Geliebter Meister! 1

Wenn ich Ihnen jetzt schreibe, so geschieht es aus dem Empfinden heraus, dass zwischen zwei sich nahestehenden Menschen alles deutlich und klar sein muss, alles das zur Verhütung eines Missverständnisses, das an sich wieder eine Trübung mit sich bringen könnte. Und dass ich Ihnen nahestehe werden Sie wohl selbst wissen, liebster Doktor, dass ich in Ihnen gleichsam meinen „geistigen Erzeuger“ sehe, wohl verstehen! Was also mein Begehren, was die Ursache einer so langen Einleitung sei? Bevor ich Ihnen die Antwort auf diese Frage gebe, muss ich Sie bitten, das folgende als Äusserung eines sehr empfindsamen Seele anzusehen und darin nur das Bedürfnis eines völligen Ehrlichkeitsgefühls Ihnen gegenüber zu erkennen. Ich habe also tatsächlich von Woche zu Woche im Verkehre mit Ihnen meinen Fortschritten folgen können und habe Sie als meinen guten Genius zu nennen mir angewöhnt. Ging ich auf der Gasse, war ich inmitten der Arbeit – kurz bei jeder geistigen Tätigkeit habe ich Zwiesprache mit Ihnen gehalten, indem ich in Ihnen die höchste Instanz, den Zensor meiner Arbeit empfand und stets mit fragenden Blicken zu Ihnen aufsah! Könnte es Sie also wundern, wenn ich bei einem solch regen Verkehr bald aufhörte[,] den Lehrer und Meister in Ihnen zu erblicken, sondern auch das Bedürfnis fand, Sie wie einen Freund zu lieben, und dies so edel und schön als es einer Menschenseele nur gegeben ist!?

{2} Sei’s mit Recht oder Unrecht, hat nun mein wachsendes Gefühl auch bei Ihnen einen [sic] sich mehrendes Interesse zu vernehmen ge freut meint , das nur die grösste Freude ab bereitete und als schönste Erwerbung, als Verdienst meines bisherigen Strebens schien. Nun hat sich die Sonne verdüstert und an ihr freilich liegt es mich wieder froh und arbeitslustig zu machen. Ich habe nun nämlich ein wenig befürchtet, dass wenn der kleine Hupka 2 begabter wäre, wie als ich, sich Ihr Interesse doch, was sehr leicht begreiflich wäre, von mir langsam zu ihm wenden würde, und ich tatsächlich hier einen doppelter Verlust[,] den des Lehrers und den des Freundes [–] zu erleiden hätte!

Dies die Sorge, die mich nun ganz traurig und arbeitsmüde gemacht hat! Nehmen Sie’s nur nicht übel!

Nehmen Sie’s infantil, stult, 3 feminin, liebster Doktor[,] es war die Äusserung eines ehrlichen Gefühls


von Ihrem
[signed:] Hans.
1. Juni, 1912.

© Transcription Ian Bent and William Drabkin, 2007



Beloved Master 1

If I am writing to you now, it is from the feeling that, between two persons who are close to one another, everything must be clear and open, to guard against any misunderstanding that might result in a further clouding of their relationship. And that I stand in a close relation to you is something, dearest Doctor, that you yourself know; that I see in you my "spiritual creator," so to speak, is something you understand well. What, then, is my request, what might be the cause of such a long introduction? Before I give you the answer to this question, I must ask you to regard the following as the expression of a very sensitive soul and to recognize therein the need for a complete sense of honesty on your part. I have indeed been able to follow my progress from week to week in my work with you and have grown accustomed to calling you my good genius. If I was walking down the street, or in the midst of work ‒ in short, during any spiritual activity ‒ I held a dialogue with you, since I saw in you the highest authority, the censor of my work, and I always looked up to you with questioning glances! Could you be surprised, then, if after such a close association I were soon to cease merely to regard you as my teacher and master, but also found the need to love you as a friend, and to do so as nobly and beautifully as a human soul possibly can!?

{2} Rightly or wrongly, my growing feelings led me to be glad believe that I could perceive an increasing interest on your part, that brought only the greatest joy and seemed to be the most beautiful acquisition, as the earnings of my previous efforts. Now the sun has cast a shadow, and it is up to her to make me happy and keen to work once more. I have in fact feared that, if the little Hupka 2 were more gifted than I, your interest would after all ‒something that would be easily understandable ‒ turn aside from me toward him, and I would have to suffer a double loss, that of a teacher and that of a friend!

This is the concern that has made me so sad and work-weary now! But please do not think badly of me on account of it!

