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OJ 12/6, [40] - Handwritten letter from Jonas to Schenker, dated December 19, 1934
Anbei sende ich Ihnen die Übersetzung eines in einer englischen Musikzeitschrift erschienen Kritik meines Buches. 2 Sie können daraus entnehmen, daß sich der Schwachsinn scheinbar in Permanenz etablieren will. So armselig dummes Zeug und Vorbeigerede und immer wieder – Schönberg. Es scheint da wieder eine starke Konjunktion zu kommen für die Herrschaften, wahrscheinlich aus dem bedenklichen Trugschluß, daß alles, was verfolgt wird, schon deshalb unschuldig sein muß. – Ja, die Wahrheit ist zwar einfacher, aber schwerer, viel schwerer! – Am 22. d. ist die Verhandlung gegen Willi Reich 3 – ich bin ja neugierig, was wir da wieder vorgetischt bekommen werden. 4 Wenn es mir nun irgendwie gelingt, bin ich im Sommer auf 1–2 Wochen in Wien und möchte dort gern {2} einige Vorträge halten, eventuell in Privatkreisen. Ich habe schon an verschiedene Leute geschrieben, glaube aber, daß es nicht anders gehen wird, als mit „Kartenausgabe“, denn sonst versprechen die Leute zu kommen und lassen mich im letzten Moment sitzen. Und ohne Ersatz der Kosten kann ich ja das leider nicht unternehmen. Hans Wolf meinte, daß auf der Universität größeres Interesse dafür bestünde; vielleicht könnte ich dort Vorträge halten. Und zwar vor allem über den Begriff der Klangauskomponierung. Das erscheint mir heute das Allerwichtigste. Bei zweit Vorträgen (so wie ich es jetzt in Hambg. gemacht habe) der erste über Wiederholung im allgemeinen [der] zweite über Auskomponierung als Wiederholung des Naturklanges „in der Zeit“, als Stoff der Musik und Inhalt. Damit erledigt sich alles gerade von „Theorien“ akustischen, 12 Tönen und was sonst noch. – Das wäre schön, wenn das in Wien einmal {3} zustandekäme, nur ist wie gesagt die Verläßlichkeit der meisten Menschen ja sehr zweifelhaft. – Ich hoffe, sehr verehrter Herr Doktor, daß Sie sich gesundheitlich wohl fühlen und zufrieden sind. Kennen Sie übrigens einen Herrn Carl Johann Perl (er hat über das III. Jahrb. In der Musik seinerzeit geschrieben)? 5 Ich bin seit sehr langer Zeit heute Abend wieder bei ihm eingeladen und hoffe, einiges Neues zu hören (auch über F., von dem ich augenblicklich nichts weiß!)[.] So will ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin recht schöne Feiertage und alles Erdenklich Gute wünschen und bleibe
[Review of Jonas, Das Wesen
des musikalischen Kunstwerks (Vienna: Saturn Verlag, 1934):
Monthly Musical Record, December 1934, translated anonymously into German, and enclosed in typescript with OJ 12/6, [40], December 19, 19341] [The numerous typing errors have been silently corrected.] ⇧ Es ist immer störend, wenn der Titel eines Buches etwas anderes zu versprechen scheint, als was sein Inhalt bringt. Hier ist es der Untertitel (der nicht auf dem Umschlag zu finden ist): Eine Einführung zur Lehre Heinrich Schenkers, der wirklich beschreibt, wovon das Buch handelt. Einführungen (d.h. abgekürzte und vereinfachte Ausführungen) von neuen oder schweren Theorien, sind immer willkommen. Viele von uns werden es sich gewünscht haben, daß etwas in dieser Art für Kurth's 3 große Werke und hauptsächlich für seine "Musikpsychologie" geschehen wäre. Und da Dr. Jonas wirklich erklärt wie die wahre Natur der Meisterwerke in der Musik nach Schenker ist, wie ich annehme, wäre es ungerecht über seinen gewählten Titel zu nörgeln – selbst wenn dieser Titel uns dazu verleitet einen Sommer zu erwarten und nicht bloß eine Schwalbe. Heinrich Schenker (geb. 1868) ist nach der neuesten Ausgabe von Riemann's Lexikon, der Führer einer Schule, (unter deren Mitglieder wir Hermann Roth, Hans Weiße und John P. Dunn finden) welche glaubt, daß "die klassische Musik das reine Phänomenon der Musik ist" und welche versucht eine vollkommene Theorie der "Urlinie" (wesentliche und universelle Töne) der Musik, des reinen musikalischen "Kerns" (Substanz und keimende Kraft) aus den klassischen Meisterwerken zu folgern. Der daraus folgernde Begriff, daß die Grundgesetze der Musik unveränderlich und ewig sind, ist kein neuer. Alles hängt von seiner praktischen Ausdeutung ab, wenn die Frage der Anwendung bei Werken, die eine neue Linie beginnen, auftritt. Und da Schenkers Darstellung in keiner Weise leicht zu folgen ist, so ist es selbstverständlich nützlich, sie in gedrängter Form zu haben. Seine Lehre, so wird uns