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28. VII.

Wie gewöhnlich zur Post u. wie gewöhnlich vergebens. Im Postgebäude, mit einer hierorts ganz unbekannten Pünktlichkeit, Herr Dimand; geht mit mir in den Oberstock, wo wir ohne jede Schwierigkeit aus dem casilla-Buch die Wohn- {63} -ung des Victor Schiff ermitteln: Lira 107. Herr Dimand gibt mir seine Karte, „für den Fall, daß Sie etwas brauchen sollten“ – ein jüdisches Herz! — Gehe zu Calm u. Hirsch – Calm ist einer der Freundlichen, die mir in Not wie vom Himmel kamen u. ihr Spanisch liehen! – um mich zu empfehlen. Herr Calm empfängt mich sehr freundlich, ja herzlich in einem eleganten Salon – der war einst ein Mode-Atelier! Zeigt mir im Modellschrank viele Taschen u. erzählt, daß die sonst so aufgeputzte Chilenin eine ruhige, einfache Tasche liebt. Marke – nach Berliner Muster: „the Golden Arrow“.

Nach Tisch Antwort an Rosl mit Gratulation, dann eine Weile Ruhe, hernach trage ich den Brief zur Post (– Luftpost-Brief No 14!). Gehe dann Lira 107 suchen, begegne die Familie Levy, in ihrer Gesellschaft ein jüngerer Calm. Die Emigranten sind wie eine einzige große Familie, es ist noch genau so wie im Urwald: die Not schließt sie zur gemeinsamen Hilfe u. Abwehr zusammen. — Gehe dann die Delicias in der Richtung zum Bahnhof u. lande bei Santa Luzia. Gehe wieder ganz herum u. schließe mich drei deutsch sprechenden Knaben an, die mir erzählen, die Anhöhe sei eine spanische Festung gewesen. Der Aelteste, etwa 14jährig, spricht hübsch u. artig u. wünscht mir beim Händereichen eine gute Reise. Die anderen Beiden kennen Tzschentke, er ist ihr Direktor. Hätte auch Calle Lira ermittelt, mich aber in der Dämmerung nicht hineingewagt: {64} vorstadtmäßig, schlecht beleuchtet, wenig begangen, gewiß keine „elegante“ Gegend – zu diesem Unternehmen brauche ich Begleitung! —

Komme dann an der Nationalbibliothek vorüber u. spreche zwei junge Männer an, die ein wenig Englisch verstehen; ich entnehme ihrem Reden, daß die Säle noch geöffnet seien u. trete ein. Ganz weltmännischer Empfang in dem weiträumigen kahlen Hause, werde auf das Erscheinen einer Deutsch sprechenden Dame vertröstet, die auch bald ankommt, eine Chilenin, von deutschen Eltern stammend. 1 Wir suchen Schenker in den diversen Lexika, die neuen Auflagen fahlen aber. Die junge Dame zeigt stolz u. mit größtem Anstand die verschiedenen Säle, einen Bücher-, Zeitungs-, italienischen Saal, den Kindersaal kann ich, da die Lampen schon gelöscht sind, nur von außen sehen. Das Gebäude steht seit 1928, ein Anbau ist ¾ fertig steckengeblieben – Krise auch hier. Stolz erzählt mir die Dame, daß 50000 Bücher vorhanden seien, daß der Chilene sehr wißbegierig sei u. daß schon die Kleinen eifrigst u. fleißig lesen. Ich empfehle mich mit vielem Dank. Auch diese Dame kennt Frau von Kiesling, in deren Hause „Puppenspiele …“ usw. (Auch Frau v. Koegel weiß davon.) Santiago – ein Großdorf! – Wenn man sagt „Wien“ verklären sich alle Mienen. —

