie sie sie {312} mir u. sich selbst vor anderen ohne Zweifel schuldet. — *Französische Flieger erscheinen über Karlsruhe u. töten zahllose Personen, meist Frauen u. Kinder, die an der Frohnleichnahmsprozession [sic] teilnahmen. So etwas tun die Söhne jener Nation, die sich nach Zeugnis der Geschichte für die „erste Tochter“ der katholischen Kirche hält u. genommen werden will. 1 — *Der „Frankf. Ztg.“ nach scheinen die Gerüchte betreffend den Erzherzog Peter Ferdinand falsch zu sein. Noch interessanter aber war die Widerlegung all jener ungünstigen Gerüchte über die Zentral-Einkaufsgesellschaft durch die „Norddeutsch[e] Allgem. Ztg.“, 2 die freilich dort nicht zum Wiederabdruck gelangte, wo der Angriff enthalten war[.] Eben die viel berufene „Ethik der Presse“. — *Wienerisches: Um ½5h, da nach den Abendblättern das erste stärkste Verlangen im Publikum sich kundgibt, schließt die Trafikantin vis à vis die Bude ab; wie sich später herausstellte, um eine sogenannte Uebergabe zu vollziehen! — — Die Putzerei ist noch immer nicht in der Lage, das letzte Stück der Wäsche ausfindig zu machen. — *In Amerika sind die Milliardäre in den meistens Fällen durch ihre Geschäfte mit den Rothäuten reich geworden. Immer wieder dasselbe Beispiel! Der englische Reiche schindet wehrlose Inder u. Egypter; der Amerikaner wehrlose Rothäute, die russischen Großgrundbesitzer geistig zurückgebliebene Muschiks – kurz, sie machen sich ihren Erwerb sehr billig, indem sie an rückständigstem Menschenmaterial ihre Proben machen. Wie unfähig aber diese Millionäre u. Milliardäre dann in Wahrheit sind, zeigt sich wenn sie an einen tüchtigen deut- {313} schen Kaufmann geraten, das haben die letzten fünf Jahrzehnte erwiesen u. am schlagendsten wohl der Weltkrieg! — *Offenbar verhält sich auch die der Landwirtschaft zum [illeg]Zwischenhändler , wie etwa der Autor zum Verleger: Zwischenhändler wie Verleger schöpfen trotz Unfähigkeit, Unkenntnis, Charakterlosigkeit die reichsten Dividenden u. überlassen den Landwirt wie den Autor ihrer Pein. — *Brünauer bringt zur letzten Stunde weder das Honorar noch den geliehenen Schirm u. ladet mich beim Abschied auf der Straße zu sich ein, sobald ich am 26. in Wien wieder eintreffe, indem er hinzufügt, er sei ja allein. Es ist nicht der Mühe wert nachzudenken, ob es Taktlosigkeit, Dummheit zu bedeuten hat. — — Abends mit Gärtners im Caféhaus bis 11h. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 27, 1916. 11°, occasional rain!
— Many errands even during the morning: to Fritz for bread provision, to the tourist agency on account of Schladming, to the Bankverein, where the lottery tickets for the second draw are renewed. — Letter from St. Anton; rise in the price of accommodation. — Letter from Mrs. Gutherz; she reports the improvement in Weisse's health; letter to her, with thanks. — — Letter from Rothberger with invitation for Wednesday. — — Mrs. Deutsch at lunch and in the coffee house; unfortunately she has the opportunity of seeing Lie-Liechen for the first time in an irritable mood which, for Lie-Liechen's sake, upset me very much. Lie-Liechen did not notice the help that I offered, and her irritability seemed to increase rather than decrease. And all her irritability and feigned tiredness resulted from vanity that seemed injured because I disputed her claim that her hairdresser has the duty to wait for clients in her salon even when they don't have an appointment, and thus miss perhaps more profitable activities, because I rejected her analogy with apparently related situations and, in the last analysis, referred to the arrangements in this particular salon. It was only at the coffee house that Lie-Liechen regained her normal flush and cheerful complexion, as she undoubtedly owes {312} to me and to herself when she is in the company of others. — *French airplanes appear above Karlsruhe and kill countless persons, mainly women and children who were taking part in a Corpus Christi procession. This is what is done by the sons of the nation that, according to the testimony of history, regards itself and wishes to be acknowledged as the "first daughter" of the Catholic church. 1 — *According to the Frankfurter Zeitung , the rumors about Archduke Peter Ferdinand appear to be false. More interesting, however, was the refutation of all those unfavorable rumors about the Central Purchasing Company by the Norddeutsche Allgemaine Zeitung , 2 which of course were not reprinted where the attack had been made. Verily, the much-vaunted "ethics of the press." — *Typically Viennese: at 4:30, when the early demand from the public for evening newspapers is at its greatest, the tobacconist opposite me closes her [newspaper] kiosk. As it later came to light, she wanted to complete a so-called delivery! — — The cleaning company is still unable to find the last piece of laundry. — *In America, billionaires have in most cases become