9. IX. 16 Schön!
— Von Sophie (Br.): mit Photographie der Familie 1 u. nicht unerfreulicher Schilderung der gegenwärtigen Verhältnisse. Gleichzeitig von den Kindern eine Ansichtskarte als Gruß vom Ausflug. — — Wieder verschiedene Wege zu Einkaufszwecken. Bei der Brotkommission wird Lie-Liechen eine Schwierigkeit gemacht, die ich bei meiner Kommission nicht hatte; sie bekommt zwar die Brotkarte, muß aber den Abmeldeschein nachtragen. – Zu Hrdliczka wegen Sardinen; die Verkäuferin fordert um 20 Heller mehr als gestern u. auf unsere Vorhaltung, wir hätten die Dose gestern ja noch billiger erstanden, meinte die dazutretende Inhaberin: dann ist es ein Irrtum gewesen! Wir gingen fort, ohne einzukaufen. – Von Spiritus u. Butter war in keinem Geschäft auch nur eine Spur zu sehen. Ueber meinen Vorschlag nun auf die Ringstraße zu Stalzer, wo wir nun Wurst, Käse u. zwei Dosen Sardinen erstehen, wobei es sich zeigt, daß die portugiesischen nun tatsächlich 2.20 Kronen im Preis sind. Wir nahmen noch Obst mit u. giengen über die Beatrix- u. Reisnerstraße nachhause. Erdäpfel sind nicht erhältlich, Lie-Liechen nahm ein Gemüse. Nachdem wir die Packete [sic] zuhause abgesetzt hatten, gingen wir noch einmal hinunter, um zu erfahren, wann Butter zu haben wäre. Im Bäckerladen, den wir hernach aufsuchten, war auch das Brot bereits ausverkauft (Brotnot wäre wieder da, meinte die Verkäuferin!), konnten aber in einem andern Geschäft noch ein Hammerbrot 2 erwerben u. gingen nun wieder bepackt zu Tisch. Wir aßen gut u. ausgiebig u. waren trotz des großen Zeitverlustes wieder guter Dinge. – Nach der Jause neuerliche Vorstöße: zu Meinl um Marmelade; wir finden nur- {416} mehr Orange vor, die den meisten Leuten wegen des eigentümlichen Beigeschmackes verschmäht wird, so daß wir nur dieser Laune den Besitz von zwei Gläsern Marmelade verdanken. Wegen Mehles wird uns bedeutet, nur ein Sack käme auf einen Monat u. wir müßten daher jeden Tag etwa um ½5h nachfragen, ob nicht des andern Morgens Mehl zu haben wäre! Café macht Schwierigkeiten. Auf dem Wege zu Tisch versucht Lie-Liechen sich in die wartende Menge einzugliedern, zumal der Schutzmann bestimmte Hoffnung macht; leider erwies sich diese aber als trügerisch, u. denn gerade als die Reihe, in der sich Lie-Liechen befand, eingelassen wurde, hieß es plötzlich, es wäre kein Café mehr da! Sonderbar ist es doch aber, daß das Personal, nur mehr eine so geringe Anzahl von 1/8 kg-Packeten [sic] im Auge, es nicht der Mühe wert findet, die draußen Wartenden rechtzeitig zu verständigen. In einem andern Cafégeschäft, bei den Brüdern Kunz, wird die Situation wieder zu Erpressungszwecken folgender Art benutzt: Die Firma gibt nur ½ kg in einer Dose ab! Abgesehen davon, daß man doch nicht mit jedem ½ kg eine neue Dose einkaufen kann u. will, stellt sich auch der Preis des Cafés viel höher als bei Meinl. – Der Zufall, daß uns die Brotkarte voll in die Hand gegeben wurde, obgleich wir erst am 7. resp. 9. sie erhielten, schafft uns mindestens die günstige Gelegenheit, uns reichlich mit Brot zu versehen. — *Oberer Pöbel – nicht einmal Humus für Genies, wie der untere! *Auch Religion ist Kunst, sowie denn auch Moral , als Lösung widerstreitender Interessen der Menschen begriffen, ebenfalls als Kunst zu werten ist. — *Der Staat glaubt genug getan zu haben, wenn er ein kleines Quantum Religion dem Volke gibt u. im übrigen sich völlig nur mit materiellen Interessen des Handels identifiziert. Aber auch materielle Interessen würde der Staat besser fördern u. sichern, wenn er in erster Linie die geistigen vertreten würde! — *{417} „Frankf. Ztg.“ gegen den Egoismus im Handel. 3 — Man gebe dem Kaufmann e den Umsatz einer ganzen Welt, er bleibt unersättlich, sowie er sich auch all die Zeit her unersättlich zeigte, nachdem er in die glückliche Lage gekommen bracht wurde, die vielfältigsten Errungenschaften der Technik zu benutzen. — *Abends auf dem Spaziergang treten wir in den Stadtpark ein , u. bleiben vor dem Kurhaus stehen, um ein wenig das bewegte Bild zu beobachten, das sich uns darbot. Plötzlich kam trat Dr. Ludwig Gelber zu uns, dem sich einige Minuten später seine Frau anschloss u. wir konversierten eine Viertelstunde. Die Frau erzählt, daß, während sie selbst in Ischl weilte, ihre Köchin inzwischen in Wien täglich u. immer an anderer Stelle allerhand Vorräte aufkaufte. *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 9, 1916, fair weather!
