14.
Der Regen dauert noch an. Brief von Hertzka OC 52/437, worin er in seiner geschäftsunklugen Weise auf dem unseligen Passus besteht. Sofort geantwortet, überzeugend, dennoch aber bereit, vom Vertrag zurückzutretenWSLB 130. — A propo [sic] Hertzka eine andere Probe geschäftlicher Klugheit: Ein weiblicher Gast des Hotels Latemar fordert am Tage nach der Abreise ein im Nachtkästchen liegengebliebenes Geldtäschchen mit größerem Geldbetrage ein. Der Hotelier antwortet, die Dame sollte den Finderlohn (!) einsenden. Sie übergibt nun einem Gensdarm 1 eben dieses Telegramm u. nun wissen es beide, Gensdarm wie Hotelier die Sache zu vertuschen u. im Antwortschreiben meinte letzterer, es sei ihm nur um die Vergütung der Telegrammspesen zu tun gewesen. Bedenkt man, daß die Dame Drahtantwort bezahlt hat, so ergiebt [sic] sich ein mindestens ein versuchter mehrfacher Betrug, den der Hotelier sicher auf das Konto seiner kaufmännischen „Tüchtigkeit“ gebucht hätte hatte. In Wahrheit reicht sein Verstand nicht einmal dazu aus , zu begreifen, daß eine solche Art, kleine Beträge herauszuschlagen, die Gäste, sofern sie davon erfahren, fernhält. *Es ist unangebracht sich auf die Wahrheit zu berufen, wenn man aus Unvermögen oder Unverstand gerade dasjenige zu tun versäumt, was eine gegebene Situation fordert. Gewiß ist das Unvermögen oder der Unverstand im Augenblick leider eine wahre Tatsache, aber darum allein bedeutet es nicht etwa schon eine Lüge oder eine Verstellung, wenn man gelernt hat, bezw. sich aufzwingt, das Gehörige zu machen. {219} Wäre es daher z. B. Erfordernis einer Situation einen Brief zu schreiben, so kann es niemals Lüge heißen, wenn jemand eben diesen Brief schreibt, obgleich er bis dahin aus eigenem die Notwendigkeit weder begriffen, noch gebilligt hat. Somit ist auch eine die abgerungene Pflichterfüllung noch nicht als eine Verstellung zu verstehen, vielmehr wirkt aus der Wahrheit der Situation heraus eben die Wahrheit auch auf das Abgerungene zurück. Und gerade durch Ueberwindung jener Mißverständnisse, die sich stets zwischen Menschen u. die Dinge schieben, gelangt man zum Besitz der Wahrheit, mochte man bis dahin die Mißverständnisse für Wahrheit genommen haben. *Die Liebe setzt die Fähigkeit eines gestaltenden Geistes voraus, findet sie doch von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde neue, wechselnde Situationen, die sie zu erledigen hat. Wer denn sonst aber als ein Dichter vermag Situationen des Lebens zu verstehen u. zu lösen? Das Grundgefühl der Neigung u. der Instinkte von Mensch zu Mensch, [sic] sind, sofern eine starke, schöpferische Kraft mangelt, der Aufgabe nicht gewachsen. Liebe ist Tat, nicht bloß in Worten erledigte Zärtlichkeit. Ein Tatenmensch also ist es, der wirklich lieb ten kann. Begabte Männer erfüllen die Liebe besser, als Frauen, die so gerne ihre Domäne darin erblicken. Die Aufgabe der Liebe ist dennoch mit den Situationen des Lebens wechselnd u. offenbar liegt es in den so wechselnden Aufgaben, daß die Menschen sie ebenso wenig zu beherrschen vermögen, wie z. B. die wechselnden Aathmosphärischen Ereignisse. *Just die Uunbegabtesten unter den Männern verfügen in ihren Eigenschaft [sic] als Richter, Anwälte u. Aerzte unmittelbar über unsere Ehre, Geld u. Gesundheit. Die Begabteren u. Begabtesten schweben hoch oben, dem un- {220} mittelbar dringendem [sic] Bedürfnis der Menschheit derart entrückt, daß sie außer Stande sind, die Fehler der ersteren zu corrigieren. Was nützt z. B. alle Gelehrsamkeit, aller Geist eines Jhering, wenn man niemals in die Lage kommen kann, gerade aus seinem Munde ein Urteil entgegen zu nehmen? 2 *© Transcription Marko Deisinger. |
14.
