19. Wolkenlos.
— Von Hupka durch Hahofer ein Brot u. 50 Stück Zigarren. — Von Brünauer: (express-Br.): aus Baden: könne erst im Oktober kommen – bittet auch um die dritte Stunde, doch wieder wie im Vorjahr unter Wahrung einer freien Disposition! — An Sophie per Postanweisung letzte Rate für den Juden. 1 — Hans Gärtner erscheint um 11h u. bittet mich um Theorie-Unterricht; dieselbe Unverfrorenheit in allem u. jedem, wie sie seinem Vater eigen war, wenn er skrupellos nach fremdem Gut verlangte; so wenig ist ihm die Häßlichkeit des Zuges bewußt, daß er ohne zu stolpern von einigen Fällen erzählt, in denen sein Vater Schüler z. B. zu Lamberg empfohlen! Wer nun wie ich weiß, was G. z. B. auch für Schönberg getan, kann nicht genug über die Niedrigkeit staunen, mit welcher nun die von allen Dingen unter- {954} richtete Mutter gerade mir ihren Sohn zu entgeltlichem Unterricht schickt, statt eben zu Schönberg oder Schreker. Dazu kommt der häßliche Tric sich nur anzubiedern unter dem Vorwand, mir eine Photographie übergeben zu wollen, die sie dann übrigens bis heute zu übergeben vergißt. — Lie-Liechen kauft 7 kg Zwetschken. — Frau Wally bleibt aus, trotzdem sie Fl. für heute angekündigt. — Nachmittags in die Apotheke, wo ich nebenbei auf die Waage steige u. das Orakel: 86 kg! ablese – also ein plus!; hernach zum Franz-Joseph-Bahnhof, um Erkundigungen über die Möglichkeit der Ueberführung einzuziehen; der Inspektor mißversteht mich u. schickt mich zum Westbahnhof, wo ein Wagen bestellt werden müßte. Nur so viel konnte ich abseits vom Mißverständnis feststellen, daß eine Überführung möglich wäre. — An Wilhelm Eierkarton zurück. — Lie-Liechen kocht die Zwetschken ein. — Von Baron Wächter (Br.): 2 erwartet noch immer meine Mitarbeit; das Honorar für den Unterricht findet er in dem vorliegenden Falle zu hoch; schickt gleichzeitig ein Heft seiner Zeitschrift mit der Analyse eines Schubert-Liedes! — Von der Polizei-Direktion (Br.): Gasanweisung für den Winter. — Von der Feuerversicherung Polizze. — 3 Abends in der Urania: „Jerusalem“; Vortrag des Direktors der Berliner Urania. 4 Alles in allem eine grausame Enttäuschung, auf die ich nach den Erzählungen Adolf Gelbers, auch der Frau Deutsch 5 eigentlich gefaßt war: Wie immer hat die Menschheit sich auch an dem Begriff Jerusalem in gewohnter Weise durch Entstellungen u. Bosheiten versündigt. So einfach die Sache sich begab: die Feststellung des Begriffes von einem unpersönlichen Gott, so einfach schließlich auch die Mühe wiederzuerkennen, die die Erzieher des Volkes aufzuwenden hatten, um es zu solchem abstrakten Glauben zu zwingen, siehe die Bibel – so verworren hat das Bewußtsein der Menschheit diese facta nachträglich verarbeitet u. die Lehre um jeden Erfolg gebracht. Gerade mit der Landschaft würde die Beschaffenheit des Glaubens über- {955} einstimmen: im Kargen u. Kargsten Gottes Größe, in so kleinem Ländchen die Wiege eines ewigen Gedankens (wie im kleinen Menschenhirn oft die Geburt einer ewigen Wahrheit!) – aber kaum überschritt der Gedanke das kleine Land um in die Welt hinauszutreten, ist ihm begegnet, was jeder Wahrheit geschieht, wenn sie auf die Menschheit im Großen stößt: Verkennung, Verzerrung, Verfälschung, dennoch aber die Einbildung des Festhaltens usw. Der Anblick der Gegend u. des Menschentreibens dort kann unser einem jeden Wunsch austreiben, auch nur aus Pietät jene Stätten wieder zu sehen. —© Transcription Marko Deisinger. |