— Letter from Sophie with a photograph of the family 1 and a not disheartening portrayal of the present conditions. At the same time, a picture postcard from the children, as a greeting from their excursion. — — Again, various trips for shopping purposes. At the bread commission, things are made difficult for Lie-Liechen, a difficulty that I did not have with my bread commission; she does receive her bread card, but must submit her deregistration form. – To Hrdlitschka for sardines; the saleswoman asks for 20 Heller more than yesterday; and when we remonstrated that we had purchased the can yesterday for less money, the proprietress intervened: that it had been a mistake! We left without making a purchase. – There was not even a trace of spirits or butter in any shop. At my suggestion, we now go to Stalzer on the Ringstraße, where we purchase sausage, cheese and two tins of sardines, where it turns out that Portuguese sardines in fact cost 2.20 Kronen. We also picked up some fruit and went home via the Beatrixgasse and the Reisnerstraße. Potatoes are not available; Lie-Liechen bought a vegetable. After we dropped off the packages at home, we went down once again to find out when butter would be available. At the bakery, where we subsequently called, even the bread had already been sold out (the shortage of bread had returned, the saleslady said!); but we were able to obtain Hammer bread 2 in another shop and went back for lunch, again loaded up. We ate well, and plentifully, and were in good spirits in spite of the great loss of time. – After teatime, renewed advances: to Meinl for jam; we find only {416} orange marmalade, which is rejected by most people on account of its peculiar aftertaste, so that we can owe our possession of two jars of jam only to this whim. With regard to flour, it is explained to us that only one sack comes each month, and we would therefore have to ask every day around 4:30 whether or not flour would be available the next morning! Coffee creates difficulties. On the way to supper, Lie-Liechen tries to join the waiting crowd, all the more so as the guard gives her definite reason to hope; this unfortunately proved deceptive, for just as the row in which Lie-Liechen found herself was admitted, one was suddenly told that there was no more coffee! It is, however, strange that the personnel, who could see that there was such a small number of 1/8kg packages, did not think it worth the trouble of explaining this promptly to those who were waiting outside. In another coffee shop, at the Kunz Brothers, the situation was again exploited for blackmailing purposes of the following sort: the company will sell only half a kilogram in a tin! Apart from the fact that not everyone can and wants to buy a new tin with every half kilogram of coffee, the price of coffee there is also much higher than at Meinl. – The good fortune, that our bread cards were given to us in full measure although we did not receive them until the 7th and 9th of the month, respectively, at least gives us the favorable opportunity to provide ourselves abundantly with bread. — *Upper-class riff-raff – not even humus for geniuses, like the lower-class riff-raff! *Religion is art; and thus also morality, understood as the resolution of competing interests among people, it is to be likewise judged as art. — *The state believes it has done enough if it gives the people a small quantum of religion and otherwise identifies itself completely with the material interests of trade. But the state would better promote and secure material interests, too, if it would advocate the spiritual ones above all! — *{417} The Frankfurter Zeitung in opposition to egoism in trade. 3 — Give the businessman the income of an entire world and he will remain insatiable, as he has shown himself to be insatiable ever since he was brought into the fortunate position of using the most manifold technological achievements. — *On our evening walk we enter the Stadtpark and stand in front of the Kurhaus to catch a glimpse of the activity that presented itself. Suddenly Dr. Ludwig Gelber walked up to us, joined by his wife a few minutes later, and we chatted for a quarter of an hour. His wife tells us that while she herself was staying in Ischl, her cook was in Vienna in the meantime, buying up all manner of provisions, always in different places. *
