6. VI. 16 Um ein weniges wärmer.
— Frau D. zu Tisch u. im Caféhaus. Ich erzähle ihr den Fall Stirling – Kahn u. Kahn – Elias, um ihre ständige Ausrede auf die Gedankenlosigkeit, die sie {280} zur Bemäntelung des Schmutzes benützt, zuschanden zu machen. — — Nachmittag Lebensmittel-Razzia in die Stadt. Im Laden des Bäckers Fritz hören wir, wie eine alte Jüdin im unverfälschten jüdischen Jargon besonders zudringlich wird wegen des Brotes, das sie nicht erhalten kann, u. immer wieder lautet der Refrain: „Ich gebe ’ Ihnen das Doppelte.“! — *In der Zeitung wird von der drittmaligen Bestrafung eines Bäckers erzählt, der sich auch selbst durch Strafen in der Höhe von 5000 Kronen nicht abschrecken ließ, entgegen d asem Verbot heimlich weißes Gebäck zu erzeugen. Offenbar tat er es einem hohen Gewinn zuliebe, den er von kaufkräftigen Zahlern (siehe die vorige Notiz!) bezog u. der ihm die jene Geldstrafe unverhältnismäßig klein u. erträglich erscheinen läßt ließ! — *Deutsche Lebensmittelhändler verkaufen Waren nach Dänemark, nur weil sie dort mehr, als an ihren eigenen in Not befindlichen Stammesgenossen verdienen. Des Kaufmannes Vaterland u. Heimat ist nicht eben nur dort, wo er für seine geringe Leistung so hoch als möglich bezahlt wird. Im engsten Sinne des Wortes freilich dient ist ihm die Bank als das Vaterland; von hier kommt er, dorthin geht er, womit zugleich der Sinn seines Lebens restlos erschöpft ist. *Der Zahlkellner unseres Caféhauses hat sich, obgleich noch nicht 50 Jahre alt, schon zu Ruhe gesetzt. Kein Kant, kein Goethe, kein Beethoven konnte es ihm nachmachen. — Auf Lie-Liechen wartend treffe ich in der Reisnerstraße meinen ehemaligen Schuhlieferanten Steier, der sich seit vielen Jahren ebenfalls zu Ruhe gesetzt hat. Er trug Cilinder [sic] u. schwarzen Rock u. kam, wie er erzählt „von der Leich’ des Schott, des Bindermeisters, den Sie doch g’wiß kennen.“ Daß doch die Schuster u. Bindermeister immer so viel Aufhebens machen von der „ewigen Ruhe“! Haben sie denn davon sie nicht bei Lebzeiten schon in Hülle u. Fülle? *{281} Angebot u. Nachfrage: Daß auf den Tisch des Kaufmannes konkurrierende Anbote kommen, braucht man ja nicht zu bezweifeln. Hebt aber Es fragt sich aber, ob dieser Vorteil der Kaufleute den Nachteil der Konsumenten aufhebt, die sich [sic] ja ähnliche Anbote niemals zu Gesicht kriegen u. [sich] auch niemals beschaffen können. Wenn Tritt der Konsument nur in einen Laden tritt, ist er sofort auf Gnade oder Ungnade der Lüge des Kaufmannes ausgesetzt u. er muß an Ort u. Stelle den Einkauf besorgen, wenn er nicht von Laden zu Laden konkurrierende Anbote erst sammeln will. Auf dem Wege vom Händler zum Konsumenten fallen eben daher alle Vorteile eventuelle nr Konkurrenzangebote lediglich in die Tasche der Händler. *Der deutsche Reichskanzler hält eine sehr bedeutungsvolle Rede, stellt die Parole des Weiterkämpfens bis zum endgiltigen Siege auf, nachdem die Gegner seine Friedensbereitschaft mit Hohn beantwortet haben. Er vers tetzt bei dieser Gelegenheit einen Fußtritt den Nationalen, die nicht nur seine Politik, sondern auch ihn persönlich in feigen anonymen Schmähschriften bekämpfen. 1 — *Der Cžechenführer Kramarž ist mit drei Genossen wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Dies war aber nur im „Pester Lloyd“ 2 u. in Rreichsdeutschen Blättern zu lesen. *Alle Blätter feiern den Gedenktag der Christiane Vulpius. 