auf dem Umschlag gesagt, hat einen wachsenden Einfluß auf leitende musikalische Kreise. Trotzdem ist es unachtsamer Weise zugelassen, daß seine Harmonielehre (1906) noch immer vergriffen ist. Seine Kontrapunktbände sind von Dunn ins Englische übersetzt. Das führende Prinzip der ganzen Theorie besteht darin, daß der gewöhnliche Accord, öfter noch eine Reihe von einzelnen besonderen Tönen das Modell ist, welches die Natur der Musik gegeben hat. Daher ist Dissonanz stets Bewegung und Übergang, nie Zusammenklang oder beständige Harmonie. Und das Modell der Natur muß die Basis der Musikwerke liefern. Bei diesem Punkt sieht man sofort, wieweit entfernt Schenkers Theorie vom Erfassen aller modernen Entwicklungen ist, wo sie uns die "wahre Natur" der Musik zeigt. Schönbergs Harmonielehre ist ebenso fest auf die klassische Tradition aufgebaut wie Schenkers und doch führt sie in eine vollkommene andere Richtung. In der Tat sagt uns Erwin Stein, Schönbergs Schüler, in einer kürzlich erschienen Broschüre, daß der gewöhnliche Accord von Schönbergs Wortschatz ausgeschlossen ist, da er nur aus ersten Haupttönen besteht, welche nichts neues beifügen, also "überhaupt kein Accord" sind. (Und war es nicht Prof. Tovey, der kürzlich darauf hinwies, daß "Musik nicht aus akkustischen Theorien gemacht werden könnte?) Auch dürfen wir nicht vergessen, daß bereits 1906 (als Schenkers Harmonielehre erschien) Disharmonien ‒ im gewöhnlichen Sinne des Wortes ‒ unter den Händen von Debussy und anderen Meistern vollkommen beständige Harmonien waren. Wenn der Zweck von Schenkers Theorie die Feststellung ist, daß solche Versuche nicht im Einklang mit der "wahren Natur" der Musik sind, dann kann man nur sagen, das ihm bis jetzt nur das Annehmen einer nicht zu beweisenden Sache gelungen ist. © Transcription John Rothgeb, 2006 |
I send you herewith the translation of a review of my book published in an English music journal. 2 You can see from it that the stupidity apparently aims to establish itself permanently. Such miserably obtuse trash and irrelevancy, and always, again ‒ Schoenberg. Once again the powers seem to espy a strong conjunction, probably from the very dubious inference that anything that is assailed must for that very reason be innocent. ‒ Well, the truth, though simpler, is more difficult, far more difficult! The case against Willi Reich 3 comes up on the 22nd ‒ I am curious as to what fare will be served up there. — 4 If at all possible I will be in Vienna for one or two weeks and would like to give {2} several lectures there, possibly in private circles. I have already written to various people, but I think that it will work only with distribution of "tickets of admission," otherwise people promise to come and then leave me in the lurch at the last moment. And absent offset of the costs I unfortunately cannot undertake that. Hans Wolf thought there would be greater interest in this plan at the University; perhaps I could give lectures there. Above all on the concept of composing-out of sonorities. That seems to me today to be the most important topic. In two lectures (which I have just given in Hamburg), the first about repetition in general, the second about composing-out as repetition of the chord of nature "through time," as the substance of music and its content. That takes care of everything in the "theories," acoustical, 12-tone, and whatever. — It would be lovely if that could happen in Vienna, {3} but, as said, the reliability of most people is very dubious. I hope, esteemed Dr. [Schenker], that you are feeling physically well and contented. Do you, by the way, know a Mr. Carl Johann Perl (he wrote about Yearbook III at the time in Die Musik )? 5 I am invited, after a very long interim, to visit him again this evening and I hope to hear some news (including news of Furtwängler, of whom I know nothing at the moment!)[.] Thus I want to wish you and your good wife very happy holidays, and every imaginable boon, and remain, with most devoted greetings,
© Translation John Rothgeb, 2006 |
