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10. IX. 17

Abreise! In Innsbruck für die Trafikantin ½ kg Honig gekauft. Marmelade nicht mehr erhältlich gewesen. Zu Tisch auf dem Bahnhof von zwei Frauen, Mutter u. Tochter belästigt, die, wie sie erzählten, in Igls eine Villa gebaut haben, hauptsächlich mit Rücksicht auf einen geisteskranken Sohn. Eben dieser mußte aber vor kurzem in ein Irrenhaus gebracht werden, nachdem er den Lieblingshund erstochen. Mutter u. Tochter möchten nun gerne die Villa an Fremde vermieten, daher die Anknüpfung bei Tisch. Die Gesprächigkeit u. Offenherzigkeit beider war niederwerfend; trotz aller Tragik des Hintergrundes mutete es doch komisch an, wenn die Tochter der Mutter ins Wort fiel, so oft diese zur Erzählung ausholte, gleich darauf aber selbst die Erzählung übernahm u. in der Tragik plätschernd sich so wohl fühlte, wie nur irgend in einem heitern Element. Der Fall erinnert mich lebhaft an Familie Pollak, wo man ebenfalls nie müde würde, die Erzählung eines tragischen Ereignisses zu wiederholen. Nach dem Caféhaus im Hofgarten ein Schläfchen. Büchereinkauf, darunter Schopenhauer-Briefe (Griesebach), 1 Luthers Schriften 2 usw. Mit Obst u. Lektüre nun Jause vor dem Hofgarten; dann Marmelade abgeholt u. endlich zur Bahn. Schlecht u. teuer gegessen. Offiziere am Nebentisch erzählen von grausamen Entbehrungen an der Isonzofront. Beim Einsteigen ereignet sich ein ähnlicher Skandal, wie im vorigen Jahre; die Anweisung des Schaffners lautet: nach vorne! Wir steigen in den ersten Wagen dritter Klasse, den wir vorn finden, der auch rasch mit Fahrgästen gefüllt ist. Da erscheint der Schaffner, aufbegehrend: Dieser Wagen ist fürs Militär reserviert, bitte in den ersten wagen. Nun heißt es mit so schweren Colli bepackt noch weiter nach vorne Nnach vielem vorne [sic] Llaufen u. dort Platz suchen, wo inzwischen so viele andere Gäste sich breitgemacht haben. Die Unfähigkeit eines Schaffners, der es nicht einmal zuwege bringt, gleich bei d erie ersten Anweisung auf das Militär hinzuweisen richtig zu formulieren, rächt sich an den schuldlosen Fahrgästen, {768} die übrigens total ohnmächtig sind. In Verzweiflung nehmen wir Platz in einem Abteil 2. Klasse, wohin der Träger die Colli hinüberschafft. Hierher kommt noch ein weiblicher Fahrgast, der ebenfalls wie wir blos 3. Klasse gezahlt hat u. so warten wir nun zu Dritt die Entscheidung des Schaffners ab, dem wir unter allen Umständen zu widerstreben entschlossen sind, falls er Miene machen sollte, uns für seine Unfähigkeit die Opfer büßen lassen zu wollen. Die Sache verlief glücklicherweise aber völlig befriedigend (zwei Kronen Trinkgeld taten wohl außerdem ihre Schuldigkeit) u. wir konnten recht bequem bis Wien fahren. Eine Jüdin im Coupé entwickelte eine unheimliche Neugierde nach den Schicksalen der Fahrtgenossen, wie sie nicht weniger auch umgekehrt bereit ist war, selbst jegliche Neugierde zu befriedigen. Es stellt sich heraus, daß sie Mitglied der Singakademie ist u. daß ihre Tochter Unterricht bei Epstein, u. Door genommen. Dies gab Veranlassung, sie ein wenig auf die Folter zu spannen. Politisches Gespräch mit einem Wiener geführt, der offenbar kleinerer Beamter ist, aber unerwartet willigen Charakter zeigt.

© Transcription Marko Deisinger.

September 10, 1917.