Ich komme erst um ¾8h im Hause an. — Warum wird man immer am eifrigsten, wenn es beinahe schon zu spät ist? Auf {65} dem Heimweg, es ist viel später als sonst, begegne ich sehr vielen jungen Leuten, die eben die Büros u. Geschäftsladen verlassen haben, alle sind lustig, sehr laut, ich habe den Eindruck, als wäre die ganze Stadt, das ganze Land in Gärung, es saust wie junger gärender Wein – als wäre diese Jugend, unwissend u. unbewußt, Werkzeug u. Material eines Werdens, u. nur weil ich weiß, daß Alle nur nach Verdienen u. raschem Erfolg schreien, gellt es mir widerlich ins Ohr. Lebt hier ein Mensch, kann her hier leben, der Alles für eine Idee, für einen Stoff zu opfern fähig wäre, ohne nach Ertrag oder Erfolg zu schielen?

© Transcription William Drabkin, 2024

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July 28

To the post office, as usual; and, as usual, in vain. In the post office building, Mr. Dimand, with a punctuality that is entirely unknown in this part of the world. He goes with me to the upper floor where, without any difficulty, we learn Victor Schiff’s address from the mailbox register: Lira 107. {63} Mr. Dimand gives me his calling card, “in case you should need anything” – a Jewish heart! — I go to Calm and Hirsch – Calm is one of those friendly people who came to me, as if from Heaven, in times of need and helped me with their knowledge of Spanish! – to say goodbye. Mr. Calm receives me very courteously, even cordially, in an elegant salon that was once a fashion studio! He shows me many handbags in the sample cupboard and says that Chilean women, who are otherwise so dressed up, prefer a simple, understated handbag. Brand: “The Golden Arrow.”

After lunch, a reply to Rosl with congratulations, then a bit of rest; then I take the letter to the post office: airmail letter No. 14. I then look for Lira 107; I meet the Levy family, among them a younger member of the Calm family. The emigrés are like one large family; it is still the same, as in a primeval forest: need brings everyone to common help and defense. — I then go along the Avenida de las Delicias in the direction of the train station and find myself at Santa Lucia. I go all the way round it again and connect with three German-speaking boys who tell me that the promontory was once a Spanish fortification. The eldest, about fourteen years old, speaks sweetly and politely and, shaking my hand, wishes me a good trip. The other two know Tzschentke; he is their director. I would have also located the Calle Lira, but I did not dare go there at dusk; {64} it is suburban, poorly lit, with few pedestrians, for sure not an “elegant” area – for this undertaking I need accompaniment! —

I then pass by the National Library and address two young men who understand a little English. From what they say, I gather that the rooms are still open and I go in. A thoroughly suave reception in the gigantic bleak building. I am consolingly referred to a lady who speaks good German, and who comes promptly: a Chilean of German parentage. We look for Schenker in the various encyclopedias, but the latest editions are missing. 1 The young lady shows me, proudly and with the greatest respect, the various reading rooms: a book room, newspaper room, Italian room; as the lamps have already been turned off, I cannot view the children’s room. The building dates from 1928; an annex has remained three-quarters complete – a crisis here, too. The lady proudly tells me that there are 50,000 books here, that Chileans are very thirsty for knowledge, and that even small children read fluently and with enthusiasm. This lady, too, knows Mrs. Kiesling, in whose house “puppet shows …”, etc. (Mrs. Kögel also knows about this.) Santiago: a metropolis. – When one mentions “Vienna,” everyone becomes transfigured. —

I don’t get home until 7:45. — Why does one always become most eager when it is almost too late? {65} On the way home – it is much later than usual – I encounter many young people, who have just left their offices and shops. They are all very cheerful, very loud; I get the impression that the whole city, the whole country, is in a state of fermentation, whooshing like a young fermenting wine, as if these youths were innocently and unconsciously the material and the means of a becoming. And only because I know that they are all screaming for income and quick success, it rings unpleasantly in my ears. Does – could – a person live here who would be capable of dedicating himself to an idea, to some project, without constantly having an eye on earnings or success?

© Translation William Drabkin, 2024

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28. VII.