The rain still persists. Letter from Hertzka OC 52/437, in which, in his business-wise foolish way, he insists on the deplorable clause. Immediately replied to, convincingly; but yet prepared to withdraw from the contractWSLB 130. — While on the subject of Hertzka, another test of business acumen: a female guest at the Hotel Latemar, on the day after her departure, demands the return of a little purse with a large sum of money, which had been left in her bedside cabinet. The hotelier replies, asking the lady to send the finder’s reward (!). She then hands this same telegram to a policeman, 1 and now the both of them, policeman and hotelier, are able to keep the matter a secret. In his reply, the latter says that it was done only to compensate the cost of the telegram. If one considers that the lady paid for her reply by wire, then the result is at least an attempt at multiple deception, which the hotelier surely had ascribed to his business "acumen." In reality, his [business] sense does not even extend to the point of realizing that such a practice of extracting small sums of money will only keep his guests away once they hear about it. *It is a mistake to appeal to the truth if one, whether from inability or ignorance, fails to do precisely that which a given situation demands. To be sure, the inability or ignorance of the moment is, unfortunately, a true fact; but on that account alone it does not already constitute a lie or a pretense if one has learned or one forces oneself to do that which is necessary. {219} Were it therefore, for example, the requirement of a situation to write a letter, then it can never be called a lie if someone actually writes this letter even if, up to that point, he has neither understood its necessity nor approved it himself. Thus, too, the fulfillment of a duty extracted from someone is still not to be understood as a pretense; rather, the very truth that arises from the truth of the situation has a retroactive effect on that which was extracted. And precisely by overcoming those misunderstandings that always occur between people and matters that arise, one gains possession of the truth even if those misunderstandings had previously been taken to be the truth. *Love presupposes the capability of a creative spirit; yet from day to day, from hour to hour, it finds new, changed situations that it has to take care of. Who, then, is capable of understanding and solving the situations of life besides a poet? In the absence of a strong, creative force, the underlying feeling of the tendency and the instincts from one person to another is not up to the task. Love is an act, not merely sweetness dispatched in words. A person who does things is, then, someone who is truly able to love. Gifted men fulfill [the requirements of] love better than women, who so readily perceive their territory to lie there. Nonetheless the obligations of love change with the situations of life; and apparently it is because the obligations change so much that people are so incapable of presiding over them – like, for example, the changing atmospheric conditions. *Precisely the least talented among people have, in their capacity as judges, lawyers, and doctors, unmediated control of our honor, money and health. The more gifted and most gifted soar far above, {220} so disconnected from the immediate needs of humanity that they are not in a position to correct the former. What is the use, for example, of all the learnedness, all the intellect of a Jhering, if one is never able to receive a judgment directly from his mouth? 2 *© Translation William Drabkin. |
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Der Regen dauert noch an. Brief von Hertzka OC 52/437, worin er in seiner geschäftsunklugen Weise auf dem unseligen Passus besteht. Sofort geantwortet, überzeugend, dennoch aber bereit, vom Vertrag zurückzutretenWSLB 130. — A propo [sic] Hertzka eine andere Probe geschäftlicher Klugheit: Ein weiblicher Gast des Hotels Latemar fordert am Tage nach der Abreise ein im Nachtkästchen liegengebliebenes Geldtäschchen mit größerem Geldbetrage ein. Der Hotelier antwortet, die Dame sollte den Finderlohn (!) einsenden. Sie übergibt nun einem Gensdarm 1 eben dieses Telegramm u. nun wissen es beide, Gensdarm wie Hotelier die Sache zu vertuschen u. im Antwortschreiben meinte letzterer, es sei ihm nur um die Vergütung der Telegrammspesen zu tun gewesen. Bedenkt man, daß die Dame Drahtantwort bezahlt hat, so ergiebt [sic] sich ein mindestens ein versuchter mehrfacher Betrug, den der Hotelier sicher auf das Konto seiner kaufmännischen „Tüchtigkeit“ gebucht hätte hatte. In Wahrheit reicht sein Verstand nicht einmal dazu aus , zu begreifen, daß eine solche Art, kleine Beträge herauszuschlagen, die Gäste, sofern sie davon erfahren, fernhält. *Es ist unangebracht sich auf die Wahrheit zu berufen, wenn man aus Unvermögen oder Unverstand gerade dasjenige zu tun versäumt, was eine gegebene Situation fordert. Gewiß ist das Unvermögen oder der Unverstand im Augenblick leider eine wahre Tatsache, aber darum allein bedeutet es nicht etwa schon eine Lüge oder eine Verstellung, wenn man gelernt hat, bezw. sich aufzwingt, das Gehörige zu machen. {219} Wäre es daher z. B. Erfordernis einer Situation einen Brief zu schreiben, so kann es niemals Lüge heißen, wenn jemand eben diesen Brief schreibt, obgleich er bis dahin aus eigenem die Notwendigkeit weder begriffen, noch gebilligt hat. Somit ist auch eine die abgerungene Pflichterfüllung noch nicht als eine Verstellung zu verstehen, vielmehr wirkt aus der Wahrheit der Situation heraus eben