19. Cloudless.
— From Hupka via Hahofer a loaf of bread and fifty cigars. — From Brünauer: (express letter): from Baden: cannot come until October – also requests the third lesson, but again, as last year, only if he can decide when! — To Sophie via postal order the last installment for the Jews. 1 — Hans Gärtner appears at 11:00 a.m. and asks me for tuition in theory; the same effrontery in all matters as was the case with his father, when he unscrupulously coveted something that did not belong to him; so little is he conscious of this ugly trait in himself that without hesitation he tells me about several cases in which his father recommended pupils, for example, to Lamberg! Anyone knowing as I do what Gärtner did, e.g. even for Schönberg, must be astonished at the lowness of his mother, who, knowing all that, {954} now sends her son to me for paid tuition, instead of sending him to Schönberg or to Schreker. Added to this is the ugly trick of ingratiating herself under the pretext of giving me a photograph, which to this very day she has forgotten to hand over. — Lie-Liechen buys 7 kilos of plums. — Mrs. Wally fails to turn up, even after Fl. announces her coming for today. — In the afternoon to the pharmacy, where I casually step onto the scales to read the oracle: 86 kilos! – so an increase!; after that to the Franz-Joseph-Bahnhof to make inquiries about transporting [the coffin by train]; the inspector misunderstands me and sends me to the Westbahnhof, where a carriage would have to be ordered. Aside from the misunderstanding, I did at least gather that the transportation would be possible. —To Wilhelm, egg box returned. — Lie-Liechen stews the plums. — From Baron Wächter (letter): 2 is still expecting my cooperation; in this particular case he finds the fee for the tuition too high; at the same time he sends an issue of his magazine with an analysis of a Schubert song! — From police headquarters (letter): instructions regarding gas for the winter. — Insurance policy from the Fire Insurance. — 3 Evening at the Urania: "Jerusalem"; a lecture by the director of the Berlin Urania: 4 all in all a terrible disappointment, just as I had expected from Adolf Gelber's, and even Mrs. Deutsch's 5 accounts of it: As ever, humanity has committed the sin of taking the concept of Jerusalem and deforming it and demonizing it in the usual way. At the beginning it was easy to establish the concept of an impersonal God and just as easy to recognize the effort which the educators of the people had expended in order to enforce upon them such an abstract belief (see the Bible); subsequently, mankind's consciousness assimilated these facts just as confusedly, and defrauded the teaching of success. It is precisely with the landscape that the nature of belief would be congruent: {955} in the meager, nay the most meager, parts of God's greatness, in such a little patch of land [was] the cradle of an eternal thought (just as in the small space of the human mind [was] often the birth of an eternal truth!) – but hardly had the thought overstepped the boundaries of that small patch of land to go out into the world than it encountered what happens to every truth when it comes up against mankind at large: misjudgement, distortion, falsification, but in spite of this, the illusion of adherence, etc. The sight of the place and of what people are doing there is enough to rid us of the desire to see those places again, even if only out of piety. —© Translation Stephen Ferguson. |
19. Wolkenlos.
— Von Hupka durch Hahofer ein Brot u. 50 Stück Zigarren. — Von Brünauer: (express-Br.): aus Baden: könne erst im Oktober kommen – bittet auch um die dritte Stunde, doch wieder wie im Vorjahr unter Wahrung einer freien Disposition! — An Sophie per Postanweisung letzte Rate für den Juden. 1 — Hans Gärtner erscheint um 11h u. bittet mich um Theorie-Unterricht; dieselbe Unverfrorenheit in allem u. jedem, wie sie seinem Vater eigen war, wenn er skrupellos nach fremdem Gut verlangte; so wenig ist ihm die Häßlichkeit des Zuges bewußt, daß er ohne zu stolpern von einigen Fällen erzählt, in denen sein Vater Schüler z. B. zu Lamberg empfohlen! Wer nun wie ich weiß, was G. z. B. auch für Schönberg getan, kann nicht genug über die Niedrigkeit staunen, mit welcher nun die von allen Dingen unter- {954} richtete Mutter gerade mir ihren Sohn zu entgeltlichem Unterricht schickt, statt eben zu Schönberg oder Schreker. Dazu kommt der häßliche Tric sich nur anzubiedern unter dem Vorwand, mir eine Photographie übergeben zu wollen, die sie dann übrigens bis heute zu übergeben vergißt. — Lie-Liechen kauft 7 kg Zwetschken. — Frau Wally bleibt aus, trotzdem sie Fl. für heute angekündigt. — Nachmittags in die Apotheke, wo ich nebenbei auf die Waage steige u. das Orakel: 86 kg! ablese – also ein plus!; hernach zum Franz-Joseph-Bahnhof, um Erkundigungen über die Möglichkeit der Ueberführung einzuziehen; der Inspektor mißversteht mich u. schickt mich zum Westbahnhof, wo ein Wagen bestellt werden müßte. Nur so viel konnte ich abseits vom Mißverständnis feststellen, daß eine Überführung möglich wäre. — An Wilhelm Eierkarton zurück. — Lie-Liechen kocht die Zwetschken ein. — Von Baron Wächter (Br.): 2 erwartet noch immer meine Mitarbeit; das Honorar für den Unterricht findet er in dem vorliegenden Falle zu hoch; schickt gleichzeitig ein Heft seiner Zeitschrift mit der Analyse eines Schubert-Liedes! — Von der Polizei-Direktion (Br.): Gasanweisung für den Winter. — Von der Feuerversicherung Polizze. — 3 Abends in der Urania: „Jerusalem“; Vortrag des Direktors der Berliner Urania. 