3 Lange genug wurde im Goethes Verhältnis zu ihr ein als schwerer Irrtum des Meisters gbefunden, der ihm nur um seiner Dichtergröße willen verziehen werden sollte. Das erste Urteil darüber erfloß freilich von den Damen der zeitgenössischen weimarer [sic] Gesellschaft u. bei diesen war es lediglich die Ueberhebung der Eitelkeit, die sie zur Annahme verleitete, daß objektiv auch Goethe müsse den großen Unterschied empfinden müsse, der zwischen ihnen, den Damen der Gesellschaft, u. einem Blumenmädchen, wie Christiane, besteht! Und selbst späterhin, als Goethe den Beweis erbrachte, {282} daß er einen solchen Unterschied überhaupt nicht anerkenne, u. daß er sich, wenn überhaupt nun ein Unterschied gemacht werden sollte, sich nur zugunsten Christianens entscheide – selbst dieser Beweis, der sich schon objektiv in dem viele Jahre dauernden Verhältnis u. der schließlichen Legalisierung desselben äußerte, vermochte in die Finsternis der Ueberhebung nicht kein Licht zu bringen. Die Literarhistoriker schl ieossen sich der Gesinnung verletzter Weiber an u. ließen ebenfalls die Kraft der Logik vermissen, daß die sie aus Goethes Leben Schlüsse zugunsten Christianens hätte ziehen lassen müssen. Nun wurde wird neuerdings in zwei Schriften eigens der Versuch gemacht, die Beziehung Goethes zu Christiane im Lichte der Wahrheit zu sehen. 4 Und da ein Gedenktag sentimentalen Regungen zugänglich macht, scheinen zumindest die referierenden Journalisten von heute endlich Goethe gegen seine Gesellschaft Recht zu geben. — *Von der Macht: Als künstliche Konstruktion macht die Kultur es notwendig, daß Menschen, die den Eingang zu ihr nicht aus eigenem finden, einer strengen Führung bedürfen. In diesem Sinne mag der Ursprung der Macht wohl zu allererst betrachtet werden. Je mehr sodann aber die Kultur differenziert wurde, eröffneten sich destomehr auch Schlupfwinkel für List u. Betrug, mit denen eine Macht usurpiert wurde, ohne daß ihr jeweils auch die grundlegende ethische Seite einer ersprießlichen Führerschaft zugrunde läge gelegen hätte. – Insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiete erwies sich die Macht als stets nur eine falsche Macht, die von den Zielen der Kultur wegführt, statt zuihrzuführen. — *Der Wilde vermag schon als Tier seine Bedürfnisse zu befriedigen u. hat daher alle Ursache, sich einer ihm etwa angebotenen Kultur feindlich gegenüberzustellen, die auch ihm [illeg]bestenfalls ihm doch auch nicht mehr zu bieten weiß, als Befriedigung seiner Bedürfnisse. Daher begreif te man auch die Kulturfeindlichkeit unserer der Wilden unter uns! Was kann denn auch ihnen die Kultur mehr geben, als was sie kraft Menschen-Tiertums schon aus eigenem erreichen können? {283} Daß der eigentliche Inhalt der Kultur aber in einer Ueberschreitung der leiblichen Bedürfnisse, also im Transzendentalem Transzendentalen liegt, können unsere Wilden ja ebensowenig wie die Wilden Afrikas oder Amerikas begreifen! — *Dr. Brünauer erschreckt mich in der Stunde durch Aeußerungen über den deutschen Seesieg, 5 die mich beinahe um seinen Geisteszustand bange [sic] machen. Indem er den Deutschen Eroberungsgelüste unterschiebt, konstruiert er eine Niederlage u. kann absolut nicht begreifen, wie Deutschlands Erfolge als Sieg wohl auch dann gewertet werden müßten, wenn sie den status quo ante gegenüber den Alliierten endgiltig behaupten würden, deren Ziele eingestandenermaßen auf Eroberung Konstantinopels, Zertrümmerung Oesterreich-Ungarns zugunsten Italiens u. eines großserbischen Staates, eines Groß-Rumäniens u. der Vernichtung Deutschlands hinausliefen! — *Eine neue Russische Offensive wird setzt kräftig einge, offenbar zur Entlastung Italiens u. Frankreichs. 6 Sie verläuft ergebnislos. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 6, 1916; a little warmer.