© Translation William Drabkin. |
9. IX. 16 Schön!
— Von Sophie (Br.): mit Photographie der Familie 1 u. nicht unerfreulicher Schilderung der gegenwärtigen Verhältnisse. Gleichzeitig von den Kindern eine Ansichtskarte als Gruß vom Ausflug. — — Wieder verschiedene Wege zu Einkaufszwecken. Bei der Brotkommission wird Lie-Liechen eine Schwierigkeit gemacht, die ich bei meiner Kommission nicht hatte; sie bekommt zwar die Brotkarte, muß aber den Abmeldeschein nachtragen. – Zu Hrdliczka wegen Sardinen; die Verkäuferin fordert um 20 Heller mehr als gestern u. auf unsere Vorhaltung, wir hätten die Dose gestern ja noch billiger erstanden, meinte die dazutretende Inhaberin: dann ist es ein Irrtum gewesen! Wir gingen fort, ohne einzukaufen. – Von Spiritus u. Butter war in keinem Geschäft auch nur eine Spur zu sehen. Ueber meinen Vorschlag nun auf die Ringstraße zu Stalzer, wo wir nun Wurst, Käse u. zwei Dosen Sardinen erstehen, wobei es sich zeigt, daß die portugiesischen nun tatsächlich 2.20 Kronen im Preis sind. Wir nahmen noch Obst mit u. giengen über die Beatrix- u. Reisnerstraße nachhause. Erdäpfel sind nicht erhältlich, Lie-Liechen nahm ein Gemüse. Nachdem wir die Packete [sic] zuhause abgesetzt hatten, gingen wir noch einmal hinunter, um zu erfahren, wann Butter zu haben wäre. Im Bäckerladen, den wir hernach aufsuchten, war auch das Brot bereits ausverkauft (Brotnot wäre wieder da, meinte die Verkäuferin!), konnten aber in einem andern Geschäft noch ein Hammerbrot 2 erwerben u. gingen nun wieder bepackt zu Tisch. Wir aßen gut u. ausgiebig u. waren trotz des großen Zeitverlustes wieder guter Dinge. – Nach der Jause neuerliche Vorstöße: zu Meinl um Marmelade; wir finden nur- {416} mehr Orange vor, die den meisten Leuten wegen des eigentümlichen Beigeschmackes verschmäht wird, so daß wir nur dieser Laune den Besitz von zwei Gläsern Marmelade verdanken. Wegen Mehles wird uns bedeutet, nur ein Sack käme auf einen Monat u. wir müßten daher jeden Tag etwa um ½5h nachfragen, ob nicht des andern Morgens Mehl zu haben wäre! Café macht Schwierigkeiten. Auf dem Wege zu Tisch versucht Lie-Liechen sich in die wartende Menge einzugliedern, zumal der Schutzmann bestimmte Hoffnung macht; leider erwies sich diese aber als trügerisch, u. denn gerade als die Reihe, in der sich Lie-Liechen befand, eingelassen wurde, hieß es plötzlich, es wäre kein Café mehr da! Sonderbar ist es doch aber, daß das Personal, nur mehr eine so geringe Anzahl von 1/8 kg-Packeten [sic] im Auge, es nicht der Mühe wert findet, die draußen Wartenden rechtzeitig zu verständigen. In einem andern Cafégeschäft, bei den Brüdern Kunz, wird die Situation wieder zu Erpressungszwecken folgender Art benutzt: Die Firma gibt nur ½ kg in einer Dose ab! Abgesehen davon, daß man doch nicht mit jedem ½ kg eine neue Dose einkaufen kann u. will, stellt sich auch der Preis des Cafés viel höher als bei Meinl. – Der Zufall, daß uns die Brotkarte voll in die Hand gegeben wurde, obgleich wir erst am 7. resp. 9. sie erhielten, schafft uns mindestens die günstige Gelegenheit, uns reichlich mit Brot zu versehen. — *Oberer Pöbel – nicht einmal Humus für Genies, wie der untere! *Auch Religion ist Kunst, sowie denn auch Moral , als Lösung widerstreitender Interessen der Menschen begriffen, ebenfalls als Kunst zu werten ist. — *Der Staat glaubt genug getan zu haben, wenn er ein kleines Quantum Religion dem Volke gibt u. im übrigen sich völlig nur mit materiellen Interessen des Handels identifiziert. Aber auch materielle Interessen würde der Staat besser fördern u. sichern, wenn er in erster Linie die geistigen vertreten würde! — *{417} „Frankf. Ztg.“ gegen den Egoismus im Handel. 3 — Man gebe dem Kaufmann e den Umsatz einer ganzen Welt, er bleibt unersättlich, sowie er sich auch all die Zeit her unersättlich zeigte, nachdem er in die glückliche Lage gekommen bracht wurde, die vielfältigsten Errungenschaften der Technik zu benutzen. — *Abends auf dem Spaziergang treten wir in den Stadtpark ein , u. bleiben vor dem Kurhaus stehen, um ein wenig das bewegte Bild zu beobachten, das sich uns darbot. Plötzlich kam trat Dr. Ludwig Gelber zu uns, dem sich einige Minuten später seine Frau anschloss u. wir konversierten eine Viertelstunde. Die Frau erzählt, daß, während sie selbst in Ischl weilte, ihre Köchin inzwischen in Wien täglich u. immer an anderer Stelle allerhand Vorräte aufkaufte. *
© Transcription Marko Deisinger. |
September 9, 1916, fair weather!
