31. +6°, regnerisch!
— Von Breisach (Feldpostk.): launische Neujahrsgrüße. — Von Halm ein Heft KlavierkompositionenOJ 11/35, [0]. 1 Das Beste daran ist die löbliche Absicht, aber wie wenig ist dies so etwas, wenn die Ausführung, wie hier, erst noch so primitiv ist. An allen Ecken u. Enden nicht[s] als Verstöße wider unverrückbare Regeln, die ihre guten Gründe wohl in aller Menschen gemeinsamen Psychologie haben. Ja, nicht einmal noch die Schreibweise verrät irgend eine Kultur, geschweige denn jene hohe u. höchste, die zur Ausführung so hochfahrender Tendenzen unerläßlich ist. — Wir fassen vormittags den Plan, uns nach Schönbrunn zu begeben, kehren aber vom Wege zurück, da sich das Wetter plötzlich wieder verschlechtert. — — An Fl. (K.OJ 8/3, [22]): teile mit, daß es uns unmöglich war zu kommen u. kündige zugleich {556} die Absicht an, einen neuen Modus ausfindig zu machen, innerhalb dessen es uns möglich wäre, Sonntag nachmittag zu ruhen. — An Sophie (Br.): ich selbst danke für den liebevollen Geldantrag, Lie-Liechen fügt hinzu Bemerkungen aus der Lebensmittelsphäre. — An Fr. Deutsch (K.): bringen nur in wenig Worten Neujahrswünsche zum Ausdruck. — — Eine ungarische Legende in der „Frankf. Ztg.“ „Vergessenes Gesicht“ 2 : der Gedanke wirkt schon, dennoch ist der Kern aber falsch, so daß er nun der Gedanke eben nichts als blos schön im landläufigen, vulgären Sinne des Wortes bleibt. Freilich vermag Christus , persönlich unter den Menschen weilend u. wirkend, Uebles zum Guten zu wenden, aber ist es nur sein persönliches Erscheinen, das solche Wirkungen hervorbringt, was ist da noch an Heil für die Menschen zu erwarten, wenn Christus leider nur so selten unter den Menschen erscheint, wenn die Zahl seiner Besuche so geringfügig erscheint ist gegenüber der Dauer seiner Abwesenheit?! — Bahr setzt im „N. W. Journal“ sein Tagebuch fort. 3 Befasst sich mit Politik, u. besonders viel speziell mit oesterreichischem Wesen u. dem oesterreichischen Staate; doch läuft all seine Rede, wie bei die der anderen u. noch viel größeren Männern von heute, lediglich auf Kurpfuscherei hinaus. Er stellt eine falsche Diagnose u. kuriert demnach falsch, wenn auch zwar mit viel Leidenschaft, aber vergeblich; ihm ist zu erwidern: solange nicht eben der Kaufmann u. seine Stellung in Staat u. Gesellschaft völlig entwurzelt ist sind, ist jedes Heilverfahren eine müßige Denk- u. Zeitvergeudung. Von demselben Autor übrigens auch im „N. W. Tgbl.“ ein Aufsatz, der Oesterreich als Vorbild eines Gemischt-Staates hinstellt, als hätte Oesterreich das heute überall akut gewordene Problem, wie Nationalitäten unter den Begriff des Staates zu subsummieren wäre, bereits glücklich gelöst. 4 — — Trotz S yilvesters frühzeitig nachhause, bei noch immer anhaltendem heftigen Sturm. *{557} © Transcription Marko Deisinger. |
31. +6°, rainy!
