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10. Schön u. mild.

— 9h früh zur Mehlkommission. — Orlay (3.). – Im Vorzimmer schwatzen zwei junge jüdische Fräuleins englisch, selbstverständlich nichtigste Dinge. — Bethmann Hollwegs klassische Rede vor dem Ausschuss entlarvt Grey noch um vieles nachdrücklicher rücksichtsloser als früher u. zw. durch Enthüllung neuer Aktenstücke aus dem russischen Archiv, parirt ihm auch die Spitze in bezug auf die künftige {501} Friedensliga; spricht endlich den Verzicht auf die Annexion Belgiens ausdrücklich aus. 1

— In der Köllnerhofgasse weitere Honigvorräte eingekauft. — Fr. D. weder zu Tisch noch im Caféhaus. Aus dem Munde dieser reichen Schülerin: Als ich ihr erzählte, daß uns neulich der Konditor an der Ware betrogen u. wir deshalb zum Marktkommissär gingen, meinte sie: Warum haben Sie nicht lieber vom Konditor das Geld zurückgefordert? Nichts ist ihr die Sühne, alles nur das Geld! – „Erzählen Sie mir einen Witz – ich gehe zu meinem Bruder ins Sanatorium; er wünscht nur Heiteres zu hören u. zu lesen.“ Wie arm die Reichen nur sind! Selbst um Witze betteln sie schon. Meinen Vorschlag, irgend eine Nummer eines Witzblattes [illeg]anzukaufen oder Busch zu überbringen, weicht sie mit sicherem Instinkt aus, die Heiterkeit soll um Gottes Willen nur ja nichts kosten. Den Weg zu den Büchern kennt der Bruder ja leider ohnehin noch gar nicht, ihn aber erst in diesem Alter u. unter solchen Umständen zum erstenmal zu gehen, fällt fiele ihm freilich schwer. Welche Not über so viel Reichtum! – Endlich, nach vielleicht 4 oder mehr Wochen wünscht sie zum erstenmal auch wirklich Zigarren für Soldaten einzukaufen; ich selbst vermittle den Einkauf; da dieser aber nur 5 Stück à 12 h zum Inhalt hat, versuche ich, schon um meines eigenen Ansehens willen, mit einem Witzwort mich u. die Käuferin aus der Verlegenheit zu reißen, indem ich sage, die Zigarren sind nicht etwa für die gnädige Frau, sie raucht selbst nicht, worauf Fr. D. mit einem herzbrechenden Ton, hinter dem man einen Ozean voll Mitleid u. Chimborasso von altruistischen Taten vermutet hätte, bestätigend meint: Nein, wirklich nicht, die Zigarren gehen ins Feld! — Wildgans’ „Liebe“ 2 erworben u. Pembauers Beethoven-Analyse 3 bestellt. —

— Im „Berl. Tgbl.Dernburg über Diplomatie; daraus erfahre ich zum erstenmal, daß selbst auf dem Gebiete des Sportes die Engländer, die so lange als Vorbilder gepriesen wurden, bereits weit in den Hintergrund gedrängt wurden, so daß sie den Amerikanern sogar zum Gespött geworden sind. 4

Benedikt („N. Fr. Pr.“) fletchert armselige Gedankenbissen. — Brünauer macht den Ver- {502} such, mir das Honorar ohne Abzug des Kakaopreises voll auszubezahlen; ich bestehe aber auf der Bezahlung u. zwinge ihn schließlich, 20 Kronen zu akzeptiren. — Kleiner Spaziergang nach dem Abendessen, 9–9½h, bei schönstem Mondlicht. —

Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren; – richtiger wäre dagegen zu sagen, daß, wo nichts ist, umgekehrt eher die Ordnung beginnt, eben in bezug auf das Nichts[;] Beweis aus der heutigen Zeit: England, gleichsam ein Großindividuum, ein Reicher, strebt zuerst fürs Erste neue Eroberungen an, u. erklärt sich zugleich aber auch bereit, hernach das übrigbleibende Nichts unter Garantie der Neutralen zu stellen; (siehe Grey’s Rede, der nach gemachter Beute eine Neu-Ordnung des Nichts ankündigt!) (Eben darauf erwidert Bethmann Hollweg mit Geschick.) 5

*

© Transcription Marko Deisinger.

