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OJ 6/7, [30] - Handwritten letter from Schenker to Moriz Violin, dated December 19, 1926
Dein „Glück im Unglück“ hat uns wundersam ergriffen, – daß es heute so etwas noch gibt, ist ein Märchen vor Gott. Desto besser, wenn es dir zufliegt. Ich wollte postwendend antworten, so beglückt war ich über diese Mitteilung, u. siehe, was draus geworden!! Nun, wie geht es heute dem l. tapferen Jungen? Wenn du eine Sekunde erübrigst, setzte eine Zeile auf. Als die Sendung von Frl. B. kam, 2 war ich nicht wenig – ärgerich über den unbewußten Mutwillen dieses gewiß sehr netten Mädchens, die dich mitten in solchem Elend mit solchen überflüßigen Dingen plagt. Ich bin dazu aus Verlegenheit gekommen: da sie nichts weniger als Pianistin ist, {2} sie wenig Liebe u. fast keine Geduld zu in den Fragen der Ausführung bezeigt, griff ich aus Not zu Url-Skizzen in leichten Fällen. Ich habe aber genug Schüler u. Schülerinnen, mit denen ich diese Sachen gar nicht erörtern: die einen wollen es selbst nicht, da es ihnen eingestandenermaßen zu schwer ist, die andern haben zu wenig Stunden, um sich solchen Luxus zu gönnen u.s.w[.] Kurz u. gut: die Url-Studien, die dasselbe wie Stimmf., Form, Stufen bedeuten, sind durchaus nicht obligater Gegenstand auf meiner „Akademie“, gar viele Umstände stehen da im Wege. Z. B. sind es augenblicklich nur 3½ Schüler, die so etwas machen, die zwei älteren (Elias u. Brünauer) u. Hoboken u. Albersheim/2 von den jüngeren (bei dem letzteren nur so so), die {3} übrigen lasse ich spielen, ich erläutere viel, aber die Hand weg von jenen Dingen. Ich sage dir das ausdrücklich, weil mein Verfahren mit Frl. B. dir vielleicht eine falsche Vorstellung erweckt haben könnte. Zur Url. gehört viel Musse † , auch Anstrengung der Vision, der Begläubigung durch die einzelnen Schichten – ist es denn nicht ein Wunder, wenn sich ein Klang durch eine ganzes Stück ausdrückt, alle Wege u. Stege in eine Horizontale münden, die eben der Klang ist, u. so Stück, Tonalität, durch eine diatonische Tonreihe in Sekundschritten lebendig wird, ist ein solches Eins † nicht ein Wunder des Geistes, desto größer, ja unfreiwilliger es ist! –, da lasse ich nicht Alle darauf herumtrampeln. Die Fratzen von Schülern würden es wie Kinder gern machen: ohne eigentlichen Zwang immer zu fragen, heute in diesem, morgen in jenem Stück; {4} kein Stück imponiert ihnen, kein Geheimnis, es kostet ja nur ein Fragen, der Lehrer mag sehen, wie er sich mit solchen tiefen Meistern über- u. unterirdisch in Verbindung setzt! Ich werde ja körperlich zugrunde gehen, wenn ich den Allen Alles gewähren ließe: ich dosiere mäßig. Freilich, je mehr ich arbeite, desto weniger verstehe ich, wie gerade mir das einfallen wollte. Nun habe ich das Bewußtsein, etwas der Welt u. der Musik geschenkt zu haben, was aus der Welt u. aus der Musik nie mehr kommt. Könnte ich nur 2000 Jahre leben, um das große Gut zu bergen! Augenblicklich arbeite ich am „Freien Satz“, dem Krönungswerk. (An Frl. Becker gebe ich Bericht über die Arbeit, mit Absicht kurz, um sie von solchen Dingen abzulenken, die bei ihr nur Spielerei sein können.) 3 Dir, Frau Wally, den Kinderchen von mir u. meinem LieLiechen herzlichste Grüße u. beste Wünsche zu Weihnacht u. Neujahr dein [signed:] H © Transcription William Drabkin, 2013 |
Your "fortune in misfortune" moved us in the wondrous way – that such a thing exists today is a fairy-tale before God. All the better when it befalls you. I wanted to reply by return of post, so overjoyed was I by your communication; and see what has come of it!! And now, how is the dear, brave boy? If you have a moment, write me a line. When the mail from Miss Becker arrived, 2 I was not a little angry about the unconscious shamelessness of this girl – who is certainly very nice – who is plaguing you with such superfluous matters in the midst of such sorrow. In desperation I came up with the following: as she is anything but a pianist, {2} showing little love and almost no patience in matters of execution, I grabbed in desperation at Urlinie sketches at an elementary level. I have, however, plenty of pupils with whom I do not at all discuss this sort of thing: some do not want it themselves, as it is somewhat too difficult for them; other have two few lessons to profit from such a luxury, etc. To put it briefly: the studies of the Urlinie, which amount to the same as voice-leading, form and scale-step, are by no means an obligatory part of my "Academy": a great many circumstances get in the way. For example, at the moment there are only 3½ pupils who do this sort of thing, the two elder (Elias and Brünauer) and Hoboken and ½Albersheim among the younger (the last of whom only so-so); {3} the remaining students I let play, explaining much but keeping my hands off such things. I say this to you