Departure! In Innsbruck, half a kilogram of honey purchased for my newsagent. Marmalade no longer available. At lunch, we are pestered by two women, a mother and her daughter, who say that they have built a villa in Igls, mainly out of consideration for her mentally ill son. But he had to be brought recently to a mental hospital, after having stabbed his favorite dog to death. The mother and daughter would now like to rent the villa to tourists, hence their entering into conversation over lunch. The talkativeness and frankness of the two were crushing; and yet in spite of all the tragedy of the background, it seemed comical when the daughter cut her mother off whenever she took up the story, immediately taking over herself; and she seemed so happy babbling away in the tragedy, as if she were in a cheerful mood. The case reminds me vividly of the Pollak family, who likewise never tire of repeating the account of a tragic event. After the coffee house, a short nap in the court garden and the purchase of books, including Schopenhauer's letters (edited by Griesebach), 1 Luther's writings, 2 and so on. With fruit and reading matter, now an afternoon snack in front of the court garden; then marmalade collected, and finally to the train. We ate badly, and for a lot of money. Officers at the neighboring table speak of cruel deprivations on the Isonzo front. When we boarded the train, a scandal occurs that was similar to the one we had encountered the previous year; the conductor's instructions were: "Move forward!" We board the frontmost third-class carriage, which we find further up the train, and which also fill quickly with passengers. The conductor appears there, protesting: "This carriage is reserved for military personnel, please go into the front carriage. Now we have to move further forwards with our heavy baggage and look for a space there, where other passengers have spread themselves in the meantime. The inability of a conductor who is not even able to formulate his first instruction correctly takes its toll on the innocent passengers {768} who are, moreover, totally powerless. In desperation, we take seats in a second-class compartment, to which the porter brings our baggage. We are joined by another, female passenger who, like ourselves, had paid for a third-class ticket; and so the three of us awaited the decision of the conductor, whom we were determined in any event to resist, should he be minded to make us suffer as victims of his incompetence. The matter was, fortunately, resolved in a thoroughly satisfactory way (a tip of 2 Kronen, moreover, did its job) and we were able to ride quite comfortably to Vienna. A Jewish woman in the compartment developed an uncanny curiosity about the fate of her travelling companions; nor was she any less prepared, conversely, to satisfy any curiosity about herself. It turns out that she is a member of the Choral Society and that her daughter studied with Epstein and Door. This gave me occasion to torment her a little. Political conversation made with a Viennese, who is evidently a low-ranking official but unexpectedly displays an obliging disposition.

© Translation William Drabkin.

10. IX. 17

Abreise! In Innsbruck für die Trafikantin ½ kg Honig gekauft. Marmelade nicht mehr erhältlich gewesen. Zu Tisch auf dem Bahnhof von zwei Frauen, Mutter u. Tochter belästigt, die, wie sie erzählten, in Igls eine Villa gebaut haben, hauptsächlich mit Rücksicht auf einen geisteskranken Sohn. Eben dieser mußte aber vor kurzem in ein Irrenhaus gebracht werden, nachdem er den Lieblingshund erstochen. Mutter u. Tochter möchten nun gerne die Villa an Fremde vermieten, daher die Anknüpfung bei Tisch. Die Gesprächigkeit u. Offenherzigkeit beider war niederwerfend; trotz aller Tragik des Hintergrundes mutete es doch komisch an, wenn die Tochter der Mutter ins Wort fiel, so oft diese zur Erzählung ausholte, gleich darauf aber selbst die Erzählung übernahm u. in der Tragik plätschernd sich so wohl fühlte, wie nur irgend in einem heitern Element. Der Fall erinnert mich lebhaft an Familie Pollak, wo man ebenfalls nie müde würde, die Erzählung eines tragischen Ereignisses zu wiederholen. Nach dem Caféhaus im Hofgarten ein Schläfchen. Büchereinkauf, darunter Schopenhauer-Briefe (Griesebach), 1 Luthers Schriften 2 usw. Mit Obst u. Lektüre nun Jause vor dem Hofgarten; dann Marmelade abgeholt u. endlich zur Bahn. Schlecht u. teuer gegessen. Offiziere am Nebentisch erzählen von grausamen Entbehrungen an der Isonzofront. Beim Einsteigen ereignet sich ein ähnlicher Skandal, wie im vorigen Jahre; die Anweisung des Schaffners lautet: nach vorne! Wir steigen in den ersten Wagen dritter Klasse, den wir vorn finden, der auch rasch mit Fahrgästen gefüllt ist. Da erscheint der Schaffner, aufbegehrend: Dieser Wagen ist fürs Militär reserviert, bitte in den ersten wagen. Nun heißt es mit so schweren Colli bepackt noch weiter nach vorne Nnach vielem vorne [sic] Llaufen u. dort Platz suchen, wo inzwischen so viele andere Gäste sich breitgemacht haben. Die Unfähigkeit eines Schaffners, der es nicht einmal zuwege bringt, gleich bei d erie ersten Anweisung auf das Militär hinzuweisen richtig zu formulieren, rächt sich an den schuldlosen Fahrgästen, {768} die übrigens total ohnmächtig sind. In Verzweiflung nehmen wir Platz in einem Abteil 2. Klasse, wohin der Träger die Colli hinüberschafft. Hierher kommt noch ein weiblicher Fahrgast, der ebenfalls wie wir blos 3. Klasse gezahlt hat u. so warten wir nun zu Dritt die Entscheidung des Schaffners ab, dem wir unter allen Umständen zu widerstreben entschlossen sind, falls er Miene machen sollte, uns für seine Unfähigkeit die Opfer büßen lassen zu wollen. Die Sache verlief glücklicherweise aber völlig befriedigend (zwei Kronen Trinkgeld taten wohl außerdem ihre Schuldigkeit) u. wir konnten recht bequem bis Wien fahren. Eine Jüdin im Coupé entwickelte eine unheimliche Neugierde nach den Schicksalen der Fahrtgenossen, wie sie nicht weniger auch umgekehrt bereit ist war, selbst jegliche Neugierde zu befriedigen. Es stellt sich heraus, daß sie Mitglied der Singakademie ist u. daß ihre Tochter Unterricht bei Epstein, u. Door genommen. Dies gab Veranlassung, sie ein wenig auf die Folter zu spannen. Politisches Gespräch mit einem Wiener geführt, der offenbar kleinerer Beamter ist, aber unerwartet willigen Charakter zeigt.