Anbei sende ich Ihnen die Übersetzung eines in einer englischen Musikzeitschrift erschienen Kritik meines Buches. 2 Sie können daraus entnehmen, daß sich der Schwachsinn scheinbar in Permanenz etablieren will. So armselig dummes Zeug und Vorbeigerede und immer wieder – Schönberg. Es scheint da wieder eine starke Konjunktion zu kommen für die Herrschaften, wahrscheinlich aus dem bedenklichen Trugschluß, daß alles, was verfolgt wird, schon deshalb unschuldig sein muß. – Ja, die Wahrheit ist zwar einfacher, aber schwerer, viel schwerer! – Am 22. d. ist die Verhandlung gegen Willi Reich 3 – ich bin ja neugierig, was wir da wieder vorgetischt bekommen werden. 4 Wenn es mir nun irgendwie gelingt, bin ich im Sommer auf 1–2 Wochen in Wien und möchte dort gern {2} einige Vorträge halten, eventuell in Privatkreisen. Ich habe schon an verschiedene Leute geschrieben, glaube aber, daß es nicht anders gehen wird, als mit „Kartenausgabe“, denn sonst versprechen die Leute zu kommen und lassen mich im letzten Moment sitzen. Und ohne Ersatz der Kosten kann ich ja das leider nicht unternehmen. Hans Wolf meinte, daß auf der Universität größeres Interesse dafür bestünde; vielleicht könnte ich dort Vorträge halten. Und zwar vor allem über den Begriff der Klangauskomponierung. Das erscheint mir heute das Allerwichtigste. Bei zweit Vorträgen (so wie ich es jetzt in Hambg. gemacht habe) der erste über Wiederholung im allgemeinen [der] zweite über Auskomponierung als Wiederholung des Naturklanges „in der Zeit“, als Stoff der Musik und Inhalt. Damit erledigt sich alles gerade von „Theorien“ akustischen, 12 Tönen und was sonst noch. – Das wäre schön, wenn das in Wien einmal {3} zustandekäme, nur ist wie gesagt die Verläßlichkeit der meisten Menschen ja sehr zweifelhaft. – Ich hoffe, sehr verehrter Herr Doktor, daß Sie sich gesundheitlich wohl fühlen und zufrieden sind. Kennen Sie übrigens einen Herrn Carl Johann Perl (er hat über das III. Jahrb. In der Musik seinerzeit geschrieben)? 5 Ich bin seit sehr langer Zeit heute Abend wieder bei ihm eingeladen und hoffe, einiges Neues zu hören (auch über F., von dem ich augenblicklich nichts weiß!)[.] So will ich Ihnen und Ihrer verehrten Frau Gemahlin recht schöne Feiertage und alles Erdenklich Gute wünschen und bleibe
[Review of Jonas, Das Wesen
des musikalischen Kunstwerks (Vienna: Saturn Verlag, 1934):
Monthly Musical Record, December 1934, translated anonymously into German, and enclosed in typescript with OJ 12/6, [40], December 19, 19341] [The numerous typing errors have been silently corrected.] ⇧ Es ist immer störend, wenn der Titel eines Buches etwas anderes zu versprechen scheint, als was sein Inhalt bringt. Hier ist es der Untertitel (der nicht auf dem Umschlag zu finden ist): Eine Einführung zur Lehre Heinrich Schenkers, der wirklich beschreibt, wovon das Buch handelt. Einführungen (d.h. abgekürzte und vereinfachte Ausführungen) von neuen oder schweren Theorien, sind immer willkommen. Viele von uns werden es sich gewünscht haben, daß etwas in dieser Art für Kurth's 3 große Werke und hauptsächlich für seine "Musikpsychologie" geschehen wäre. Und da Dr. Jonas wirklich erklärt wie die wahre Natur der Meisterwerke in der Musik nach Schenker ist, wie ich annehme, wäre es ungerecht über seinen gewählten Titel zu nörgeln – selbst wenn dieser Titel uns dazu verleitet einen Sommer zu erwarten und nicht bloß eine Schwalbe. Heinrich Schenker (geb. 1868) ist nach der neuesten Ausgabe von Riemann's Lexikon, der Führer einer Schule, (unter deren Mitglieder wir Hermann Roth, Hans Weiße und John P. Dunn finden) welche glaubt, daß "die klassische Musik das reine Phänomenon der Musik ist" und welche versucht eine vollkommene Theorie der "Urlinie" (wesentliche und universelle Töne) der Musik, des reinen musikalischen "Kerns" (Substanz und keimende Kraft) aus den klassischen Meisterwerken zu folgern. Der daraus folgernde Begriff, daß die Grundgesetze der Musik unveränderlich und ewig sind, ist kein neuer. Alles hängt von seiner praktischen Ausdeutung ab, wenn die Frage der Anwendung bei Werken, die eine neue Linie beginnen, auftritt. Und da Schenkers Darstellung in keiner Weise leicht zu folgen ist, so ist es selbstverständlich nützlich, sie in gedrängter Form zu haben. Seine Lehre, so wird uns auf dem Umschlag gesagt, hat einen wachsenden Einfluß auf leitende musikalische Kreise. Trotzdem ist es unachtsamer Weise zugelassen, daß seine Harmonielehre (1906) noch immer vergriffen ist. Seine Kontrapunktbände sind von Dunn ins Englische übersetzt. Das führende Prinzip der ganzen Theorie besteht darin, daß der gewöhnliche Accord, öfter noch eine Reihe von einzelnen besonderen Tönen das Modell ist, welches die Natur der Musik gegeben hat. Daher ist Dissonanz stets Bewegung und Übergang, nie Zusammenklang oder beständige