10. Fair and mild.

— At 9 o'clock in the morning, to the flour commission. — Orlay (third visit). – In the anteroom, two young Jewish girls are chatting in English, obviously about the most trivial things. — Bethmann Hollweg's classic speech to the [Reichstag] cabinet exposes Grey as far more thoughtless than previously believed, and indeed from the revelation of new documents from the Russian archive, and also deflects the attack with respect to the future League of Peace and Freedom; {501} he finally rules out expressly the annexation of Belgium. 1

— In the Köllnerhofgasse, further supplies of honey purchased. — Mrs. Deutsch neither at lunch nor in the coffee house. From the mouth of this rich pupil of mine: when I told her that the confectioner had cheated us in the sale of goods, and that we therefore went to the market police, she asked, ["]Why did you not instead demand your money back from the confectioner?["] Atonement means nothing to her, all that matters is money! – "Tell me a joke – I'm going to the hospital to visit my brother; he wishes to hear and read only amusing things." How poor the rich simply are! They even beg for jokes. My suggestion, that she gives him an issue of a humor magazine or something by Busch, she rejects with secure instinct: humor, for God's sake, should surely not cost anything. Her brother, unfortunately, has as yet cultivated no interest at all in books, and to do so at his age and under such circumstances would surely be difficult. What poverty in spite of such wealth! – Finally, after perhaps four weeks or more, she really would like to buy cigars for soldiers for the first time; I myself arrange the transaction; but since these are available in packs of five for 12 Heller, I endeavor to preserve my own dignity and also extricate myself and the purchaser from embarrassment by jokingly explaining that the cigars are not for my gracious lady, who does not herself smoke; Mrs. Deutsch, in a heartrending tone behind which one would have suspected an ocean of pity and a Mount Chimborazo of altruistic deeds, confirmed this by saying: ["]No, really not; the cigars are going to the field!["]Wildgans's Love 2 acquired, and Pembauer's Beethoven analysis 3 ordered. —

— In the Berliner Tageblatt , Dernburg on diplomacy; from this I learn for the first time that, even in the field of sport, the English, who had been esteemed as models for so long, have been pushed far into the background, that they have even become an object of ridicule to the Americans. 4

Benedikt ( Neue Freie Presse ) chews on wretched morsels of ideas. — Brünauer attempts {502} to pay his lesson fee in its entirety, without deducting the cost of cocoa; but I insist on paying him and force him in the end to accept 20 Kronen. — A short walk after supper, from 9 to 9:30, in the most beautiful moonlight. —

— "Where there is nothing, the emperor has lost his dominion; – it would, on the other hand, be more correct to say that, where there is nothing, order should rather begin, even in relationship to the nothing. Proof from the present times: England, being as it were an important individual, a rich person, is at present striving after new conquests, but at the same time it also declares itself prepared to place the nothing that remains under the protection of the neutral countries; see Grey's speech, which announces a new order of the nothing following after the plunder it has taken! (Bethmann Hollweg replies to this very point with skill.) 5

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© Translation William Drabkin.