die Wahrheit auch auf das Abgerungene zurück. Und gerade durch Ueberwindung jener Mißverständnisse, die sich stets zwischen Menschen u. die Dinge schieben, gelangt man zum Besitz der Wahrheit, mochte man bis dahin die Mißverständnisse für Wahrheit genommen haben. *Die Liebe setzt die Fähigkeit eines gestaltenden Geistes voraus, findet sie doch von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde neue, wechselnde Situationen, die sie zu erledigen hat. Wer denn sonst aber als ein Dichter vermag Situationen des Lebens zu verstehen u. zu lösen? Das Grundgefühl der Neigung u. der Instinkte von Mensch zu Mensch, [sic] sind, sofern eine starke, schöpferische Kraft mangelt, der Aufgabe nicht gewachsen. Liebe ist Tat, nicht bloß in Worten erledigte Zärtlichkeit. Ein Tatenmensch also ist es, der wirklich lieb ten kann. Begabte Männer erfüllen die Liebe besser, als Frauen, die so gerne ihre Domäne darin erblicken. Die Aufgabe der Liebe ist dennoch mit den Situationen des Lebens wechselnd u. offenbar liegt es in den so wechselnden Aufgaben, daß die Menschen sie ebenso wenig zu beherrschen vermögen, wie z. B. die wechselnden Aathmosphärischen Ereignisse. *Just die Uunbegabtesten unter den Männern verfügen in ihren Eigenschaft [sic] als Richter, Anwälte u. Aerzte unmittelbar über unsere Ehre, Geld u. Gesundheit. Die Begabteren u. Begabtesten schweben hoch oben, dem un- {220} mittelbar dringendem [sic] Bedürfnis der Menschheit derart entrückt, daß sie außer Stande sind, die Fehler der ersteren zu corrigieren. Was nützt z. B. alle Gelehrsamkeit, aller Geist eines Jhering, wenn man niemals in die Lage kommen kann, gerade aus seinem Munde ein Urteil entgegen zu nehmen? 2 *© Transcription Marko Deisinger. |
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The rain still persists. Letter from Hertzka OC 52/437, in which, in his business-wise foolish way, he insists on the deplorable clause. Immediately replied to, convincingly; but yet prepared to withdraw from the contractWSLB 130. — While on the subject of Hertzka, another test of business acumen: a female guest at the Hotel Latemar, on the day after her departure, demands the return of a little purse with a large sum of money, which had been left in her bedside cabinet. The hotelier replies, asking the lady to send the finder’s reward (!). She then hands this same telegram to a policeman, 1 and now the both of them, policeman and hotelier, are able to keep the matter a secret. In his reply, the latter says that it was done only to compensate the cost of the telegram. If one considers that the lady paid for her reply by wire, then the result is at least an attempt at multiple deception, which the hotelier surely had ascribed to his business "acumen." In reality, his [business] sense does not even extend to the point of realizing that such a practice of extracting small sums of money will only keep his guests away once they hear about it. *It is a mistake to appeal to the truth if one, whether from inability or ignorance, fails to do precisely that which a given situation demands. To be sure, the inability or ignorance of the moment is, unfortunately, a true fact; but on that account alone it does not already constitute a lie or a pretense if one has learned or one forces oneself to do that which is necessary. {219} Were it therefore, for example, the requirement of a situation to write a letter, then it can never be called a lie if someone actually writes this letter even if, up to that point, he has neither understood its necessity nor approved it himself. Thus, too, the fulfillment of a duty extracted from someone is still not to be understood as a pretense; rather, the very truth that arises from the truth of the situation has a retroactive effect on that which was extracted. And precisely by overcoming those misunderstandings that always occur between people and matters that arise, one gains possession of the truth even if those misunderstandings had previously been taken to be the truth. *Love presupposes the capability of a creative spirit; yet from day to day, from hour to hour, it finds new, changed situations that it has to take care of. Who, then, is capable of understanding and solving the situations of life besides a poet? In the absence of a strong, creative force, the underlying feeling of the tendency and the instincts from one person to another is not up to the task. Love is an act, not merely sweetness dispatched in words. A person who does things is, then, someone who is truly able to love. Gifted men fulfill [the requirements of] love better than women, who so readily perceive their territory to lie there. Nonetheless the obligations of love change with the situations of life; and apparently it is because the obligations change so much that people are so incapable of presiding over them – like, for example, the changing atmospheric conditions. *Precisely the least talented among people have, in their capacity as judges, lawyers, and doctors, unmediated control of our honor, money and health. The more gifted and most gifted soar far above, {220} so disconnected from the immediate needs of humanity that they are not in a position to correct the former. What is the use, for example, of all the learnedness, all the intellect of a Jhering, if one is never able to receive a judgment directly from his mouth? 2 *© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Gensdarm: antiquated spelling of Gendarm (village policeman). 2 Schenker is referring to the moral and ethical issues that underpinned Rudolf von Jhering’s work and writings in jurisprudence. |