© Transcription Marko Deisinger.

September 10, 1917.

Departure! In Innsbruck, half a kilogram of honey purchased for my newsagent. Marmalade no longer available. At lunch, we are pestered by two women, a mother and her daughter, who say that they have built a villa in Igls, mainly out of consideration for her mentally ill son. But he had to be brought recently to a mental hospital, after having stabbed his favorite dog to death. The mother and daughter would now like to rent the villa to tourists, hence their entering into conversation over lunch. The talkativeness and frankness of the two were crushing; and yet in spite of all the tragedy of the background, it seemed comical when the daughter cut her mother off whenever she took up the story, immediately taking over herself; and she seemed so happy babbling away in the tragedy, as if she were in a cheerful mood. The case reminds me vividly of the Pollak family, who likewise never tire of repeating the account of a tragic event. After the coffee house, a short nap in the court garden and the purchase of books, including Schopenhauer's letters (edited by Griesebach), 1 Luther's writings, 2 and so on. With fruit and reading matter, now an afternoon snack in front of the court garden; then marmalade collected, and finally to the train. We ate badly, and for a lot of money. Officers at the neighboring table speak of cruel deprivations on the Isonzo front. When we boarded the train, a scandal occurs that was similar to the one we had encountered the previous year; the conductor's instructions were: "Move forward!" We board the frontmost third-class carriage, which we find further up the train, and which also fill quickly with passengers. The conductor appears there, protesting: "This carriage is reserved for military personnel, please go into the front carriage. Now we have to move further forwards with our heavy baggage and look for a space there, where other passengers have spread themselves in the meantime. The inability of a conductor who is not even able to formulate his first instruction correctly takes its toll on the innocent passengers {768} who are, moreover, totally powerless. In desperation, we take seats in a second-class compartment, to which the porter brings our baggage. We are joined by another, female passenger who, like ourselves, had paid for a third-class ticket; and so the three of us awaited the decision of the conductor, whom we were determined in any event to resist, should he be minded to make us suffer as victims of his incompetence. The matter was, fortunately, resolved in a thoroughly satisfactory way (a tip of 2 Kronen, moreover, did its job) and we were able to ride quite comfortably to Vienna. A Jewish woman in the compartment developed an uncanny curiosity about the fate of her travelling companions; nor was she any less prepared, conversely, to satisfy any curiosity about herself. It turns out that she is a member of the Choral Society and that her daughter studied with Epstein and Door. This gave me occasion to torment her a little. Political conversation made with a Viennese, who is evidently a low-ranking official but unexpectedly displays an obliging disposition.

© Translation William Drabkin.

Footnotes

1 Arthur Schopenhauer, Schopenhauer's Briefe an Becker, Frauenstädt, v. Doß, Lindner und Asher, sowie andere, bisher nicht gesammelte Briefe aus den Jahren 1813 bis 1860, ed. Eduard Grisebach, 3rd edition (Leipzig: Reclam, 1898).

2 Martin Luther, Luthers Schriften, ed. Eugen Wolff (= Deutsche National-Literatur 15; Stuttgart: Union Deutsche Verlagsgesellschaft, [1891]).