4. +4°, klar, aber kalt u. windig.
— Spaziergang vor Tisch. — Zur gewohnten Stunde zuhause zu Abend gegessen, dann gegen 8h zu Dir. Hammerschlag. Furtwängler erscheint nach mir, ein Mann von 30 Jahren; das Gespräch bewegt sich bei Tisch zunächst nur recht flau um politische Kleinigkeiten, Adolf Busch usw. (während des Abendessens erscheint Breisach u. Konzertmeister Rothschild); beim schwarzen Café wurde das Gespräch bereits intimer u. sachlicher. F. erzählt, mein Buch vor sechs Jahren in Lübeck kennen gelernt zu haben u. zeigt sich ganz gut orientiert über meine Verbindungen in Deutschland. Jedenfalls gab er sich bescheiden u. willig, einer zeitgemaßen [sic] Mission zu dienen. Inzwischen ist auch Dr. Mandyczewski erschienen, der aber im Salon blieb, da er, als Nichtraucher, zu uns nicht kommen konnte. Später sind wir im Salon mit ihm beisammen u. das Gespräch bewegte sich wieder in vorsichtigen Bahnen, da man befürchten mochte, gerade auf dem Gebiete der allgemein interessierenden Fragen einander wehe zu tun oder nahezutreten. 1 Unter anderem wurde auch von Rolland gesprochen, dessen Roman 2 bei allen ungeteilten Bewunderung gefunden. Demgegenüber habe ich, freilich nicht ohne vorauszuschicken, daß ich nur eine Inhaltsangabe kenne , u. {2066} im übrigen verschiedene Aufsätze u. Zitate, sofort das möglich drastischeste Gegenurteil formuliert u. gemeint, Rolland wäre so etwas wie ein französischer Bahr, nur in großerer [sic] Aufmachung. Sofort bemerkte ich, daß das Urteil in dieser Form den Anwesenden nicht zugänglich sein konnte; der Hausherr produzierte zum Beweis seiner hohen Meinung seinen an ihn gerichteten Brief von Rolland, worin sich dieser zu einer Dankesschuld an Deutschland bekennt u. mit Michelet emphatisch ausruft „Mein Deutschland“ – Dieses Dokument hat mich im erst recht stutzig gemacht; schon die Schrift, mit allerlei Zierlichkeiten versehen, Arabesken, kokettierenden Schnörkeln u. Initialen u. hernach nun erst der Inhalt! Allmälig 3 habe ich es aber doch dahin gebracht, daß die Bewunderer Rollands, einer nach dem andern, zu dem Geständnis schritten, nicht recht zu wissen, wie R. selbst über die Deutschen u. deutsche Kunst urteile, ob er im Helden seines Romanes Beethoven oder irgendeinen imaginierten Musiker verkörpere, kurz zu vielen Widersprüchen auch sonst noch Anlaß gebe. Diese Verwirrung hat wieder nur meinen eigenen Eindruck von Rolland bestätigt. 4 — Bald entfernte sich Dr. Mandyczewski u. nun ging erst recht das Ausfragen an. Bruckner war das Hauptthema. Furtwängler hat nicht wenig für die „schönen Themen“ übrig, zu meinem Erstaunen nicht wenig auch für den symphonischen Stil. Ganz sachte schob ich einen Mauerbrecher nach dem andern heran u. brachte, schließlich an die persönliche Eitelkeit appellierend, die Meinung zum Ausdruck, daß es nicht angehe, um der Einzelheiten willen, deren Schönheit nicht zu unterschätzen sei, sich in dieser Weise zu einem Autor zu stellen, wenn dadurch der Seele der Schaden zugefügt würde, {2067} daß sie, Einzelheiten sich hingebend, sich gleichsam selbst in Atome auflöst. Ich meinte: wenn die Jugend ohnehin heute so schwer am Mangel eines Weitblicks leide, sei es geradezu sträflich, diese Infektion auch noch dadurch zu fördern, daß man Autoren in den Vordergrund stellt, die an demselben Mangel leiden. Ueber Mahler zu sprechen lehnte ich ab, was die Anwesenden ohnehin unter Gelächter schon als Urteil auffaßten. Bemerkenswert war schließlich, daß der Hausherr die Unehrenhaftigkeit Kalbecks, die Mißgunst Dr. Hirschfelds betonte – Werturteile, die er sicher sehr teuer erkauft haben muß, wenn man seine Beziehungen zu den Genannten kennt. Furtwängler, Rothschild u. Breisach begleiten mich nachhause u. auf der Straße hatte ich Gelegenheit, das Bild von Bruckner, Mahler u. Hugo Wolf noch etwas schärfer nachzuziehen. Und immer wieder mit Nachdruck betonte ich die Pflicht, die Jugend von heute zu den Meistern der Organisation, der Synthese zu führen. —© Transcription Marko Deisinger. |
4 +4°, clear but cold and windy.