expressly, since my experience with Miss Becker could possibly have given rise to a false impression. The Urlinie requires a great deal of time † , also an exertion of the imagination and of verification through the individual layers – is it not indeed a wonder that a single chord can express itself through an entire piece, all the byways and bridges joining together in a single horizontal entity which is that very chord, so that the piece and the tonality are animated by a diatonic series of tones proceeding by step motion? Is not such a unity † a wonder of the intellect? All the greater when it is more involuntary! I do not let everyone trample about on it. My pupils would be quick to make grimaces, like children: without real compulsion, they would constantly be asking questions, today about one piece, tomorrow about another. {4} No piece impresses them, no secret; the only cost, after all, is the asking of questions; the teacher can see how he puts himself into a relationship with such deep masters, transcendentally and subterraneously! I would become a physical wreck if I entrusted all this to everyone: so I give out moderate doses. Of course, the more I work, the less I understand how I myself hit upon it. Now I am conscious of having made a gift to the world, and to music, one which will never come again from the world or from music. If only I could live 2000 years, to rescue the great treasure! At the moment I am working on Der freie Satz , my crowning work. (I shall send Miss Becker a report about the work, with the simple intention of steering her away from such things, which can only be playthings for her.) 3 To you, Wally, the children, from me and my Lie-Liechen, most heartfelt greetings and best wishes for Christmas and the New Year. dein [signed:] H © Translation William Drabkin, 2013 |
Dein „Glück im Unglück“ hat uns wundersam ergriffen, – daß es heute so etwas noch gibt, ist ein Märchen vor Gott. Desto besser, wenn es dir zufliegt. Ich wollte postwendend antworten, so beglückt war ich über diese Mitteilung, u. siehe, was draus geworden!! Nun, wie geht es heute dem l. tapferen Jungen? Wenn du eine Sekunde erübrigst, setzte eine Zeile auf. Als die Sendung von Frl. B. kam, 2 war ich nicht wenig – ärgerich über den unbewußten Mutwillen dieses gewiß sehr netten Mädchens, die dich mitten in solchem Elend mit solchen überflüßigen Dingen plagt. Ich bin dazu aus Verlegenheit gekommen: da sie nichts weniger als Pianistin ist, {2} sie wenig Liebe u. fast keine Geduld zu in den Fragen der Ausführung bezeigt, griff ich aus Not zu Url-Skizzen in leichten Fällen. Ich habe aber genug Schüler u. Schülerinnen, mit denen ich diese Sachen gar nicht erörtern: die einen wollen es selbst nicht, da es ihnen eingestandenermaßen zu schwer ist, die andern haben zu wenig Stunden, um sich solchen Luxus zu gönnen u.s.w[.] Kurz u. gut: die Url-Studien, die dasselbe wie Stimmf., Form, Stufen bedeuten, sind durchaus nicht obligater Gegenstand auf meiner „Akademie“, gar viele Umstände stehen da im Wege. Z. B. sind es augenblicklich nur 3½ Schüler, die so etwas machen, die zwei älteren (Elias u. Brünauer) u. Hoboken u. Albersheim/2 von den jüngeren (bei dem letzteren nur so so), die {3} übrigen lasse ich spielen, ich erläutere viel, aber die Hand weg von jenen Dingen. Ich sage dir das ausdrücklich, weil mein Verfahren mit Frl. B. dir vielleicht eine falsche Vorstellung erweckt haben könnte. Zur Url. gehört viel Musse † , auch Anstrengung der Vision, der Begläubigung durch die einzelnen Schichten – ist es denn nicht ein Wunder, wenn sich ein Klang durch eine ganzes Stück ausdrückt, alle Wege u. Stege in eine Horizontale münden, die eben der Klang ist, u. so Stück, Tonalität, durch eine diatonische Tonreihe in Sekundschritten lebendig wird, ist ein solches Eins † nicht ein Wunder des Geistes, desto größer, ja unfreiwilliger es ist! –, da lasse ich nicht Alle darauf herumtrampeln. Die Fratzen von Schülern würden es wie Kinder gern machen: ohne eigentlichen Zwang immer zu fragen, heute in diesem, morgen in jenem Stück; {4} kein Stück imponiert ihnen, kein Geheimnis, es kostet ja nur ein Fragen, der Lehrer mag sehen, wie er sich mit solchen tiefen Meistern über- u. unterirdisch in Verbindung setzt! Ich werde ja körperlich zugrunde gehen, wenn ich den Allen Alles gewähren ließe: ich dosiere mäßig. Freilich, je mehr ich arbeite, desto weniger verstehe ich, wie gerade mir das einfallen wollte. Nun habe ich das Bewußtsein, etwas der Welt u. der Musik geschenkt zu haben, was aus der Welt u. aus der Musik nie mehr kommt. Könnte ich nur 2000 Jahre leben, um das große Gut zu bergen! Augenblicklich arbeite ich am „Freien Satz“, dem Krönungswerk. (An Frl. Becker gebe ich Bericht über die Arbeit, mit Absicht kurz, um sie von solchen Dingen abzulenken, die bei ihr nur Spielerei sein können.) 3 Dir, Frau Wally, den Kinderchen von mir u. meinem LieLiechen herzlichste Grüße u. beste Wünsche zu Weihnacht u. Neujahr dein [signed:] H © Transcription William Drabkin, 2013 |