— Letter from Sophie with a photograph of the family 1 and a not disheartening portrayal of the present conditions. At the same time, a picture postcard from the children, as a greeting from their excursion. — — Again, various trips for shopping purposes. At the bread commission, things are made difficult for Lie-Liechen, a difficulty that I did not have with my bread commission; she does receive her bread card, but must submit her deregistration form. – To Hrdlitschka for sardines; the saleswoman asks for 20 Heller more than yesterday; and when we remonstrated that we had purchased the can yesterday for less money, the proprietress intervened: that it had been a mistake! We left without making a purchase. – There was not even a trace of spirits or butter in any shop. At my suggestion, we now go to Stalzer on the Ringstraße, where we purchase sausage, cheese and two tins of sardines, where it turns out that Portuguese sardines in fact cost 2.20 Kronen. We also picked up some fruit and went home via the Beatrixgasse and the Reisnerstraße. Potatoes are not available; Lie-Liechen bought a vegetable. After we dropped off the packages at home, we went down once again to find out when butter would be available. At the bakery, where we subsequently called, even the bread had already been sold out (the shortage of bread had returned, the saleslady said!); but we were able to obtain Hammer bread 2 in another shop and went back for lunch, again loaded up. We ate well, and plentifully, and were in good spirits in spite of the great loss of time. – After teatime, renewed advances: to Meinl for jam; we find only {416} orange marmalade, which is rejected by most people on account of its peculiar aftertaste, so that we can owe our possession of two jars of jam only to this whim. With regard to flour, it is explained to us that only one sack comes each month, and we would therefore have to ask every day around 4:30 whether or not flour would be available the next morning! Coffee creates difficulties. On the way to supper, Lie-Liechen tries to join the waiting crowd, all the more so as the guard gives her definite reason to hope; this unfortunately proved deceptive, for just as the row in which Lie-Liechen found herself was admitted, one was suddenly told that there was no more coffee! It is, however, strange that the personnel, who could see that there was such a small number of 1/8kg packages, did not think it worth the trouble of explaining this promptly to those who were waiting outside. In another coffee shop, at the Kunz Brothers, the situation was again exploited for blackmailing purposes of the following sort: the company will sell only half a kilogram in a tin! Apart from the fact that not everyone can and wants to buy a new tin with every half kilogram of coffee, the price of coffee there is also much higher than at Meinl. – The good fortune, that our bread cards were given to us in full measure although we did not receive them until the 7th and 9th of the month, respectively, at least gives us the favorable opportunity to provide ourselves abundantly with bread. — *Upper-class riff-raff – not even humus for geniuses, like the lower-class riff-raff! *Religion is art; and thus also morality, understood as the resolution of competing interests among people, it is to be likewise judged as art. — *The state believes it has done enough if it gives the people a small quantum of religion and otherwise identifies itself completely with the material interests of trade. But the state would better promote and secure material interests, too, if it would advocate the spiritual ones above all! — *{417} The Frankfurter Zeitung in opposition to egoism in trade. 3 — Give the businessman the income of an entire world and he will remain insatiable, as he has shown himself to be insatiable ever since he was brought into the fortunate position of using the most manifold technological achievements. — *On our evening walk we enter the Stadtpark and stand in front of the Kurhaus to catch a glimpse of the activity that presented itself. Suddenly Dr. Ludwig Gelber walked up to us, joined by his wife a few minutes later, and we chatted for a quarter of an hour. His wife tells us that while she herself was staying in Ischl, her cook was in Vienna in the meantime, buying up all manner of provisions, always in different places. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Presumably the photo that is preserved in the Oswald Jonas collection under the signature OJ 72/18, No. 11. 2 Hammerbrot: a product of the Hammer Bread Works (Hammerbrotwerke), a large bread-baking cooperative in Vienna and environs which operated between 1909 and 1969, whose emblem was a red hammer in a red garland of grain. 3 "Frankfurt, 5. September," Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, No. 246, September 5, 1916, 61st year, evening edition, p. 1. |