— For a walk before lunch. —At the customary hour, supper eaten at home, then around 8:00 to Director Hammerschlag. Furtwängler turns up after me, a man thirty years of age; the conversation while at table starts only very sluggishly on minor political matters, Adolf Busch, etc. (during supper Breisach and concertmaster Rothschild turn up); over black coffee, the conversation was already becoming more intimate and substantive. Furtwängler recounts that he got to know my book six years ago in Lübeck and shows himself entirely well-informed on my links with Germany. In any case, he remained modest and expressed his willingness to serve a timely mission. In the meantime, Dr. Mandyczewski, too, turned up, but he remained in the salon, since as a non-smoker he could not join us. Later we join him in the salon, and the conversation again became guarded, since people may have been afraid of hurting or embarrassing one another, especially on matters of general interest. 1 Among other things, there was talk about Rolland, whose novel 2 had won the undivided admiration of all. In opposition to this, naturally not without indicating that I was acquainted only with the outline of its contents, {2066} as well as various articles and excerpts, I promptly formulated the most drastically opposing judgment possible, and opined that Rolland was something like a French Bahr, only on a larger scale. I immediately noticed that in this form my judgment had no chance of being accessible to those present. The man of the house produced, as evidence of his favorable opinion, a letter addressed to him from Rolland, in which the latter declares himself as owing a debt of gratitude toward Germany and with Michelet emphatically exclaims "My Germany!" – This document made me all the more suspicious. For a start, the writing, adorned with all manner of delicate touches, arabesques, coquettish flourishes and initials, and then of course the content itself! By and by, 3 however, I prevailed upon Rolland's admirers, one by one, to confess not to know exactly what Rolland's own judgment was of the Germans and German art, whether it was Beethoven or some imaginary musician who was embodied in the hero of his novel, and briefly bring up many other contradictions as well. This confusion again only served to confirm my own impression of Rolland. 4 — Soon Dr. Mandyczewski left, and now the questioning caught fire all the more. Bruckner was the principal topic. Furtwängler is quite taken by [his] "beautiful themes," and, to my astonishment, [his] symphonic style. I pushed a battering ram quite gently in the direction of the others, and, ultimately playing upon personal vanity, put forward the opinion that it is not good, for the sake of details whose beauty is not to be underrated to surrender oneself to a composer in this way when harm would be done to the soul if, {2067} in abandoning itself to details, it would cause itself, so to speak, to disintegrate into atoms. I expressed the opinion that seeing as the younger generation of today already suffers so severely from a lack of long-distance vision, it is utterly unpardonable to spread this infection still further by bringing to the fore composers who themselves suffer from this lack. I declined to speak about Mahler, which those present, amidst laughter, interpreted as a judgment nonetheless. It was noticeable finally that the man of the house stressed the dishonorableness of Kalbeck [and] the ill will of Dr. Hirschfeld – value judgments that must surely have cost him very dearly when one considers his relationships to those two men. Furtwängler, Rothschild, and Breisach accompanied me home, and on the street I took the opportunity to redraw the picture of Bruckner, Mahler, and Hugo Wolf in still more stringent terms. And again and again I emphasized our duty to lead the youth of today toward the masters of organization, the masters of synthesis. —© Translation Scott Witmer. |
4. +4°, klar, aber kalt u. windig.