Harmonie. Und das Modell der Natur muß die Basis der Musikwerke liefern. Bei diesem Punkt sieht man sofort, wieweit entfernt Schenkers Theorie vom Erfassen aller modernen Entwicklungen ist, wo sie uns die "wahre Natur" der Musik zeigt. Schönbergs Harmonielehre ist ebenso fest auf die klassische Tradition aufgebaut wie Schenkers und doch führt sie in eine vollkommene andere Richtung. In der Tat sagt uns Erwin Stein, Schönbergs Schüler, in einer kürzlich erschienen Broschüre, daß der gewöhnliche Accord von Schönbergs Wortschatz ausgeschlossen ist, da er nur aus ersten Haupttönen besteht, welche nichts neues beifügen, also "überhaupt kein Accord" sind. (Und war es nicht Prof. Tovey, der kürzlich darauf hinwies, daß "Musik nicht aus akkustischen Theorien gemacht werden könnte?) Auch dürfen wir nicht vergessen, daß bereits 1906 (als Schenkers Harmonielehre erschien) Disharmonien ‒ im gewöhnlichen Sinne des Wortes ‒ unter den Händen von Debussy und anderen Meistern vollkommen beständige Harmonien waren. Wenn der Zweck von Schenkers Theorie die Feststellung ist, daß solche Versuche nicht im Einklang mit der "wahren Natur" der Musik sind, dann kann man nur sagen, das ihm bis jetzt nur das Annehmen einer nicht zu beweisenden Sache gelungen ist. © Transcription John Rothgeb, 2006 |
I send you herewith the translation of a review of my book published in an English music journal. 2 You can see from it that the stupidity apparently aims to establish itself permanently. Such miserably obtuse trash and irrelevancy, and always, again ‒ Schoenberg. Once again the powers seem to espy a strong conjunction, probably from the very dubious inference that anything that is assailed must for that very reason be innocent. ‒ Well, the truth, though simpler, is more difficult, far more difficult! The case against Willi Reich 3 comes up on the 22nd ‒ I am curious as to what fare will be served up there. — 4 If at all possible I will be in Vienna for one or two weeks and would like to give {2} several lectures there, possibly in private circles. I have already written to various people, but I think that it will work only with distribution of "tickets of admission," otherwise people promise to come and then leave me in the lurch at the last moment. And absent offset of the costs I unfortunately cannot undertake that. Hans Wolf thought there would be greater interest in this plan at the University; perhaps I could give lectures there. Above all on the concept of composing-out of sonorities. That seems to me today to be the most important topic. In two lectures (which I have just given in Hamburg), the first about repetition in general, the second about composing-out as repetition of the chord of nature "through time," as the substance of music and its content. That takes care of everything in the "theories," acoustical, 12-tone, and whatever. — It would be lovely if that could happen in Vienna, {3} but, as said, the reliability of most people is very dubious. I hope, esteemed Dr. [Schenker], that you are feeling physically well and contented. Do you, by the way, know a Mr. Carl Johann Perl (he wrote about Yearbook III at the time in Die Musik )? 5 I am invited, after a very long interim, to visit him again this evening and I hope to hear some news (including news of Furtwängler, of whom I know nothing at the moment!)[.] Thus I want to wish you and your good wife very happy holidays, and every imaginable boon, and remain, with most devoted greetings,
© Translation John Rothgeb, 2006 |
Footnotes1 Receipt of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 4/8, p. 3964, December 16‒23 [summary], 1934: "Von Jonas (Br.): beiliegend eine englische Kritik über Jonas’ Buch u. Schenkers Theorie." ("From Jonas (letter): an English review of Jonas’s book and Schenker’s theory is enclosed."). This is the last letter from Jonas that Schenker read. 2 A review in Monthly Musical Record, December 1934. See below. 3 See OC 44/9, October 27, 1934, and OJ 12/6, [39], November 28, 1934. 4 Schenker inserts an emdash and then continues writing without paragraph-break 5 Carl Johann Perl, "Heinrich Schenker: Das Meisterwerk in der Musik. Ein Jahrbuch, Band III. Drei-Masken-Verlag, Berlin‒München," Die Musik 23/9 (June 1931). A clipping of this review is preserved in Schenker's scrapbook at OC 2/p. 83. |
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Commentary
Digital version created: 2015-12-03 |