Your "fortune in misfortune" moved us in the wondrous way – that such a thing exists today is a fairy-tale before God. All the better when it befalls you. I wanted to reply by return of post, so overjoyed was I by your communication; and see what has come of it!! And now, how is the dear, brave boy? If you have a moment, write me a line. When the mail from Miss Becker arrived, 2 I was not a little angry about the unconscious shamelessness of this girl – who is certainly very nice – who is plaguing you with such superfluous matters in the midst of such sorrow. In desperation I came up with the following: as she is anything but a pianist, {2} showing little love and almost no patience in matters of execution, I grabbed in desperation at Urlinie sketches at an elementary level. I have, however, plenty of pupils with whom I do not at all discuss this sort of thing: some do not want it themselves, as it is somewhat too difficult for them; other have two few lessons to profit from such a luxury, etc. To put it briefly: the studies of the Urlinie, which amount to the same as voice-leading, form and scale-step, are by no means an obligatory part of my "Academy": a great many circumstances get in the way. For example, at the moment there are only 3½ pupils who do this sort of thing, the two elder (Elias and Brünauer) and Hoboken and ½Albersheim among the younger (the last of whom only so-so); {3} the remaining students I let play, explaining much but keeping my hands off such things. I say this to you expressly, since my experience with Miss Becker could possibly have given rise to a false impression. The Urlinie requires a great deal of time † , also an exertion of the imagination and of verification through the individual layers – is it not indeed a wonder that a single chord can express itself through an entire piece, all the byways and bridges joining together in a single horizontal entity which is that very chord, so that the piece and the tonality are animated by a diatonic series of tones proceeding by step motion? Is not such a unity † a wonder of the intellect? All the greater when it is more involuntary! I do not let everyone trample about on it. My pupils would be quick to make grimaces, like children: without real compulsion, they would constantly be asking questions, today about one piece, tomorrow about another. {4} No piece impresses them, no secret; the only cost, after all, is the asking of questions; the teacher can see how he puts himself into a relationship with such deep masters, transcendentally and subterraneously! I would become a physical wreck if I entrusted all this to everyone: so I give out moderate doses. Of course, the more I work, the less I understand how I myself hit upon it. Now I am conscious of having made a gift to the world, and to music, one which will never come again from the world or from music. If only I could live 2000 years, to rescue the great treasure! At the moment I am working on Der freie Satz , my crowning work. (I shall send Miss Becker a report about the work, with the simple intention of steering her away from such things, which can only be playthings for her.) 3 To you, Wally, the children, from me and my Lie-Liechen, most heartfelt greetings and best wishes for Christmas and the New Year. dein [signed:] H © Translation William Drabkin, 2013 |
Footnotes1 Writing of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 3/9, p. 3013 (December 19, 1926): "An Fl. (Br.): ermahne ihn, sich der müßigen Neugier von Schülerinnen zu erwehren u. die Urlinie vorsichtig zu dosieren; schreibe in diesem Sinne an Frl. Bekker." ("To Floriz (letter): I advise him to shield himself from the useless curiosity of [his] female pupils, and to give out the Urlinie in carefully measure doses; I shall write in these terms to Miss Becker.") 2 Receipt of this mail is recorded in Schenker's diary at OJ 3/9, p. 3004 (November 22, 1926): "Von Frl. Bekker (Br.): eine angebliche Urlinie zu op. 109! will die Arbeit unter Anleitung Violins gemacht haben." ("From Miss Becker (Br.): a supposed Urlinie for Op. 109! She is supposed to have done the work under Violin's supervision."). Schenker's reply is recorded in the diary on p. 3013–14 (December 19, 1926): "An Frl. Bekker (Br.): Korrektur des Blattes zu op. 109, 1. Satz; empfehle, sich mehr an das Instrument zu halten, die Urlinie mag nachfolgen." ("To Miss Becker (Br.): correction of the page concerning the first movement of Op. 109; I advise her to concentrate more on her instrument; the Urlinie can come later.") 3 No paragraph-break in source. |
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Commentary
Digital version created: 2013-06-12 |