16. X. 1914
Ordentlicher Katzenjammer nach der doppelten Aushungerung bei Fl. 1 *Beim Polizei-Kommisariat [sic] erfahre ich, daß gegen Newlov’s „nichts Greifbares“ vorliegt, weshalb der Kommisär [sic] alle irgendwie noch verdächtigen Momente selbst zugunsten N. s abzuschwächen sich bemüht u. mir daher die Resultate, die er wünscht, förmlich in den Mund legt. Aus dem Bestreben heraus, ihm doch irgend einen Dienst zu erweisen, verstoße ich unwillkürlich gegen die Tendenz des Kommisärs, was ich nachträglich doch lebhaft als unangenehm empfinde. – Freilich hat meine Hausbesorgerin destomehr Lust gezeigt plötzlich eine wichtige Aktion zu entfalten. Die Vorladung hat ihr förmlich Größenwahn eingejagt; sie sagte, sie wäre sehr aufgeregt, „weil sie sich ja niemals mit Politik abgegeben habe“ oder: „sie hätte anders verfahren, wenn sie damals so aufgeklärt gewesen wäre, wie heute.“ Sie ließ sich sogar zu Fremdwörtern verleiten, um zu erklären wie z. B., daß Herr Haßbruna die deutsche Sprache nicht „reguliren“ könne! Sie ist ein typisches Beispiel für jener niedrigen Personen, die für einvernehmende Richter eine besondere Gefahr bilden, weil sie als Zeugen vernommen am nNeuartigen der Situation sich derart berauschen, daß sie ihre Rolle überlebensgroß auffassen u. die harmlosesten Dinge in einem Ton vorzugeben verstehen, der den Richtern zweifellos falsche Vorstellungen beibringen muß. *Breisach erscheint wieder zur Stunde. Die Erklärung der berüchtigten Stelle in der Durchfg., wo Beeth. sich anschickt, die Reprise zurückzugewinnen[,] u. speziell der Triole in Entstehung u. {744} Wirkung, 2 hat ihn derart bewegt, daß er ebenso naiv als treuherzig die Frage an mich richtet, womit es zusammenhänge, daß nur ich allein darüber Aufklärung geben könne, ob es an der Arbeit oder am Talent liege, u. s. f. In meiner Antwort betonte ich vor allem die Erscheinung, die Br. nunmehr an Weingartner bestätigt finden konnte, daß jedes geniale Erzeugnis irgend ein letztes Verborgenes enthalte, dem sich die meisten Menschen nur wenig nähern können u. selbst diejenigen, die scheinbar in die nächste Nähe gekommen sind, noch immer fern genug bleiben. Damit wollte ich ihm einen Aufschluß über die wahre Tiefe der Dinge geben, an der allein es liege, daß das Talent sich ihr nicht nähern kann. Aber der Junge scheint den Hinweis auf die Sache noch nicht recht verstanden zu haben; u. mehr als die Sache scheint ihn der Mensch zu interessieren u. die Frage nach dessen Bewertung u. Rubrizierung. *Karte von Sophie mit Meldung, daß der Schwager die Stellung in Kaschau behält. *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 16, 1914.
A real hangover after the double starvation at Floriz's. 1 *At the police office I learn that they have "nothing concrete" against the Newlovs, for which reason the inspector is striving to weaken all the factors that would give rise to suspicion, even for the Nevlovs' sake; and thus he verily put the results that he is seeking into my mouth. But in the effort to be somehow of service to him, I accidentally rub against the inspector's bias, which I later sense actually to be rather unpleasant. – Admittedly, the caretaker had shown all the more interest in suddenly developing a significant action. The summons had verily jolted her into a state of megalomania; she said she was very excited "because she had never [before] been interested in politics" and "she would have behaved otherwise if things had been explained to her then, as they were today." She was even led astray by foreign words, for example, that Mr. Haßbruna could not "regulate" the German language! She is a typical example of those base people who create a particular danger for interrogating judges because, as witnesses, they get so intoxicated by the novelty of the situation that they imagine their role in it to be larger than life and present the most harmless things in a tone of voice that inevitably creates false pictures to the judges. *Breisach appears again for his lesson. The explanation of the notorious passage in the development section, where Beethoven prepares to regain the recapitulation, specifically from the emergence and effect of the triplet figure, 2 {744} moved him so much that, innocently and trustingly in equal measure, he puts the question as to why I alone could provide an answer, whether it was due to [my] work or talent, and so on. In my reply I stressed above all the phenomenon, which Breisach could also find confirmed by Weingartner, that every genius-endowed sign contains something ultimately concealed, which most people could only approach to a limited extent; and even those very people who appeared to come very close still always remained sufficiently far away. In this way, I wished to give some insight into the true depths of things about which it is merely the case that the talented person cannot approach it. But the boy seems not to have properly understood the reference to the matter; and he seemed more interested in the person than in the matter, and the question of his value and categorization. *Postcard from Sophie informing me that my brother-in-law is keeping his post in Kaschau. *
© Translation William Drabkin. |
16. X. 1914