10. Schön u. mild.

— 9h früh zur Mehlkommission. — Orlay (3.). – Im Vorzimmer schwatzen zwei junge jüdische Fräuleins englisch, selbstverständlich nichtigste Dinge. — Bethmann Hollwegs klassische Rede vor dem Ausschuss entlarvt Grey noch um vieles nachdrücklicher rücksichtsloser als früher u. zw. durch Enthüllung neuer Aktenstücke aus dem russischen Archiv, parirt ihm auch die Spitze in bezug auf die künftige {501} Friedensliga; spricht endlich den Verzicht auf die Annexion Belgiens ausdrücklich aus. 1

— In der Köllnerhofgasse weitere Honigvorräte eingekauft. — Fr. D. weder zu Tisch noch im Caféhaus. Aus dem Munde dieser reichen Schülerin: Als ich ihr erzählte, daß uns neulich der Konditor an der Ware betrogen u. wir deshalb zum Marktkommissär gingen, meinte sie: Warum haben Sie nicht lieber vom Konditor das Geld zurückgefordert? Nichts ist ihr die Sühne, alles nur das Geld! – „Erzählen Sie mir einen Witz – ich gehe zu meinem Bruder ins Sanatorium; er wünscht nur Heiteres zu hören u. zu lesen.“ Wie arm die Reichen nur sind! Selbst um Witze betteln sie schon. Meinen Vorschlag, irgend eine Nummer eines Witzblattes [illeg]anzukaufen oder Busch zu überbringen, weicht sie mit sicherem Instinkt aus, die Heiterkeit soll um Gottes Willen nur ja nichts kosten. Den Weg zu den Büchern kennt der Bruder ja leider ohnehin noch gar nicht, ihn aber erst in diesem Alter u. unter solchen Umständen zum erstenmal zu gehen, fällt fiele ihm freilich schwer. Welche Not über so viel Reichtum! – Endlich, nach vielleicht 4 oder mehr Wochen wünscht sie zum erstenmal auch wirklich Zigarren für Soldaten einzukaufen; ich selbst vermittle den Einkauf; da dieser aber nur 5 Stück à 12 h zum Inhalt hat, versuche ich, schon um meines eigenen Ansehens willen, mit einem Witzwort mich u. die Käuferin aus der Verlegenheit zu reißen, indem ich sage, die Zigarren sind nicht etwa für die gnädige Frau, sie raucht selbst nicht, worauf Fr. D. mit einem herzbrechenden Ton, hinter dem man einen Ozean voll Mitleid u. Chimborasso von altruistischen Taten vermutet hätte, bestätigend meint: Nein, wirklich nicht, die Zigarren gehen ins Feld! — Wildgans’ „Liebe“ 2 erworben u. Pembauers Beethoven-Analyse 3 bestellt. —

— Im „Berl. Tgbl.Dernburg über Diplomatie; daraus erfahre ich zum erstenmal, daß selbst auf dem Gebiete des Sportes die Engländer, die so lange als Vorbilder gepriesen wurden, bereits weit in den Hintergrund gedrängt wurden, so daß sie den Amerikanern sogar zum Gespött geworden sind. 4

Benedikt („N. Fr. Pr.“) fletchert armselige Gedankenbissen. — Brünauer macht den Ver- {502} such, mir das Honorar ohne Abzug des Kakaopreises voll auszubezahlen; ich bestehe aber auf der Bezahlung u. zwinge ihn schließlich, 20 Kronen zu akzeptiren. — Kleiner Spaziergang nach dem Abendessen, 9–9½h, bei schönstem Mondlicht. —

Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren; – richtiger wäre dagegen zu sagen, daß, wo nichts ist, umgekehrt eher die Ordnung beginnt, eben in bezug auf das Nichts[;] Beweis aus der heutigen Zeit: England, gleichsam ein Großindividuum, ein Reicher, strebt zuerst fürs Erste neue Eroberungen an, u. erklärt sich zugleich aber auch bereit, hernach das übrigbleibende Nichts unter Garantie der Neutralen zu stellen; (siehe Grey’s Rede, der nach gemachter Beute eine Neu-Ordnung des Nichts ankündigt!) (Eben darauf erwidert Bethmann Hollweg mit Geschick.) 5

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© Transcription Marko Deisinger.