— Field postcard from Breisach: moody new year's greetings. — From Halm , a volume of piano compositionsOJ 11/35, [0]. 1 The best thing about it is the laudable intention; but how little is something whose execution – as here – is still so primitive. In every corner, at every end, nothing but infringements of unalterable rules, whose foundations are surely found in the psychology common to all people. Indeed, not even the compositional style hints at culture, to say nothing of that elevated, highest culture that is indispensable for the execution of such ramped up intentions. — We plan in the morning to go to Schönbrunn, but head back as the weather suddenly turns again for the worst. — — PostcardOJ 8/3, [22] to Floriz: I explain that it was impossible for us to come, and at the same time indicate {556} our intention to some other arrangement which would make it possible for us to rest on Sunday afternoon. — Letter to Sophie: I myself thank her for her kindhearted offer of money; Lie-Liechen adds some observations about the food situation. — Postcard to Mrs. Deutsch: we express our best wishes for the new year in a few words. — — A Hungarian tale in the Frankfurter Zeitung : "Forgotten Face." 2 The idea works well enough, but the essence is mistaken, so that the idea remains attractive only in a general, vulgar sense of the word. Of course, Christ was able to change evil into good when he was present and active among the people; but if it is only his personal appearance that brings about such effects, what salvation can humanity expect if Christ alas appears so rarely among the people, when the number of visits he makes is so negligible compared to the duration of his absences?! — Bahr continues his diary in the Neues Wiener Journal . 3 He concerns himself with politics, and especially with Austrian character and the Austrian state; and yet all his talk, like that of other, much greater men of today, amounts to nothing more than charlatanry. He makes a false diagnosis and, accordingly, an incorrect cure, even though with a great deal of passion. One should reply to him: until the businessman and his position in the state and in society has been completely uprooted, all healing will be an idle waste of time and thought. From the same author, moreover, an article in the Neues Wiener Tagblatt which situates Austria as the model of a mixed state, as if Austria had already solved to its satisfaction a problem that today has become acute everywhere: how nationalities are to be subsumed under the concept of state. 4 — — In spite of it being New Year's Eve, we go home early in the midst of a hefty storm that still persists. *{557} © Translation William Drabkin. |
31. +6°, regnerisch!
— Von Breisach (Feldpostk.): launische Neujahrsgrüße. — Von Halm ein Heft KlavierkompositionenOJ 11/35, [0]. 1 Das Beste daran ist die löbliche Absicht, aber wie wenig ist dies so etwas, wenn die Ausführung, wie hier, erst noch so primitiv ist. An allen Ecken u. Enden nicht[s] als Verstöße wider unverrückbare Regeln, die ihre guten Gründe wohl in aller Menschen gemeinsamen Psychologie haben. Ja, nicht einmal noch die Schreibweise verrät irgend eine Kultur, geschweige denn jene hohe u. höchste, die zur Ausführung so hochfahrender Tendenzen unerläßlich ist. — Wir fassen vormittags den Plan, uns nach Schönbrunn zu begeben, kehren aber vom Wege zurück, da sich das Wetter plötzlich wieder verschlechtert. — — An Fl. (K.OJ 8/3, [22]): teile mit, daß es uns unmöglich war zu kommen u. kündige zugleich {556} die Absicht an, einen neuen Modus ausfindig zu machen, innerhalb dessen es uns möglich wäre, Sonntag nachmittag zu ruhen. — An Sophie (Br.): ich selbst danke für den liebevollen Geldantrag, Lie-Liechen fügt hinzu Bemerkungen aus der Lebensmittelsphäre. — An Fr. Deutsch (K.): bringen nur in wenig Worten Neujahrswünsche zum Ausdruck. — — Eine ungarische Legende in der „Frankf. Ztg.“ „Vergessenes Gesicht“ 2 : der Gedanke wirkt schon, dennoch ist der Kern aber falsch, so daß er nun der Gedanke eben nichts als blos schön im landläufigen, vulgären Sinne des Wortes bleibt. Freilich vermag Christus , persönlich unter den Menschen weilend u. wirkend, Uebles zum Guten zu wenden, aber ist es nur sein persönliches Erscheinen, das solche Wirkungen hervorbringt, was ist da noch an Heil für die Menschen zu erwarten, wenn Christus leider nur so selten unter den Menschen erscheint, wenn die Zahl seiner Besuche so geringfügig erscheint ist gegenüber der Dauer seiner Abwesenheit?! — Bahr setzt im „N. W. Journal“ sein Tagebuch fort. 3 Befasst sich mit Politik, u. besonders viel speziell mit oesterreichischem Wesen u. dem oesterreichischen Staate; doch läuft all seine Rede, wie bei die der anderen u. noch viel größeren Männern von heute, lediglich auf Kurpfuscherei hinaus. Er stellt eine falsche Diagnose u. kuriert demnach falsch, wenn auch zwar mit viel Leidenschaft, aber vergeblich; ihm ist zu erwidern: solange nicht eben der Kaufmann u. seine Stellung in Staat u. Gesellschaft völlig entwurzelt ist sind, ist jedes Heilverfahren eine müßige Denk- u. Zeitvergeudung. Von demselben Autor übrigens auch im „N. W. Tgbl.“ ein Aufsatz, der Oesterreich als Vorbild eines Gemischt-Staates hinstellt, als hätte Oesterreich das heute überall akut gewordene Problem, wie Nationalitäten unter den Begriff des Staates zu subsummieren wäre, bereits glücklich gelöst. 4 — — Trotz S yilvesters frühzeitig nachhause, bei noch immer anhaltendem heftigen Sturm. *{557} © Transcription Marko Deisinger. |
31. +6°, rainy!
