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OJ 13/37, 5 - Handwritten letter from Ernst Rudorff to Schenker, dated November 21, 1908
Endlich muß ich Ihnen doch, wenn auch nur mit einem kurzen Wort, danken für Ihren letzten Brief, 2 der, wie Alles, was von Ihnen kommt, Freude und Anregung in Fülle brachte. Seitdem Sie mir schrieben, bin ich längst hierher zurückgekehrt, und wenn auch meine leichte Thätigkeit, dank meiner leidigen Gesundheitsverhältnisse, eingeschränkt genug ist, so bringt doch der Ort {2} an sich, selbst einem Einsiedler, wie ich es bin, Unruhe genug, um das vorhandene Maß der Leistungsfähigkeit bald genug zu erschöpfen. ‒ 3 Ich habe angefangen, Ihre Harmonielehre von Anfang an gründlich zu lesen, und wenn ich auch bisher nur das erste Drittel um etwas überschritten habe, 4 so genügt das doch, um Ihnen zu sagen, wie außerordentlich geistvoll und überzeugend ich Ihre Behandlung des Gegenstandes finde. Um nur Eines herauszugreifen, will ich erwähnen, als wie vortrefflich ich die Abfertigung des {3} Aberglaubens an d erie alten Kirchentonarten begrüße. Ich konnte niemals mit meinem lieben Freund Spitta über dieses Thema ins Reine kommen, aber durchaus nicht zugeben wollte, daß es sich dabei nur um embrÿonische Zustände der musikalischen Erkenntnis handelt, wie das doch offenbar der Fall ist, und von Ihnen so schlagend nachgewiesen wird. Über Anderes spreche ich gern mit Ihnen mündlich. Restlos erklären läßt sich doch aber nicht Alles. [cued from left margin, written top-to-bottom:] s. z.B. das unentbehrliche Dur des Dominantdreiklanges in Moll ‒ für die Cadenz, während Sie mit Recht behaupten, daß die [?Valuten] 5 einen Molldreiklang [?enthalten] müßten. [end cue] Sie schreiben auf der letzten Seite Ihres letzten Briefes: {4} „Doch freilich hat Wagner die Ohren der jetzigen neuen Generationen so sehr verdorben, daß kaum mehr eine Regeneration, ein status quo ante 6 zu erreichen, geschweige denn ein Überschreiten zu erhoffen ist“. Dazu möchte ich sagen, daß die Antwort auf Wagner thatsächlich doch bereits durch Brahms ‒ freilich nicht auf dem Gebiet der Oper ‒ gegeben ist, der um zwei Jahrzehnte später als Wagner geboren, nachdem längst der Parsifal in Bayreuth flimmerte, unbekümmert darum reinste, reifste Kunstwerke schuf und in die Welt gehen ließ. Heute jedoch ist in {5} der That wohl schwerlich eine neue überragend schöpferische Erscheinung zu erwarten, und dies meines Erachtens zwar deshalb, weil die allgemeine Zersetzung auf sozialem und moralischem Gebiet allzu weit gediehen ist, um schöpferische Begeisterung entstehen und gedeihen zu lassen. Wohl dagegen halte ich es für möglich, daß die Kritik einsetzt, und daß eine schonungslose Aufdeckung der Schäden auf künstlerischem Gebiet eine Regeneration der Erkenntnis herbeiführen könnte. So war es, {6} als Winckelmann um die Mitte des 18n Jahrhunderts gegen die Schule Berninis in der Skulptur zu Felde zog, und damit erst einmal den Boden reinigte, auf dem nach Jahrzehnten eine neuere Kunst wieder aufkeimen konnte. Warum soll es Ihnen nicht gelingen, Wagner mitsammt dem Troß seiner Nachfolger in der öffentlichen Meinung zu entthronen? Warum soll es nicht möglich sein, in diesem Sinn den status quo ante wiederherzustellen, da die Wahrheit mit {7} Ihnen mit Ihnen [sic] im Bunde ist, und alle Lüge doch endlich einmal durch die Geschichte zu Schanden gemacht wird? — Nun habe ich doch wieder viel mehr geschwazt, als ich wollte. Nehmen Sie zum Schluß nun noch herzlichem Gruß © Transcription Ian Bent, William Drabkin and Andrea Reiter, 2017 |