Wie gewöhnlich zur Post u. wie gewöhnlich vergebens. Im Postgebäude, mit einer hierorts ganz unbekannten Pünktlichkeit, Herr Dimand; geht mit mir in den Oberstock, wo wir ohne jede Schwierigkeit aus dem casilla-Buch die Wohn- {63} -ung des Victor Schiff ermitteln: Lira 107. Herr Dimand gibt mir seine Karte, „für den Fall, daß Sie etwas brauchen sollten“ – ein jüdisches Herz! — Gehe zu Calm u. Hirsch – Calm ist einer der Freundlichen, die mir in Not wie vom Himmel kamen u. ihr Spanisch liehen! – um mich zu empfehlen. Herr Calm empfängt mich sehr freundlich, ja herzlich in einem eleganten Salon – der war einst ein Mode-Atelier! Zeigt mir im Modellschrank viele Taschen u. erzählt, daß die sonst so aufgeputzte Chilenin eine ruhige, einfache Tasche liebt. Marke – nach Berliner Muster: „the Golden Arrow“.

Nach Tisch Antwort an Rosl mit Gratulation, dann eine Weile Ruhe, hernach trage ich den Brief zur Post (– Luftpost-Brief No 14!). Gehe dann Lira 107 suchen, begegne die Familie Levy, in ihrer Gesellschaft ein jüngerer Calm. Die Emigranten sind wie eine einzige große Familie, es ist noch genau so wie im Urwald: die Not schließt sie zur gemeinsamen Hilfe u. Abwehr zusammen. — Gehe dann die Delicias in der Richtung zum Bahnhof u. lande bei Santa Luzia. Gehe wieder ganz herum u. schließe mich drei deutsch sprechenden Knaben an, die mir erzählen, die Anhöhe sei eine spanische Festung gewesen. Der Aelteste, etwa 14jährig, spricht hübsch u. artig u. wünscht mir beim Händereichen eine gute Reise. Die anderen Beiden kennen Tzschentke, er ist ihr Direktor. Hätte auch Calle Lira ermittelt, mich aber in der Dämmerung nicht hineingewagt: {64} vorstadtmäßig, schlecht beleuchtet, wenig begangen, gewiß keine „elegante“ Gegend – zu diesem Unternehmen brauche ich Begleitung! —

Komme dann an der Nationalbibliothek vorüber u. spreche zwei junge Männer an, die ein wenig Englisch verstehen; ich entnehme ihrem Reden, daß die Säle noch geöffnet seien u. trete ein. Ganz weltmännischer Empfang in dem weiträumigen kahlen Hause, werde auf das Erscheinen einer Deutsch sprechenden Dame vertröstet, die auch bald ankommt, eine Chilenin, von deutschen Eltern stammend. 1 Wir suchen Schenker in den diversen Lexika, die neuen Auflagen fahlen aber. Die junge Dame zeigt stolz u. mit größtem Anstand die verschiedenen Säle, einen Bücher-, Zeitungs-, italienischen Saal, den Kindersaal kann ich, da die Lampen schon gelöscht sind, nur von außen sehen. Das Gebäude steht seit 1928, ein Anbau ist ¾ fertig steckengeblieben – Krise auch hier. Stolz erzählt mir die Dame, daß 50000 Bücher vorhanden seien, daß der Chilene sehr wißbegierig sei u. daß schon die Kleinen eifrigst u. fleißig lesen. Ich empfehle mich mit vielem Dank. Auch diese Dame kennt Frau von Kiesling, in deren Hause „Puppenspiele …“ usw. (Auch Frau v. Koegel weiß davon.) Santiago – ein Großdorf! – Wenn man sagt „Wien“ verklären sich alle Mienen. —