— Mrs. Deutsch at lunch and in the coffee house. I tell her the stories about Stirling and Kahn, and about Kahn and Elias, to wreck her constant excuse about thoughtlessness, which she uses to {280} disguise her [own] greed. — — In the afternoon, a food raid in the city. At the Fritz Bakery we hear how an old Jewess became particularly agitated, in unadulterated Jewish jargon, about the bread that she was unable to obtain and kept repeating the refrain: "I'll give you twice the price"! — *In a newspaper, the story is told of the third penalty received by a baker who, in spite of receiving fines of 5,000 Kronen, was not afraid of secretly making white bread in spite of the ban on it. Apparently he did so for sake of a high profit that he received from well-funded buyers (see the previous notice!) and because that the financial penalty seemed to him to be relatively small and tolerable! — *German food merchants are selling their wares to Denmark only because they can earn more there than from their own compatriots, who find themselves in difficulties. The businessman's homeland is not simply just where he can be paid as much as possible for his meager efforts; in the narrowest sense of the word, the bank is of course his fatherland. He comes from there, goes there; and in that way the meaning of his life is utterly consumed. *The head waiter at our coffee house, though not yet 50 years old, has already retired. No Kant, no Goethe, no Beethoven could match him. — While waiting for Lie-Liechen in the Reisnerstraße, I meet my former shoe supplier Steier, who has similarly been retired for many years. He was wearing a top hat and a black jacket and came, so he said, "from the funeral of the barrel maker Schott, whom you surely know." That even shoemakers and coopers are making such a fuss about "eternal peace"! Have they not had enough of this already during their lifetimes? *{281} Supply and demand: that competitive offers reach the businessman's desk is something one need not doubt; the question arises, however, whether this advantage to businessmen increases the disadvantage to consumers, who never get to see similar offers or create them. When a consumer merely enters a store, he is immediately exposed to the favor or disfavor of the businessman's lie; and he must take care of his purchase on the spot, unless he instead goes from store to store to collect competitive offers. Along the path from the dealer to the consumer, all the advantages of possible competitive offers simply fall into the dealer's pocket. *The German chancellor gives a very important speech, establishing the watchword of fighting on to the final victory, after his opponents replied to his readiness for peace with derision. He uses the occasion to respond to the kick from those nationals who not only oppose his politics but attack him personally in cowardly anonymous diatribes. 1 — *The Czech leader Kramarž has been sentenced to death, along with three comrades, for high treason. This news was, however, to be found only in the Pester Lloyd 2 and in German national newspapers. *All the newspapers are celebrating the anniversary of Christiane Vulpius's death. 3 For a very long time, Goethe's relationship to her was regarded as a serious error on the part of the master, which was excusable only on account of his literary greatness. The earliest judgment about this emanated, of course, from the ladies of contemporary Weimar society; and among them it was simply the presumption of vanity that led them to assume that, viewed objectively, even Goethe must have felt the difference that existed between them, the ladies of society, and a flower girl like Christiane! And even later, when Goethe furnished proof {282} that he did not recognize such a distinction at all, and that – if a distinction was to be made at all – he would decide in Christiane's favor, even this proof, which was already expressed objectively in a relationship that lasted many years and was ultimately legalized, was unable to shed any light upon the darkness of presumption. The literary critics sided with the feelings of the injured women and equally showed a lack of logic, which would have led them to make conclusions about Goethe's life in favor of Christiane. Now the attempt has actually been made, in two recent books, to see Goethe's relationship to Christiane in the light of the truth. 4 And as a memorial day makes sentimental feelings accessible, the journalists who are reviewing them are finally agreeing with Goethe against his society. — *On power: as an artificial construction, culture demands that people who do not find access to it from within themselves needed to be guided carefully. In this respect one can perhaps understand the very first origins of power. But the more culture was differentiated, the more it became possible for cunning and deception to creep out of their hiding place and usurp power, without it having to be based at all times on the fundamental ethical aspect of a beneficial leadership. – Particularly in the realm of business, power proved to be at all times only a false power, one which leads away from the goals of culture instead of towards it. — *A savage person satisfies his needs by virtue of being an animal; and thus he has every cause to show opposition to anything that may be offered to him in the way of culture, which at best can offer him nothing more than the satisfaction of his needs. That is the explanation for our savages' hostility towards culture! For what more can culture give them than that which they are able to achieve on their own on the strength of human animality? {283} That, however, the actual content of culture lies in a surmounting of bodily needs – in the transcendental – is something which our own savages can understand no better than the savages of Africa or America! — *Dr. Brünauer shocks me during his lesson with statements about the German naval victory 5 that make me almost worried about his mental state. In subscribing to the idea of German cravings for conquest, he construes [this victory] as a defeat and is absolutely unable to understand how Germany's successes would surely have to be interpretated as a victory if they were ultimately to assert the status quo ante with regard to the Allies, whose goals avowedly amount to the conquering of Constantinople, the disintegration of Austria-Hungary for the benefit of Italy and a greater Serbian state, a Great Romania, and the destruction of Germany! — *A new Russian offensive begins vigorously, evidently to give relief to Italy and France. 6 It is proceeding without result. — *