I must at long last thank you, if only by way of a brief note, for your latest letter, 2 which, as with everything I receive from you, brought me joy and exhilaration in full measure. Since then you wrote to me , I have been back here some time, and even though my modest level of activity is restricted enough, thanks to my worrisome state of health, the place {2} in itself really does give rise ‒ even in a recluse such as me — to enough anxiety to very quickly exhaust my capacity to accomplish anything. 3 I have begun reading your Theory of Harmony closely, starting from the beginning, and although I have so far got only a little beyond the first third, 4 that nevertheless suffices for me to tell you how extraordinarily intellectually engaging and persuasive I find your treatment of the subject matter. To pick out just one thing, I will mention how greatly I welcome your dispatching of {3} the superstition surrounding all the church modes. I could never come to terms with my dear friend Spitta over this topic, but absolutely didn't want to admit that it was only a matter of embryonic circumstances of musical knowledge, as is clearly the case, and as is so strikingly proven by you. About other matters I would gladly speak with you in person. But not everything is completely explained, [cued from left margin, written top-to-bottom:] such as, for example, the indispensable major of the dominant triad in the minor key ‒ for cadential purposes, whereas you rightly assert that the [unknown word] 5 would have to [?retain] a minor triad. [end cue] You write on the last page of your letter: {4} "But, admittedly, Wagner has so severely ruined the ears of today's the new generations that there is scarcely any longer any hope that a regeneration ‒ a status quo ante 6 ‒ could be achieved, let alone a surpassing [of it]." To that I should like to say that the reply on Wagner has in fact already been given ‒ admittedly not in the field of opera ‒ by Brahms who, born some two decades later than Wagner, after Parsifal had long glittered in Bayreuth, and unconcerned by that fact, created the purest, ripest works of art and released them into the world. Today, however, {5} a new, preeminently creative phenomenon is hardly to be expected, and this, in my opinion, is wholly because the general disintegration in the social and moral realm is all too far advance to allow creative impetus to ignite and to flourish. On the other hand, I do consider it possible that the critics could mobilize, and that an unsparing disclosure of the damage in the realm of art, could bring about a regeneration of awareness. Thus it was {6} when Winckelmann in the middle of the 18th century waged war against the Bernini School in sculpture, thereby first purifying the soil so that after several decades a new art could germinate and once again blossom. Why should you not succeed in dethroning Wagner in public opinion along with the baggage of his adherents? Why should it not be possible in this sense to reestablish the status quo ante, for truth is {7} on your side, and ultimately all the lies will be brought to shame in the light of history. Now I have once again prattled on for much longer than I intended. Please accept as I close the cordial greetings of © Translation Ian Bent, 2017 |
Endlich muß ich Ihnen doch, wenn auch nur mit einem kurzen Wort, danken für Ihren letzten Brief, 2 der, wie Alles, was von Ihnen kommt, Freude und Anregung in Fülle brachte. Seitdem Sie mir schrieben, bin ich längst hierher zurückgekehrt, und wenn auch meine leichte Thätigkeit, dank meiner leidigen Gesundheitsverhältnisse, eingeschränkt genug ist, so bringt doch der Ort {2} an sich, selbst einem Einsiedler, wie ich es bin, Unruhe genug, um das vorhandene Maß der Leistungsfähigkeit bald genug zu erschöpfen. ‒ 3 Ich habe angefangen, Ihre Harmonielehre von Anfang an gründlich zu lesen, und wenn ich auch bisher nur das erste Drittel um etwas überschritten habe, 4 so genügt das doch, um Ihnen zu sagen, wie außerordentlich geistvoll und überzeugend ich Ihre Behandlung des Gegenstandes finde. Um nur Eines herauszugreifen, will