10. Fair and mild.

— At 9 o'clock in the morning, to the flour commission. — Orlay (third visit). – In the anteroom, two young Jewish girls are chatting in English, obviously about the most trivial things. — Bethmann Hollweg's classic speech to the [Reichstag] cabinet exposes Grey as far more thoughtless than previously believed, and indeed from the revelation of new documents from the Russian archive, and also deflects the attack with respect to the future League of Peace and Freedom; {501} he finally rules out expressly the annexation of Belgium. 1

— In the Köllnerhofgasse, further supplies of honey purchased. — Mrs. Deutsch neither at lunch nor in the coffee house. From the mouth of this rich pupil of mine: when I told her that the confectioner had cheated us in the sale of goods, and that we therefore went to the market police, she asked, ["]Why did you not instead demand your money back from the confectioner?["] Atonement means nothing to her, all that matters is money! – "Tell me a joke – I'm going to the hospital to visit my brother; he wishes to hear and read only amusing things." How poor the rich simply are! They even beg for jokes. My suggestion, that she gives him an issue of a humor magazine or something by Busch, she rejects with secure instinct: humor, for God's sake, should surely not cost anything. Her brother, unfortunately, has as yet cultivated no interest at all in books, and to do so at his age and under such circumstances would surely be difficult. What poverty in spite of such wealth! – Finally, after perhaps four weeks or more, she really would like to buy cigars for soldiers for the first time; I myself arrange the transaction; but since these are available in packs of five for 12 Heller, I endeavor to preserve my own dignity and also extricate myself and the purchaser from embarrassment by jokingly explaining that the cigars are not for my gracious lady, who does not herself smoke; Mrs. Deutsch, in a heartrending tone behind which one would have suspected an ocean of pity and a Mount Chimborazo of altruistic deeds, confirmed this by saying: ["]No, really not; the cigars are going to the field!["]Wildgans's Love 2 acquired, and Pembauer's Beethoven analysis 3 ordered. —

— In the Berliner Tageblatt , Dernburg on diplomacy; from this I learn for the first time that, even in the field of sport, the English, who had been esteemed as models for so long, have been pushed far into the background, that they have even become an object of ridicule to the Americans. 4

Benedikt ( Neue Freie Presse ) chews on wretched morsels of ideas. — Brünauer attempts {502} to pay his lesson fee in its entirety, without deducting the cost of cocoa; but I insist on paying him and force him in the end to accept 20 Kronen. — A short walk after supper, from 9 to 9:30, in the most beautiful moonlight. —

— "Where there is nothing, the emperor has lost his dominion; – it would, on the other hand, be more correct to say that, where there is nothing, order should rather begin, even in relationship to the nothing. Proof from the present times: England, being as it were an important individual, a rich person, is at present striving after new conquests, but at the same time it also declares itself prepared to place the nothing that remains under the protection of the neutral countries; see Grey's speech, which announces a new order of the nothing following after the plunder it has taken! (Bethmann Hollweg replies to this very point with skill.) 5

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© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 "Rede des Reichskanzlers über Kriegsursachen und Friedensziele. Vor dem Hauptausschusse des Reichstages," Neue Freie Presse, No. 18759, November 10, 1916, morning edition, pp. 2-4.

2 Anton Wildgans, Liebe. Eine Tragödie (Leipzig: Staackmann, 1916).

3 Joseph Pembaur d. J., Ludwig v. Beethovens Sonaten op. 31 No. 2 u. op. 57 (Munich: Wunderhorn-Verlag, 1915). This book is known to have been in Schenker's personal library at the time of his death: see Musik und Theater enthaltend die Bibliothek des Herrn † Dr. Heinrich Schenker, Wien (Vienna: Antiquariat Heinrich Hinterberger, n.d.), item 53.

4 Bernhard Dernburg, "Diplomatie," Berliner Tageblatt, No. 575, 45th year, November 9, 1916, morning edition, pp. [1-2].

5 "Die Antwort des deutschen Reichskanzlers an Lord Grey. Eine Rede über den Frieden und über die Schuld am Kriege," Neue Freie Presse, No. 18759, November 10, 1916, morning edition, p. 1.