rich from their business dealings with the Redskins. Time and again the same example. The rich Englishman slave-drives defenseless Indians and Egyptians, the Russian estate owners intellectually retarded peasants – in short, they make their gains very cheaply by carrying out their tests on retarded human material. How incapable, however, these millionaires and billionaires really are can be seen when they deal with an honest German merchant; {313} that is something that the last five decades have shown, the war perhaps most pointedly! — *Evidently the farmer is related to the middleman as, say, an author is to his publisher: dealers, like publishers, create the greatest dividends, in spite of incapacity, ignorance, and lack of character; and they leave the farmer or the author to their agony. — *Brünauer brings neither the lesson fee nor the umbrella he borrowed to his last lesson; and, taking his leave from me on the street, he invites me to his place as soon as I am back in Vienna on the 26th, adding that he will be on his own. It is not worth the trouble considering whether this signifies tactlessness or stupidity. — — In the evening, with the Gärtners until 11 o'clock. — *
© Translation William Drabkin. |
27. VI. 16 11°, hin u. wieder Regen!
— Schon des Vormittags manche Wege: zu Fritz um Brotvorrat, ins Verkehrsbüro wegen Schladming, in den Bankverein, wo die Lose zur zweiten Ziehung erneuert werden. — — Brief aus St. Anton; Verteuerung des Pensionspreises. — Von Frau Gutherz (Br.); meldet die Besserung in Weisses Befinden; an sie Brief mit Dank. — — Von Rothberger Brief mit Einladung für Mittwoch. — — Frau Deutsch zu Tisch u. im Caféhaus; hat leider zum erstenmal Gelegenheit, Lie-Liechen in gereizter Stimmung zu sehen, was mir um Lie-Liechens willen sehr leid tat. Lie-Liechen merkte meine die Hilfe nicht, die ich ihr darbot u. die Gereiztheit schien eher zu- als abzunehmen. Und alle Gereiztheit u. vorgeschützte Müdigkeit kam aus Eitelkeit, die sich verletzt fühlte, weil ich ihr bestritt nicht zugeben konnte, daß die Friseuse, die Pflicht habe, sie immer einen Kundinnen auch ohne Verabredung im Laden abzuwarten u. darüber etwa einträglichere Wege zu versäumen, u. weil ich die Analogie mit scheinbar verwandten Situationen zurückwies u. in letzter Linie auf die eigene Einrichtung in eben diesem Laden hinwies. Erst im Caféhaus gewann Lie-Liechen ihre normale flüssige u. heitere Farbe, wie sie sie {312} mir u. sich selbst vor anderen ohne Zweifel schuldet. — *Französische Flieger erscheinen über Karlsruhe u. töten zahllose Personen, meist Frauen u. Kinder, die an der Frohnleichnahmsprozession [sic] teilnahmen. So etwas tun die Söhne jener Nation, die sich nach Zeugnis der Geschichte für die „erste Tochter“ der katholischen Kirche hält u. genommen werden will. 1 — *Der „Frankf. Ztg.“ nach scheinen die Gerüchte betreffend den Erzherzog Peter Ferdinand falsch zu sein. Noch interessanter aber war die Widerlegung all jener ungünstigen Gerüchte über die Zentral-Einkaufsgesellschaft durch die „Norddeutsch[e] Allgem. Ztg.“, 2 die freilich dort nicht zum Wiederabdruck gelangte, wo der Angriff enthalten war[.] Eben die viel berufene „Ethik der Presse“. — *Wienerisches: Um ½5h, da nach den Abendblättern das erste stärkste Verlangen im Publikum sich kundgibt, schließt die Trafikantin vis à vis die Bude ab; wie sich später herausstellte, um eine sogenannte Uebergabe zu vollziehen! — — Die Putzerei ist noch immer nicht in der Lage, das letzte Stück der Wäsche ausfindig zu machen. — *In Amerika sind die Milliardäre in den meistens Fällen durch ihre Geschäfte mit den Rothäuten reich geworden. Immer wieder dasselbe Beispiel! Der englische Reiche schindet wehrlose Inder u. Egypter; der Amerikaner wehrlose Rothäute, die russischen Großgrundbesitzer geistig zurückgebliebene Muschiks – kurz, sie machen sich ihren Erwerb sehr billig, indem sie an rückständigstem Menschenmaterial ihre Proben machen. Wie unfähig aber diese Millionäre u. Milliardäre dann in Wahrheit sind, zeigt sich wenn sie an einen tüchtigen deut- {313} schen Kaufmann geraten, das haben die letzten fünf Jahrzehnte erwiesen u. am schlagendsten wohl der Weltkrieg! — *Offenbar verhält sich auch die der Landwirtschaft zum [illeg]Zwischenhändler , wie etwa der Autor zum Verleger: Zwischenhändler wie Verleger schöpfen trotz Unfähigkeit, Unkenntnis, Charakterlosigkeit die reichsten Dividenden u. überlassen den Landwirt wie den Autor ihrer Pein. — *Brünauer bringt zur letzten Stunde weder das Honorar noch den geliehenen Schirm u. ladet mich beim Abschied auf der Straße zu sich ein, sobald ich am 26. in Wien wieder eintreffe, indem er hinzufügt, er sei ja allein. Es ist nicht der Mühe wert nachzudenken, ob es Taktlosigkeit, Dummheit zu bedeuten hat. — — Abends mit Gärtners im Caféhaus bis 11h. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 27, 1916. 11°, occasional rain!