4 Alles in allem eine grausame Enttäuschung, auf die ich nach den Erzählungen Adolf Gelbers, auch der Frau Deutsch 5 eigentlich gefaßt war: Wie immer hat die Menschheit sich auch an dem Begriff Jerusalem in gewohnter Weise durch Entstellungen u. Bosheiten versündigt. So einfach die Sache sich begab: die Feststellung des Begriffes von einem unpersönlichen Gott, so einfach schließlich auch die Mühe wiederzuerkennen, die die Erzieher des Volkes aufzuwenden hatten, um es zu solchem abstrakten Glauben zu zwingen, siehe die Bibel – so verworren hat das Bewußtsein der Menschheit diese facta nachträglich verarbeitet u. die Lehre um jeden Erfolg gebracht. Gerade mit der Landschaft würde die Beschaffenheit des Glaubens über- {955} einstimmen: im Kargen u. Kargsten Gottes Größe, in so kleinem Ländchen die Wiege eines ewigen Gedankens (wie im kleinen Menschenhirn oft die Geburt einer ewigen Wahrheit!) – aber kaum überschritt der Gedanke das kleine Land um in die Welt hinauszutreten, ist ihm begegnet, was jeder Wahrheit geschieht, wenn sie auf die Menschheit im Großen stößt: Verkennung, Verzerrung, Verfälschung, dennoch aber die Einbildung des Festhaltens usw. Der Anblick der Gegend u. des Menschentreibens dort kann unser einem jeden Wunsch austreiben, auch nur aus Pietät jene Stätten wieder zu sehen. —© Transcription Marko Deisinger. |
19. Cloudless.
— From Hupka via Hahofer a loaf of bread and fifty cigars. — From Brünauer: (express letter): from Baden: cannot come until October – also requests the third lesson, but again, as last year, only if he can decide when! — To Sophie via postal order the last installment for the Jews. 1 — Hans Gärtner appears at 11:00 a.m. and asks me for tuition in theory; the same effrontery in all matters as was the case with his father, when he unscrupulously coveted something that did not belong to him; so little is he conscious of this ugly trait in himself that without hesitation he tells me about several cases in which his father recommended pupils, for example, to Lamberg! Anyone knowing as I do what Gärtner did, e.g. even for Schönberg, must be astonished at the lowness of his mother, who, knowing all that, {954} now sends her son to me for paid tuition, instead of sending him to Schönberg or to Schreker. Added to this is the ugly trick of ingratiating herself under the pretext of giving me a photograph, which to this very day she has forgotten to hand over. — Lie-Liechen buys 7 kilos of plums. — Mrs. Wally fails to turn up, even after Fl. announces her coming for today. — In the afternoon to the pharmacy, where I casually step onto the scales to read the oracle: 86 kilos! – so an increase!; after that to the Franz-Joseph-Bahnhof to make inquiries about transporting [the coffin by train]; the inspector misunderstands me and sends me to the Westbahnhof, where a carriage would have to be ordered. Aside from the misunderstanding, I did at least gather that the transportation would be possible. —To Wilhelm, egg box returned. — Lie-Liechen stews the plums. — From Baron Wächter (letter): 2 is still expecting my cooperation; in this particular case he finds the fee for the tuition too high; at the same time he sends an issue of his magazine with an analysis of a Schubert song! — From police headquarters (letter): instructions regarding gas for the winter. — Insurance policy from the Fire Insurance. — 3 Evening at the Urania: "Jerusalem"; a lecture by the director of the Berlin Urania: 4 all in all a terrible disappointment, just as I had expected from Adolf Gelber's, and even Mrs. Deutsch's 5 accounts of it: As ever, humanity has committed the sin of taking the concept of Jerusalem and deforming it and demonizing it in the usual way. At the beginning it was easy to establish the concept of an impersonal God and just as easy to recognize the effort which the educators of the people had expended in order to enforce upon them such an abstract belief (see the Bible); subsequently, mankind's consciousness assimilated these facts just as confusedly, and defrauded the teaching of success. It is precisely with the landscape that the nature of belief would be congruent: {955} in the meager, nay the most meager, parts of God's greatness, in such a little patch of land [was] the cradle of an eternal thought (just as in the small space of the human mind [was] often the birth of an eternal truth!) – but hardly had the thought overstepped the boundaries of that small patch of land to go out into the world than it encountered what happens to every truth when it comes up against mankind at large: misjudgement, distortion, falsification, but in spite of this, the illusion of adherence, etc. The sight of the place and of what people are doing there is enough to rid us of the desire to see those places again, even if only out of piety. —© Translation Stephen Ferguson. |
Footnotes1 The reference is to the man who is saying the mourning prayer or kaddish for Schenker’s deceased mother. 2 = OJ 15/5, [2], September 17, 1918. 3 Jeanette writes continuously, without paragraph break. 4 The Berliner Gesellschaft Urania (Berlin Urania Society) was founded in 1888 with the aim of making scientific findings accessible to a lay audience. 5 Possibly Sofie Deutsch |