— Field postcard from Breisach: moody new year's greetings. — From Halm , a volume of piano compositionsOJ 11/35, [0]. 1 The best thing about it is the laudable intention; but how little is something whose execution – as here – is still so primitive. In every corner, at every end, nothing but infringements of unalterable rules, whose foundations are surely found in the psychology common to all people. Indeed, not even the compositional style hints at culture, to say nothing of that elevated, highest culture that is indispensable for the execution of such ramped up intentions. — We plan in the morning to go to Schönbrunn, but head back as the weather suddenly turns again for the worst. — — PostcardOJ 8/3, [22] to Floriz: I explain that it was impossible for us to come, and at the same time indicate {556} our intention to some other arrangement which would make it possible for us to rest on Sunday afternoon. — Letter to Sophie: I myself thank her for her kindhearted offer of money; Lie-Liechen adds some observations about the food situation. — Postcard to Mrs. Deutsch: we express our best wishes for the new year in a few words. — — A Hungarian tale in the Frankfurter Zeitung : "Forgotten Face." 2 The idea works well enough, but the essence is mistaken, so that the idea remains attractive only in a general, vulgar sense of the word. Of course, Christ was able to change evil into good when he was present and active among the people; but if it is only his personal appearance that brings about such effects, what salvation can humanity expect if Christ alas appears so rarely among the people, when the number of visits he makes is so negligible compared to the duration of his absences?! — Bahr continues his diary in the Neues Wiener Journal . 3 He concerns himself with politics, and especially with Austrian character and the Austrian state; and yet all his talk, like that of other, much greater men of today, amounts to nothing more than charlatanry. He makes a false diagnosis and, accordingly, an incorrect cure, even though with a great deal of passion. One should reply to him: until the businessman and his position in the state and in society has been completely uprooted, all healing will be an idle waste of time and thought. From the same author, moreover, an article in the Neues Wiener Tagblatt which situates Austria as the model of a mixed state, as if Austria had already solved to its satisfaction a problem that today has become acute everywhere: how nationalities are to be subsumed under the concept of state. 4 — — In spite of it being New Year's Eve, we go home early in the midst of a hefty storm that still persists. *{557} © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 August Halm, Compositionen für Pianoforte, vol. 5: Sarabande mit Variationen, Bagatellen (Stuttgart: Zumsteeg, 1915). 2 Desiderius Szabó, "Das vergessene Gesicht. Ungarische Legende," Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, No. 356, December 24, 1916, 61st year, second morning edition, pp. 1-2. 3 Hermann Bahr, "Tagebuch," Neues Wiener Journal, No. 8323, December 31, 1916, 24th year, pp. 7-8. 4 Hermann Bahr, "Die Wendung Oesterreichs," Neues Wiener Tagblatt, No. 361, December 31, 1916, 50th year, p. 8. |