— Spaziergang vor Tisch. — Zur gewohnten Stunde zuhause zu Abend gegessen, dann gegen 8h zu Dir. Hammerschlag. Furtwängler erscheint nach mir, ein Mann von 30 Jahren; das Gespräch bewegt sich bei Tisch zunächst nur recht flau um politische Kleinigkeiten, Adolf Busch usw. (während des Abendessens erscheint Breisach u. Konzertmeister Rothschild); beim schwarzen Café wurde das Gespräch bereits intimer u. sachlicher. F. erzählt, mein Buch vor sechs Jahren in Lübeck kennen gelernt zu haben u. zeigt sich ganz gut orientiert über meine Verbindungen in Deutschland. Jedenfalls gab er sich bescheiden u. willig, einer zeitgemaßen [sic] Mission zu dienen. Inzwischen ist auch Dr. Mandyczewski erschienen, der aber im Salon blieb, da er, als Nichtraucher, zu uns nicht kommen konnte. Später sind wir im Salon mit ihm beisammen u. das Gespräch bewegte sich wieder in vorsichtigen Bahnen, da man befürchten mochte, gerade auf dem Gebiete der allgemein interessierenden Fragen einander wehe zu tun oder nahezutreten. 1 Unter anderem wurde auch von Rolland gesprochen, dessen Roman 2 bei allen ungeteilten Bewunderung gefunden. Demgegenüber habe ich, freilich nicht ohne vorauszuschicken, daß ich nur eine Inhaltsangabe kenne , u. {2066} im übrigen verschiedene Aufsätze u. Zitate, sofort das möglich drastischeste Gegenurteil formuliert u. gemeint, Rolland wäre so etwas wie ein französischer Bahr, nur in großerer [sic] Aufmachung. Sofort bemerkte ich, daß das Urteil in dieser Form den Anwesenden nicht zugänglich sein konnte; der Hausherr produzierte zum Beweis seiner hohen Meinung seinen an ihn gerichteten Brief von Rolland, worin sich dieser zu einer Dankesschuld an Deutschland bekennt u. mit Michelet emphatisch ausruft „Mein Deutschland“ – Dieses Dokument hat mich im erst recht stutzig gemacht; schon die Schrift, mit allerlei Zierlichkeiten versehen, Arabesken, kokettierenden Schnörkeln u. Initialen u. hernach nun erst der Inhalt! Allmälig 3 habe ich es aber doch dahin gebracht, daß die Bewunderer Rollands, einer nach dem andern, zu dem Geständnis schritten, nicht recht zu wissen, wie R. selbst über die Deutschen u. deutsche Kunst urteile, ob er im Helden seines Romanes Beethoven oder irgendeinen imaginierten Musiker verkörpere, kurz zu vielen Widersprüchen auch sonst noch Anlaß gebe. Diese Verwirrung hat wieder nur meinen eigenen Eindruck von Rolland bestätigt. 4 — Bald entfernte sich Dr. Mandyczewski u. nun ging erst recht das Ausfragen an. Bruckner war das Hauptthema. Furtwängler hat nicht wenig für die „schönen Themen“ übrig, zu meinem Erstaunen nicht wenig auch für den symphonischen Stil. Ganz sachte schob ich einen Mauerbrecher nach dem andern heran u. brachte, schließlich an die persönliche Eitelkeit appellierend, die Meinung zum Ausdruck, daß es nicht angehe, um der Einzelheiten willen, deren Schönheit nicht zu unterschätzen sei, sich in dieser Weise zu einem Autor zu stellen, wenn dadurch der Seele der Schaden zugefügt würde, {2067} daß sie, Einzelheiten sich hingebend, sich gleichsam selbst in Atome auflöst. Ich meinte: wenn die Jugend ohnehin heute so schwer am Mangel eines Weitblicks leide, sei es geradezu sträflich, diese Infektion auch noch dadurch zu fördern, daß man Autoren in den Vordergrund stellt, die an demselben Mangel leiden. Ueber Mahler zu sprechen lehnte ich ab, was die Anwesenden ohnehin unter Gelächter schon als Urteil auffaßten. Bemerkenswert war schließlich, daß der Hausherr die Unehrenhaftigkeit Kalbecks, die Mißgunst Dr. Hirschfelds betonte – Werturteile, die er sicher sehr teuer erkauft haben muß, wenn man seine Beziehungen zu den Genannten kennt. Furtwängler, Rothschild u. Breisach begleiten mich nachhause u. auf der Straße hatte ich Gelegenheit, das Bild von Bruckner, Mahler u. Hugo Wolf noch etwas schärfer nachzuziehen. Und immer wieder mit Nachdruck betonte ich die Pflicht, die Jugend von heute zu den Meistern der Organisation, der Synthese zu führen. —© Transcription Marko Deisinger. |
4 +4°, clear but cold and windy.