Ich komme erst um ¾8h im Hause an. — Warum wird man immer am eifrigsten, wenn es beinahe schon zu spät ist? Auf {65} dem Heimweg, es ist viel später als sonst, begegne ich sehr vielen jungen Leuten, die eben die Büros u. Geschäftsladen verlassen haben, alle sind lustig, sehr laut, ich habe den Eindruck, als wäre die ganze Stadt, das ganze Land in Gärung, es saust wie junger gärender Wein – als wäre diese Jugend, unwissend u. unbewußt, Werkzeug u. Material eines Werdens, u. nur weil ich weiß, daß Alle nur nach Verdienen u. raschem Erfolg schreien, gellt es mir widerlich ins Ohr. Lebt hier ein Mensch, kann her hier leben, der Alles für eine Idee, für einen Stoff zu opfern fähig wäre, ohne nach Ertrag oder Erfolg zu schielen?

© Transcription William Drabkin, 2024

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July 28

To the post office, as usual; and, as usual, in vain. In the post office building, Mr. Dimand, with a punctuality that is entirely unknown in this part of the world. He goes with me to the upper floor where, without any difficulty, we learn Victor Schiff’s address from the mailbox register: Lira 107. {63} Mr. Dimand gives me his calling card, “in case you should need anything” – a Jewish heart! — I go to Calm and Hirsch – Calm is one of those friendly people who came to me, as if from Heaven, in times of need and helped me with their knowledge of Spanish! – to say goodbye. Mr. Calm receives me very courteously, even cordially, in an elegant salon that was once a fashion studio! He shows me many handbags in the sample cupboard and says that Chilean women, who are otherwise so dressed up, prefer a simple, understated handbag. Brand: “The Golden Arrow.”

After lunch, a reply to Rosl with congratulations, then a bit of rest; then I take the letter to the post office: airmail letter No. 14. I then look for Lira 107; I meet the Levy family, among them a younger member of the Calm family. The emigrés are like one large family; it is still the same, as in a primeval forest: need brings everyone to common help and defense. — I then go along the Avenida de las Delicias in the direction of the train station and find myself at Santa Lucia. I go all the way round it again and connect with three German-speaking boys who tell me that the promontory was once a Spanish fortification. The eldest, about fourteen years old, speaks sweetly and politely and, shaking my hand, wishes me a good trip. The other two know Tzschentke; he is their director. I would have also located the Calle Lira, but I did not dare go there at dusk; {64} it is suburban, poorly lit, with few pedestrians, for sure not an “elegant” area – for this undertaking I need accompaniment! —

I then pass by the National Library and address two young men who understand a little English. From what they say, I gather that the rooms are still open and I go in. A thoroughly suave reception in the gigantic bleak building. I am consolingly referred to a lady who speaks good German, and who comes promptly: a Chilean of German parentage. We look for Schenker in the various encyclopedias, but the latest editions are missing. 1 The young lady shows me, proudly and with the greatest respect, the various reading rooms: a book room, newspaper room, Italian room; as the lamps have already been turned off, I cannot view the children’s room. The building dates from 1928; an annex has remained three-quarters complete – a crisis here, too. The lady proudly tells me that there are 50,000 books here, that Chileans are very thirsty for knowledge, and that even small children read fluently and with enthusiasm. This lady, too, knows Mrs. Kiesling, in whose house “puppet shows …”, etc. (Mrs. Kögel also knows about this.) Santiago: a metropolis. – When one mentions “Vienna,” everyone becomes transfigured. —

I don’t get home until 7:45. — Why does one always become most eager when it is almost too late? {65} On the way home – it is much later than usual – I encounter many young people, who have just left their offices and shops. They are all very cheerful, very loud; I get the impression that the whole city, the whole country, is in a state of fermentation, whooshing like a young fermenting wine, as if these youths were innocently and unconsciously the material and the means of a becoming. And only because I know that they are all screaming for income and quick success, it rings unpleasantly in my ears. Does – could – a person live here who would be capable of dedicating himself to an idea, to some project, without constantly having an eye on earnings or success?

© Translation William Drabkin, 2024

Footnotes

1 Jeanette may have been thinking of the Enciclopedia Universal (Madrid), in which an entry on “Enrique Schenker” had appeared a few years before.