© Translation William Drabkin. |
6. VI. 16 Um ein weniges wärmer.
— Frau D. zu Tisch u. im Caféhaus. Ich erzähle ihr den Fall Stirling – Kahn u. Kahn – Elias, um ihre ständige Ausrede auf die Gedankenlosigkeit, die sie {280} zur Bemäntelung des Schmutzes benützt, zuschanden zu machen. — — Nachmittag Lebensmittel-Razzia in die Stadt. Im Laden des Bäckers Fritz hören wir, wie eine alte Jüdin im unverfälschten jüdischen Jargon besonders zudringlich wird wegen des Brotes, das sie nicht erhalten kann, u. immer wieder lautet der Refrain: „Ich gebe ’ Ihnen das Doppelte.“! — *In der Zeitung wird von der drittmaligen Bestrafung eines Bäckers erzählt, der sich auch selbst durch Strafen in der Höhe von 5000 Kronen nicht abschrecken ließ, entgegen d asem Verbot heimlich weißes Gebäck zu erzeugen. Offenbar tat er es einem hohen Gewinn zuliebe, den er von kaufkräftigen Zahlern (siehe die vorige Notiz!) bezog u. der ihm die jene Geldstrafe unverhältnismäßig klein u. erträglich erscheinen läßt ließ! — *Deutsche Lebensmittelhändler verkaufen Waren nach Dänemark, nur weil sie dort mehr, als an ihren eigenen in Not befindlichen Stammesgenossen verdienen. Des Kaufmannes Vaterland u. Heimat ist nicht eben nur dort, wo er für seine geringe Leistung so hoch als möglich bezahlt wird. Im engsten Sinne des Wortes freilich dient ist ihm die Bank als das Vaterland; von hier kommt er, dorthin geht er, womit zugleich der Sinn seines Lebens restlos erschöpft ist. *Der Zahlkellner unseres Caféhauses hat sich, obgleich noch nicht 50 Jahre alt, schon zu Ruhe gesetzt. Kein Kant, kein Goethe, kein Beethoven konnte es ihm nachmachen. — Auf Lie-Liechen wartend treffe ich in der Reisnerstraße meinen ehemaligen Schuhlieferanten Steier, der sich seit vielen Jahren ebenfalls zu Ruhe gesetzt hat. Er trug Cilinder [sic] u. schwarzen Rock u. kam, wie er erzählt „von der Leich’ des Schott, des Bindermeisters, den Sie doch g’wiß kennen.“ Daß doch die Schuster u. Bindermeister immer so viel Aufhebens machen von der „ewigen Ruhe“! Haben sie denn davon sie nicht bei Lebzeiten schon in Hülle u. Fülle? *{281} Angebot u. Nachfrage: Daß auf den Tisch des Kaufmannes konkurrierende Anbote kommen, braucht man ja nicht zu bezweifeln. Hebt aber Es fragt sich aber, ob dieser Vorteil der Kaufleute den Nachteil der Konsumenten aufhebt, die sich [sic] ja ähnliche Anbote niemals zu Gesicht kriegen u. [sich] auch niemals beschaffen können. Wenn Tritt der Konsument nur in einen Laden tritt, ist er sofort auf Gnade oder Ungnade der Lüge des Kaufmannes ausgesetzt u. er muß an Ort u. Stelle den Einkauf besorgen, wenn er nicht von Laden zu Laden konkurrierende Anbote erst sammeln will. Auf dem Wege vom Händler zum Konsumenten fallen eben daher alle Vorteile eventuelle nr Konkurrenzangebote lediglich in die Tasche der Händler. *Der deutsche Reichskanzler hält eine sehr bedeutungsvolle Rede, stellt die Parole des Weiterkämpfens bis zum endgiltigen Siege auf, nachdem die Gegner seine Friedensbereitschaft mit Hohn beantwortet haben. Er vers tetzt bei dieser Gelegenheit einen Fußtritt den Nationalen, die nicht nur seine Politik, sondern auch ihn persönlich in feigen anonymen Schmähschriften bekämpfen. 1 — *Der Cžechenführer Kramarž ist mit drei Genossen wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Dies war aber nur im „Pester Lloyd“ 2 u. in Rreichsdeutschen Blättern zu lesen. *Alle Blätter feiern den Gedenktag der Christiane Vulpius. 