— For a walk before lunch. —At the customary hour, supper eaten at home, then around 8:00 to Director Hammerschlag. Furtwängler turns up after me, a man thirty years of age; the conversation while at table starts only very sluggishly on minor political matters, Adolf Busch, etc. (during supper Breisach and concertmaster Rothschild turn up); over black coffee, the conversation was already becoming more intimate and substantive. Furtwängler recounts that he got to know my book six years ago in Lübeck and shows himself entirely well-informed on my links with Germany. In any case, he remained modest and expressed his willingness to serve a timely mission. In the meantime, Dr. Mandyczewski, too, turned up, but he remained in the salon, since as a non-smoker he could not join us. Later we join him in the salon, and the conversation again became guarded, since people may have been afraid of hurting or embarrassing one another, especially on matters of general interest. 1 Among other things, there was talk about Rolland, whose novel 2 had won the undivided admiration of all. In opposition to this, naturally not without indicating that I was acquainted only with the outline of its contents, {2066} as well as various articles and excerpts, I promptly formulated the most drastically opposing judgment possible, and opined that Rolland was something like a French Bahr, only on a larger scale. I immediately noticed that in this form my judgment had no chance of being accessible to those present. The man of the house produced, as evidence of his favorable opinion, a letter addressed to him from Rolland, in which the latter declares himself as owing a debt of gratitude toward Germany and with Michelet emphatically exclaims "My Germany!" – This document made me all the more suspicious. For a start, the writing, adorned with all manner of delicate touches, arabesques, coquettish flourishes and initials, and then of course the content itself! By and by, 3 however, I prevailed upon Rolland's admirers, one by one, to confess not to know exactly what Rolland's own judgment was of the Germans and German art, whether it was Beethoven or some imaginary musician who was embodied in the hero of his novel, and briefly bring up many other contradictions as well. This confusion again only served to confirm my own impression of Rolland. 4 — Soon Dr. Mandyczewski left, and now the questioning caught fire all the more. Bruckner was the principal topic. Furtwängler is quite taken by [his] "beautiful themes," and, to my astonishment, [his] symphonic style. I pushed a battering ram quite gently in the direction of the others, and, ultimately playing upon personal vanity, put forward the opinion that it is not good, for the sake of details whose beauty is not to be underrated to surrender oneself to a composer in this way when harm would be done to the soul if, {2067} in abandoning itself to details, it would cause itself, so to speak, to disintegrate into atoms. I expressed the opinion that seeing as the younger generation of today already suffers so severely from a lack of long-distance vision, it is utterly unpardonable to spread this infection still further by bringing to the fore composers who themselves suffer from this lack. I declined to speak about Mahler, which those present, amidst laughter, interpreted as a judgment nonetheless. It was noticeable finally that the man of the house stressed the dishonorableness of Kalbeck [and] the ill will of Dr. Hirschfeld – value judgments that must surely have cost him very dearly when one considers his relationships to those two men. Furtwängler, Rothschild, and Breisach accompanied me home, and on the street I took the opportunity to redraw the picture of Bruckner, Mahler, and Hugo Wolf in still more stringent terms. And again and again I emphasized our duty to lead the youth of today toward the masters of organization, the masters of synthesis. —© Translation Scott Witmer. |
Footnotes1 Jeanette writes continuously, without paragraph-break. 2 Romain Rolland, Jean-Christophe; 10 volume saga, printed 1904–1912. 3 Allmälig: archaic for allmählich (gradually, by and by). 4 Jeanette writes continuously, without paragraph-break. |