Ordentlicher Katzenjammer nach der doppelten Aushungerung bei Fl. 1 *Beim Polizei-Kommisariat [sic] erfahre ich, daß gegen Newlov’s „nichts Greifbares“ vorliegt, weshalb der Kommisär [sic] alle irgendwie noch verdächtigen Momente selbst zugunsten N. s abzuschwächen sich bemüht u. mir daher die Resultate, die er wünscht, förmlich in den Mund legt. Aus dem Bestreben heraus, ihm doch irgend einen Dienst zu erweisen, verstoße ich unwillkürlich gegen die Tendenz des Kommisärs, was ich nachträglich doch lebhaft als unangenehm empfinde. – Freilich hat meine Hausbesorgerin destomehr Lust gezeigt plötzlich eine wichtige Aktion zu entfalten. Die Vorladung hat ihr förmlich Größenwahn eingejagt; sie sagte, sie wäre sehr aufgeregt, „weil sie sich ja niemals mit Politik abgegeben habe“ oder: „sie hätte anders verfahren, wenn sie damals so aufgeklärt gewesen wäre, wie heute.“ Sie ließ sich sogar zu Fremdwörtern verleiten, um zu erklären wie z. B., daß Herr Haßbruna die deutsche Sprache nicht „reguliren“ könne! Sie ist ein typisches Beispiel für jener niedrigen Personen, die für einvernehmende Richter eine besondere Gefahr bilden, weil sie als Zeugen vernommen am nNeuartigen der Situation sich derart berauschen, daß sie ihre Rolle überlebensgroß auffassen u. die harmlosesten Dinge in einem Ton vorzugeben verstehen, der den Richtern zweifellos falsche Vorstellungen beibringen muß. *Breisach erscheint wieder zur Stunde. Die Erklärung der berüchtigten Stelle in der Durchfg., wo Beeth. sich anschickt, die Reprise zurückzugewinnen[,] u. speziell der Triole in Entstehung u. {744} Wirkung, 2 hat ihn derart bewegt, daß er ebenso naiv als treuherzig die Frage an mich richtet, womit es zusammenhänge, daß nur ich allein darüber Aufklärung geben könne, ob es an der Arbeit oder am Talent liege, u. s. f. In meiner Antwort betonte ich vor allem die Erscheinung, die Br. nunmehr an Weingartner bestätigt finden konnte, daß jedes geniale Erzeugnis irgend ein letztes Verborgenes enthalte, dem sich die meisten Menschen nur wenig nähern können u. selbst diejenigen, die scheinbar in die nächste Nähe gekommen sind, noch immer fern genug bleiben. Damit wollte ich ihm einen Aufschluß über die wahre Tiefe der Dinge geben, an der allein es liege, daß das Talent sich ihr nicht nähern kann. Aber der Junge scheint den Hinweis auf die Sache noch nicht recht verstanden zu haben; u. mehr als die Sache scheint ihn der Mensch zu interessieren u. die Frage nach dessen Bewertung u. Rubrizierung. *Karte von Sophie mit Meldung, daß der Schwager die Stellung in Kaschau behält. *
© Transcription Marko Deisinger. |
October 16, 1914.
A real hangover after the double starvation at Floriz's. 1 *At the police office I learn that they have "nothing concrete" against the Newlovs, for which reason the inspector is striving to weaken all the factors that would give rise to suspicion, even for the Nevlovs' sake; and thus he verily put the results that he is seeking into my mouth. But in the effort to be somehow of service to him, I accidentally rub against the inspector's bias, which I later sense actually to be rather unpleasant. – Admittedly, the caretaker had shown all the more interest in suddenly developing a significant action. The summons had verily jolted her into a state of megalomania; she said she was very excited "because she had never [before] been interested in politics" and "she would have behaved otherwise if things had been explained to her then, as they were today." She was even led astray by foreign words, for example, that Mr. Haßbruna could not "regulate" the German language! She is a typical example of those base people who create a particular danger for interrogating judges because, as witnesses, they get so intoxicated by the novelty of the situation that they imagine their role in it to be larger than life and present the most harmless things in a tone of voice that inevitably creates false pictures to the judges. *Breisach appears again for his lesson. The explanation of the notorious passage in the development section, where Beethoven prepares to regain the recapitulation, specifically from the emergence and effect of the triplet figure, 2 {744} moved him so much that, innocently and trustingly in equal measure, he puts the question as to why I alone could provide an answer, whether it was due to [my] work or talent, and so on. In my reply I stressed above all the phenomenon, which Breisach could also find confirmed by Weingartner, that every genius-endowed sign contains something ultimately concealed, which most people could only approach to a limited extent; and even those very people who appeared to come very close still always remained sufficiently far away. In this way, I wished to give some insight into the true depths of things about which it is merely the case that the talented person cannot approach it. But the boy seems not to have properly understood the reference to the matter; and he seemed more interested in the person than in the matter, and the question of his value and categorization. *Postcard from Sophie informing me that my brother-in-law is keeping his post in Kaschau. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 See the diary entry for the previous day (October 15), and also an entry towards the end of the month (October 29). The "double starvation" refers to the sparseness of the meal and the lack of stimulating conversation. 2 Probably the first movement of the Piano Sonata in F minor, Op. 2, No. 1, in which the triplet sixteenth-note figure from the main theme, absent throughout the development, becomes the basis of a sequential passage leading to the recapitulation (mm. 95–100). This is a passage that Schenker returned to in his essay on the sonata in Der Tonwille, issue 2, particularly in connection with Hugo Riemann's apparent "misconception" of it (pp. 46–47; Eng. trans., vol. 1, pp. 92–93). |