3 Lange genug wurde im Goethes Verhältnis zu ihr ein als schwerer Irrtum des Meisters gbefunden, der ihm nur um seiner Dichtergröße willen verziehen werden sollte. Das erste Urteil darüber erfloß freilich von den Damen der zeitgenössischen weimarer [sic] Gesellschaft u. bei diesen war es lediglich die Ueberhebung der Eitelkeit, die sie zur Annahme verleitete, daß objektiv auch Goethe müsse den großen Unterschied empfinden müsse, der zwischen ihnen, den Damen der Gesellschaft, u. einem Blumenmädchen, wie Christiane, besteht! Und selbst späterhin, als Goethe den Beweis erbrachte, {282} daß er einen solchen Unterschied überhaupt nicht anerkenne, u. daß er sich, wenn überhaupt nun ein Unterschied gemacht werden sollte, sich nur zugunsten Christianens entscheide – selbst dieser Beweis, der sich schon objektiv in dem viele Jahre dauernden Verhältnis u. der schließlichen Legalisierung desselben äußerte, vermochte in die Finsternis der Ueberhebung nicht kein Licht zu bringen. Die Literarhistoriker schl ieossen sich der Gesinnung verletzter Weiber an u. ließen ebenfalls die Kraft der Logik vermissen, daß die sie aus Goethes Leben Schlüsse zugunsten Christianens hätte ziehen lassen müssen. Nun wurde wird neuerdings in zwei Schriften eigens der Versuch gemacht, die Beziehung Goethes zu Christiane im Lichte der Wahrheit zu sehen. 4 Und da ein Gedenktag sentimentalen Regungen zugänglich macht, scheinen zumindest die referierenden Journalisten von heute endlich Goethe gegen seine Gesellschaft Recht zu geben. — *Von der Macht: Als künstliche Konstruktion macht die Kultur es notwendig, daß Menschen, die den Eingang zu ihr nicht aus eigenem finden, einer strengen Führung bedürfen. In diesem Sinne mag der Ursprung der Macht wohl zu allererst betrachtet werden. Je mehr sodann aber die Kultur differenziert wurde, eröffneten sich destomehr auch Schlupfwinkel für List u. Betrug, mit denen eine Macht usurpiert wurde, ohne daß ihr jeweils auch die grundlegende ethische Seite einer ersprießlichen Führerschaft zugrunde läge gelegen hätte. – Insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiete erwies sich die Macht als stets nur eine falsche Macht, die von den Zielen der Kultur wegführt, statt zuihrzuführen. — *Der Wilde vermag schon als Tier seine Bedürfnisse zu befriedigen u. hat daher alle Ursache, sich einer ihm etwa angebotenen Kultur feindlich gegenüberzustellen, die auch ihm [illeg]bestenfalls ihm doch auch nicht mehr zu bieten weiß, als Befriedigung seiner Bedürfnisse. Daher begreif te man auch die Kulturfeindlichkeit unserer der Wilden unter uns! Was kann denn auch ihnen die Kultur mehr geben, als was sie kraft Menschen-Tiertums schon aus eigenem erreichen können? {283} Daß der eigentliche Inhalt der Kultur aber in einer Ueberschreitung der leiblichen Bedürfnisse, also im Transzendentalem Transzendentalen liegt, können unsere Wilden ja ebensowenig wie die Wilden Afrikas oder Amerikas begreifen! — *Dr. Brünauer erschreckt mich in der Stunde durch Aeußerungen über den deutschen Seesieg, 5 die mich beinahe um seinen Geisteszustand bange [sic] machen. Indem er den Deutschen Eroberungsgelüste unterschiebt, konstruiert er eine Niederlage u. kann absolut nicht begreifen, wie Deutschlands Erfolge als Sieg wohl auch dann gewertet werden müßten, wenn sie den status quo ante gegenüber den Alliierten endgiltig behaupten würden, deren Ziele eingestandenermaßen auf Eroberung Konstantinopels, Zertrümmerung Oesterreich-Ungarns zugunsten Italiens u. eines großserbischen Staates, eines Groß-Rumäniens u. der Vernichtung Deutschlands hinausliefen! — *Eine neue Russische Offensive wird setzt kräftig einge, offenbar zur Entlastung Italiens u. Frankreichs. 6 Sie verläuft ergebnislos. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 6, 1916; a little warmer.