You may regard it as infantile, foolish, 3 feminine, dearest Doctor: it was the expression of an honest feeling


from your
[signed:] Hans
June 1, 1912

© Translation William Drabkin, 2007



Geliebter Meister! 1

Wenn ich Ihnen jetzt schreibe, so geschieht es aus dem Empfinden heraus, dass zwischen zwei sich nahestehenden Menschen alles deutlich und klar sein muss, alles das zur Verhütung eines Missverständnisses, das an sich wieder eine Trübung mit sich bringen könnte. Und dass ich Ihnen nahestehe werden Sie wohl selbst wissen, liebster Doktor, dass ich in Ihnen gleichsam meinen „geistigen Erzeuger“ sehe, wohl verstehen! Was also mein Begehren, was die Ursache einer so langen Einleitung sei? Bevor ich Ihnen die Antwort auf diese Frage gebe, muss ich Sie bitten, das folgende als Äusserung eines sehr empfindsamen Seele anzusehen und darin nur das Bedürfnis eines völligen Ehrlichkeitsgefühls Ihnen gegenüber zu erkennen. Ich habe also tatsächlich von Woche zu Woche im Verkehre mit Ihnen meinen Fortschritten folgen können und habe Sie als meinen guten Genius zu nennen mir angewöhnt. Ging ich auf der Gasse, war ich inmitten der Arbeit – kurz bei jeder geistigen Tätigkeit habe ich Zwiesprache mit Ihnen gehalten, indem ich in Ihnen die höchste Instanz, den Zensor meiner Arbeit empfand und stets mit fragenden Blicken zu Ihnen aufsah! Könnte es Sie also wundern, wenn ich bei einem solch regen Verkehr bald aufhörte[,] den Lehrer und Meister in Ihnen zu erblicken, sondern auch das Bedürfnis fand, Sie wie einen Freund zu lieben, und dies so edel und schön als es einer Menschenseele nur gegeben ist!?

{2} Sei’s mit Recht oder Unrecht, hat nun mein wachsendes Gefühl auch bei Ihnen einen [sic] sich mehrendes Interesse zu vernehmen ge freut meint , das nur die grösste Freude ab bereitete und als schönste Erwerbung, als Verdienst meines bisherigen Strebens schien. Nun hat sich die Sonne verdüstert und an ihr freilich liegt es mich wieder froh und arbeitslustig zu machen. Ich habe nun nämlich ein wenig befürchtet, dass wenn der kleine Hupka 2 begabter wäre, wie als ich, sich Ihr Interesse doch, was sehr leicht begreiflich wäre, von mir langsam zu ihm wenden würde, und ich tatsächlich hier einen doppelter Verlust[,] den des Lehrers und den des Freundes [–] zu erleiden hätte!

Dies die Sorge, die mich nun ganz traurig und arbeitsmüde gemacht hat! Nehmen Sie’s nur nicht übel!

Nehmen Sie’s infantil, stult, 3 feminin, liebster Doktor[,] es war die Äusserung eines ehrlichen Gefühls


von Ihrem
[signed:] Hans.
1. Juni, 1912.

© Transcription Ian Bent and William Drabkin, 2007



Beloved Master 1

If I am writing to you now, it is from the feeling that, between two persons who are close to one another, everything must be clear and open, to guard against any misunderstanding that might result in a further clouding of their relationship. And that I stand in a close relation to you is something, dearest Doctor, that you yourself know; that I see in you my "spiritual creator," so to speak, is something you understand well. What, then, is my request, what might be the cause of such a long introduction? Before I give you the answer to this question, I must ask you to regard the following as the expression of a very sensitive soul and to recognize therein the need for a complete sense of honesty on your part. I have indeed been able to follow my progress from week to week in my work with you and have grown accustomed to calling you my good genius. If I was walking down the street, or in the midst of work ‒ in short, during any spiritual activity ‒ I held a dialogue with you, since I saw in you the highest authority, the censor of my work, and I always looked up to you with questioning glances! Could you be surprised, then, if after such a close association I were soon to cease merely to regard you as my teacher and master, but also found the need to love you as a friend, and to do so as nobly and beautifully as a human soul possibly can!?

{2} Rightly or wrongly, my growing feelings led me to be glad believe that I could perceive an increasing interest on your part, that brought only the greatest joy and seemed to be the most beautiful acquisition, as the earnings of my previous efforts. Now the sun has cast a shadow, and it is up to her to make me happy and keen to work once more. I have in fact feared that, if the little Hupka 2 were more gifted than I, your interest would after all ‒something that would be easily understandable ‒ turn aside from me toward him, and I would have to suffer a double loss, that of a teacher and that of a friend!

This is the concern that has made me so sad and work-weary now! But please do not think badly of me on account of it!

You may regard it as infantile, foolish, 3 feminine, dearest Doctor: it was the expression of an honest feeling


from your
[signed:] Hans
June 1, 1912

© Translation William Drabkin, 2007

Footnotes

1 Receipt of this letter is not recorded in Schenker's diary.

2 Schenker's diary for June 30 (which seems to review the entire month), p. 204, records: "Aufnahme eines neuen Schülers, Felix Hupka, der sich zuerst an d’Albert wendete u. erst über dessen Empfehlung zu mir kam (Theorie u. Klavierspiel)[.]" ("Acceptance of a new pupil, Felix Hupka, who first turned to d'Albert, and only came to me (for theory and piano playing) after his recommendation.").

3 Possibly from Latin stultus, vain, silly, foolish.