ich erwähnen, als wie vortrefflich ich die Abfertigung des {3} Aberglaubens an d erie alten Kirchentonarten begrüße. Ich konnte niemals mit meinem lieben Freund Spitta über dieses Thema ins Reine kommen, aber durchaus nicht zugeben wollte, daß es sich dabei nur um embrÿonische Zustände der musikalischen Erkenntnis handelt, wie das doch offenbar der Fall ist, und von Ihnen so schlagend nachgewiesen wird. Über Anderes spreche ich gern mit Ihnen mündlich. Restlos erklären läßt sich doch aber nicht Alles. [cued from left margin, written top-to-bottom:] s. z.B. das unentbehrliche Dur des Dominantdreiklanges in Moll ‒ für die Cadenz, während Sie mit Recht behaupten, daß die [?Valuten] 5 einen Molldreiklang [?enthalten] müßten. [end cue] Sie schreiben auf der letzten Seite Ihres letzten Briefes: {4} „Doch freilich hat Wagner die Ohren der jetzigen neuen Generationen so sehr verdorben, daß kaum mehr eine Regeneration, ein status quo ante 6 zu erreichen, geschweige denn ein Überschreiten zu erhoffen ist“. Dazu möchte ich sagen, daß die Antwort auf Wagner thatsächlich doch bereits durch Brahms ‒ freilich nicht auf dem Gebiet der Oper ‒ gegeben ist, der um zwei Jahrzehnte später als Wagner geboren, nachdem längst der Parsifal in Bayreuth flimmerte, unbekümmert darum reinste, reifste Kunstwerke schuf und in die Welt gehen ließ. Heute jedoch ist in {5} der That wohl schwerlich eine neue überragend schöpferische Erscheinung zu erwarten, und dies meines Erachtens zwar deshalb, weil die allgemeine Zersetzung auf sozialem und moralischem Gebiet allzu weit gediehen ist, um schöpferische Begeisterung entstehen und gedeihen zu lassen. Wohl dagegen halte ich es für möglich, daß die Kritik einsetzt, und daß eine schonungslose Aufdeckung der Schäden auf künstlerischem Gebiet eine Regeneration der Erkenntnis herbeiführen könnte. So war es, {6} als Winckelmann um die Mitte des 18n Jahrhunderts gegen die Schule Berninis in der Skulptur zu Felde zog, und damit erst einmal den Boden reinigte, auf dem nach Jahrzehnten eine neuere Kunst wieder aufkeimen konnte. Warum soll es Ihnen nicht gelingen, Wagner mitsammt dem Troß seiner Nachfolger in der öffentlichen Meinung zu entthronen? Warum soll es nicht möglich sein, in diesem Sinn den status quo ante wiederherzustellen, da die Wahrheit mit {7} Ihnen mit Ihnen [sic] im Bunde ist, und alle Lüge doch endlich einmal durch die Geschichte zu Schanden gemacht wird? — Nun habe ich doch wieder viel mehr geschwazt, als ich wollte. Nehmen Sie zum Schluß nun noch herzlichem Gruß © Transcription Ian Bent, William Drabkin and Andrea Reiter, 2017 |
I must at long last thank you, if only by way of a brief note, for your latest letter, 2 which, as with everything I receive from you, brought me joy and exhilaration in full measure. Since then you wrote to me , I have been back here some time, and even though my modest level of activity is restricted enough, thanks to my worrisome state of health, the place {2} in itself really does give rise ‒ even in a recluse such as me — to enough anxiety to very quickly exhaust my capacity to accomplish anything. 3 I have begun reading your Theory of Harmony closely, starting from the beginning, and although I have so far got only a little beyond the first third, 4 that nevertheless suffices for me to tell you how extraordinarily intellectually engaging and persuasive I find your treatment of the subject matter. To pick out just one thing, I will mention how greatly I welcome your dispatching of {3} the superstition surrounding all the church modes. I could never come to terms with my dear friend Spitta over this topic, but absolutely didn't want to admit that it was only a matter of embryonic circumstances of musical knowledge, as is clearly the case, and as is so strikingly proven by you. About other matters I would gladly speak with