— Mrs. Deutsch at lunch and in the coffee house. I tell her the stories about Stirling and Kahn, and about Kahn and Elias, to wreck her constant excuse about thoughtlessness, which she uses to {280} disguise her [own] greed. — — In the afternoon, a food raid in the city. At the Fritz Bakery we hear how an old Jewess became particularly agitated, in unadulterated Jewish jargon, about the bread that she was unable to obtain and kept repeating the refrain: "I'll give you twice the price"! — *In a newspaper, the story is told of the third penalty received by a baker who, in spite of receiving fines of 5,000 Kronen, was not afraid of secretly making white bread in spite of the ban on it. Apparently he did so for sake of a high profit that he received from well-funded buyers (see the previous notice!) and because that the financial penalty seemed to him to be relatively small and tolerable! — *German food merchants are selling their wares to Denmark only because they can earn more there than from their own compatriots, who find themselves in difficulties. The businessman's homeland is not simply just where he can be paid as much as possible for his meager efforts; in the narrowest sense of the word, the bank is of course his fatherland. He comes from there, goes there; and in that way the meaning of his life is utterly consumed. *The head waiter at our coffee house, though not yet 50 years old, has already retired. No Kant, no Goethe, no Beethoven could match him. — While waiting for Lie-Liechen in the Reisnerstraße, I meet my former shoe supplier Steier, who has similarly been retired for many years. He was wearing a top hat and a black jacket and came, so he said, "from the funeral of the barrel maker Schott, whom you surely know." That even shoemakers and coopers are making such a fuss about "eternal peace"! Have they not had enough of this already during their lifetimes? *{281} Supply and demand: that competitive offers reach the businessman's desk is something one need not doubt; the question arises, however, whether this advantage to businessmen increases the disadvantage to consumers, who never get to see similar offers or create them. When a consumer merely enters a store, he is immediately exposed to the favor or disfavor of the businessman's lie; and he must take care of his purchase on the spot, unless he instead goes from store to store to collect competitive offers. Along the path from the dealer to the consumer, all the advantages of possible competitive offers simply fall into the dealer's pocket. *The German chancellor gives a very important speech, establishing the watchword of fighting on to the final victory, after his opponents replied to his readiness for peace with derision. He uses the occasion to respond to the kick from those nationals who not only oppose his politics but attack him personally in cowardly anonymous diatribes. 1 — *The Czech leader Kramarž has been sentenced to death, along with three comrades, for high treason. This news was, however, to be found only in the Pester Lloyd 2 and in German national newspapers. *All the newspapers are celebrating the anniversary of Christiane Vulpius's death. 3 For a very long time, Goethe's relationship to her was regarded as a serious error on the part of the master, which was excusable only on account of his literary greatness. The earliest judgment about this emanated, of course, from the ladies of contemporary Weimar society; and among them it was simply the presumption of vanity that led them to assume that, viewed objectively, even Goethe must have felt the difference that existed between them, the ladies of society, and a flower girl like Christiane! And even later, when Goethe furnished proof {282} that he did not recognize such a distinction at all, and that – if a distinction was to be made at all – he would decide in Christiane's favor, even this proof, which was already expressed objectively in a relationship that lasted many years and was ultimately legalized, was unable to shed any light upon the darkness of presumption. The literary critics sided with the feelings of the injured women and equally showed a lack of logic, which would have led them to make conclusions about Goethe's life in favor of Christiane. Now the attempt has actually been made, in two recent books, to see Goethe's relationship to Christiane in the light of the truth. 