— Many errands even during the morning: to Fritz for bread provision, to the tourist agency on account of Schladming, to the Bankverein, where the lottery tickets for the second draw are renewed. — Letter from St. Anton; rise in the price of accommodation. — Letter from Mrs. Gutherz; she reports the improvement in Weisse's health; letter to her, with thanks. — — Letter from Rothberger with invitation for Wednesday. — — Mrs. Deutsch at lunch and in the coffee house; unfortunately she has the opportunity of seeing Lie-Liechen for the first time in an irritable mood which, for Lie-Liechen's sake, upset me very much. Lie-Liechen did not notice the help that I offered, and her irritability seemed to increase rather than decrease. And all her irritability and feigned tiredness resulted from vanity that seemed injured because I disputed her claim that her hairdresser has the duty to wait for clients in her salon even when they don't have an appointment, and thus miss perhaps more profitable activities, because I rejected her analogy with apparently related situations and, in the last analysis, referred to the arrangements in this particular salon. It was only at the coffee house that Lie-Liechen regained her normal flush and cheerful complexion, as she undoubtedly owes {312} to me and to herself when she is in the company of others. — *French airplanes appear above Karlsruhe and kill countless persons, mainly women and children who were taking part in a Corpus Christi procession. This is what is done by the sons of the nation that, according to the testimony of history, regards itself and wishes to be acknowledged as the "first daughter" of the Catholic church. 1 — *According to the Frankfurter Zeitung , the rumors about Archduke Peter Ferdinand appear to be false. More interesting, however, was the refutation of all those unfavorable rumors about the Central Purchasing Company by the Norddeutsche Allgemaine Zeitung , 2 which of course were not reprinted where the attack had been made. Verily, the much-vaunted "ethics of the press." — *Typically Viennese: at 4:30, when the early demand from the public for evening newspapers is at its greatest, the tobacconist opposite me closes her [newspaper] kiosk. As it later came to light, she wanted to complete a so-called delivery! — — The cleaning company is still unable to find the last piece of laundry. — *In America, billionaires have in most cases become rich from their business dealings with the Redskins. Time and again the same example. The rich Englishman slave-drives defenseless Indians and Egyptians, the Russian estate owners intellectually retarded peasants – in short, they make their gains very cheaply by carrying out their tests on retarded human material. How incapable, however, these millionaires and billionaires really are can be seen when they deal with an honest German merchant; {313} that is something that the last five decades have shown, the war perhaps most pointedly! — *Evidently the farmer is related to the middleman as, say, an author is to his publisher: dealers, like publishers, create the greatest dividends, in spite of incapacity, ignorance, and lack of character; and they leave the farmer or the author to their agony. — *Brünauer brings neither the lesson fee nor the umbrella he borrowed to his last lesson; and, taking his leave from me on the street, he invites me to his place as soon as I am back in Vienna on the 26th, adding that he will be on his own. It is not worth the trouble considering whether this signifies tactlessness or stupidity. — — In the evening, with the Gärtners until 11 o'clock. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 France was called "the first daughter of the Catholic church" after the Frankish King, Clovis I, converted to Christianity in AD 496. 2 "Z. E. G.," Norddeutsche Allgemeine Zeitung, No. 176, June 27, 1916, 55th year, first edition, p. [3]. |