you in person. But not everything is completely explained, [cued from left margin, written top-to-bottom:] such as, for example, the indispensable major of the dominant triad in the minor key ‒ for cadential purposes, whereas you rightly assert that the [unknown word] 5 would have to [?retain] a minor triad. [end cue] You write on the last page of your letter: {4} "But, admittedly, Wagner has so severely ruined the ears of today's the new generations that there is scarcely any longer any hope that a regeneration ‒ a status quo ante 6 ‒ could be achieved, let alone a surpassing [of it]." To that I should like to say that the reply on Wagner has in fact already been given ‒ admittedly not in the field of opera ‒ by Brahms who, born some two decades later than Wagner, after Parsifal had long glittered in Bayreuth, and unconcerned by that fact, created the purest, ripest works of art and released them into the world. Today, however, {5} a new, preeminently creative phenomenon is hardly to be expected, and this, in my opinion, is wholly because the general disintegration in the social and moral realm is all too far advance to allow creative impetus to ignite and to flourish. On the other hand, I do consider it possible that the critics could mobilize, and that an unsparing disclosure of the damage in the realm of art, could bring about a regeneration of awareness. Thus it was {6} when Winckelmann in the middle of the 18th century waged war against the Bernini School in sculpture, thereby first purifying the soil so that after several decades a new art could germinate and once again blossom. Why should you not succeed in dethroning Wagner in public opinion along with the baggage of his adherents? Why should it not be possible in this sense to reestablish the status quo ante, for truth is {7} on your side, and ultimately all the lies will be brought to shame in the light of history. Now I have once again prattled on for much longer than I intended. Please accept as I close the cordial greetings of © Translation Ian Bent, 2017 |
Footnotes1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 1/7, p. 93, November 23, 1908: "Brief von Prof. Rudorff. Der gute Alte wünscht mir die Rolle u. den Erfolg Winkelmanns, der dem Klassizimus den Weg geebnet hat" ("Letter from Professor Rudorff. The good old fellow wishes me the role and success of Winkelmann, who smoothed the way to Classicism."). — An excerpt from this letter ("Dazu möchte ich ... Schander gemacht wird?") is transcribed by Federhofer in Heinrich Schenker nach Tagebüchern ... (Hildesheim: Georg Olms, 1985), pp. 205‒06, and this served as an initial basis for the present transcription of that section. — The document numbers for OJ 13/37 (1‒15) were established by Oswald Jonas in his inventory of the Schenker/Rudorff correspondence at OJ 59/15. 2 = OJ 5/35, [4], [October 11?,] 1908. 3 Rudorff writes an em-dash at this point, and then writes continuously without paragraph-break. 4 "Das erste Drittel": the body of Harmonielehre comprises 452 pages and is divided into two: the "theoretical" and "practical" parts. The first of these is twice as long as the second, and is itself divided into two sections, the first dealing with tonal systems and comprising pp. 3‒150. Thus Rudorff probably means that he has finished reading the first section and has embarked on the second, concerning intervals and harmonies. 5 The reading is difficult: Valuta, Valuten, Waluta, Waluten, Woluta, Woluten? And its meaning here is obscure. "Valuta" means "value", and can refer to a currency (usually foreign). or to an exchange rate. 6 "status quo ante": Schenker uses this Latin phrase again below, and also in OJ 5/35, [4], to which the present letter is an answer. |
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Commentary
Digital version created: 2017-12-07 |