4 And as a memorial day makes sentimental feelings accessible, the journalists who are reviewing them are finally agreeing with Goethe against his society. — *On power: as an artificial construction, culture demands that people who do not find access to it from within themselves needed to be guided carefully. In this respect one can perhaps understand the very first origins of power. But the more culture was differentiated, the more it became possible for cunning and deception to creep out of their hiding place and usurp power, without it having to be based at all times on the fundamental ethical aspect of a beneficial leadership. – Particularly in the realm of business, power proved to be at all times only a false power, one which leads away from the goals of culture instead of towards it. — *A savage person satisfies his needs by virtue of being an animal; and thus he has every cause to show opposition to anything that may be offered to him in the way of culture, which at best can offer him nothing more than the satisfaction of his needs. That is the explanation for our savages' hostility towards culture! For what more can culture give them than that which they are able to achieve on their own on the strength of human animality? {283} That, however, the actual content of culture lies in a surmounting of bodily needs – in the transcendental – is something which our own savages can understand no better than the savages of Africa or America! — *Dr. Brünauer shocks me during his lesson with statements about the German naval victory 5 that make me almost worried about his mental state. In subscribing to the idea of German cravings for conquest, he construes [this victory] as a defeat and is absolutely unable to understand how Germany's successes would surely have to be interpretated as a victory if they were ultimately to assert the status quo ante with regard to the Allies, whose goals avowedly amount to the conquering of Constantinople, the disintegration of Austria-Hungary for the benefit of Italy and a greater Serbian state, a Great Romania, and the destruction of Germany! — *A new Russian offensive begins vigorously, evidently to give relief to Italy and France. 6 It is proceeding without result. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 "Eine denkwürdige Sitzung des deutschen Reichstages. Große Rede des Reichskanzlers über Kriegs- und Friedensfragen und begeisterte Kundgebungen für die nationale Einigkeit," Neue Freie Presse, No. 18603, June 6, 1916, morning edition, pp. 2-3. "Reichskanzler Bethmann Hollweg über die neue Kriegslage," Pester Lloyd, No. 157, June 6, 1916, 63rd year, morning edition, pp. 3-4. 2 "Das Urteil im Hochverratsprozeß gegen Dr. Kramar und Genossen," Pester Lloyd, No. 155, June 4, 1916, 63rd year, evening edition, p. 2. 3 For example Gabriele Reuter, "Christiane v. Goethe" (Feuilleton), Neue Freie Presse, No. 18603, June 6, 1916, morning edition, pp. 1-2. Christiane Vulpius, whom Goethe married in 1806, died on June 6, 1816, at the age of 51. 4 Etta Federn, Christiane von Goethe: Ein Beitrag zur Psychologie Goethes (Munich: Delphin-Verlag, 1916). In the same year there also appeared Goethes Briefwechsel mit seiner Frau, 2 vols, ed. Hans Gerhard Gräf (Frankfurt am Main: Rütten & Loening, 1916). 5 The Battle of Jutland, also called the Battle of the Skagerrak, from May 31 to June 1, 1916, was fought between Britain's Royal Navy Grand Fleet and the Imperial German Navy's High Seas Fleet near the Skagerrak, an arm of the North Sea, about 60 miles off the west coast of Jutland (Denmark). 6 "Rußlands neue Entlassungsoffensive gegen unsere Ostfront," Neue Freie Presse, No. 18603, June 6, 1916, morning edition, p. 5. The Brusilov Offensive against the armies of the Central Powers on the Eastern Front was the Russian Empire's greatest feat of arms during World War I. Launched on 4 June 1916, it lasted until late September. The offensive was highly successful, but it came at a tremendous loss of life. |