17. VI. 15
Brief von Baronin Bach, worin sie sich mit der Vertagung der zwischen uns schwebenden Angelegenheit auf den Herbst einverstanden erklärt. *BriefOJ 5/45, [1] an Weisse, worin ich meinen Standpunkt bezüglich des in Anspruch genommenen Honorars so umfassend als möglich darlege. Der Brief wird copiert u. samt Büchern durch einen Dienstmann an ihn befördert. *Brief von Frau Colbert mit Absage. — Frau Deutsch zu Tisch. — *„MM. N. N.“ prägen das Wort „Krüppel-Entente“. *Rothberger erkundigt sich vormittags, wann er uns den Wagen zu schicken hätte, um uns abholen zu lassen. Um 6h erwartet uns der Wagen u. wir fahren in seine Sommerwohnung hinaus. Schon dies allein ist eine Aufmerksamkeit, die in Wien nicht gerade ortsüblich zu nennen ist. Ueberboten wird diese Aufmerksamkeit noch dadurch, daß er am selben Abend niemand außer uns eingeladen hat, so daß wir nun volle Freiheit haben, den Gesprächen nicht nur die nötige Wendung, sondern auch den nötigen Umfang zu geben. Viel Amüsantes erzählt R. aus seinen englischen Erlebnissen. Einmal, zo so erzählt er, war er dort zu Gast bei einem der hervorragendsten Tuch-Fabrikanten u. habe einer Geschäftsabwicklung beigewohnt, die nicht länger als 15 Min. dauerte u. dem Fabrikanten viele Hunderttausend Frank eintrug! Trotz enormem Einkommen zeigte aber der engl. Fabrikant nicht die geringste Neigung, das Geld auch für schöne Zwecke zu verwenden. So hiengen in seinen Zimmern nur minderwertige Stiche, wie sie in Deutschland auch bei den Aermsten anzutreffen sind. Von Büchern aber war weit u. breit {956} kein einziges Exemplar zu sehen! Die Geistesbeschaffenheit des engl. Fabrikanten wußte R. am besten durch folgende Erzählung zu charakterisieren: Eines Tages machte R. einen Ausflug, um gewisse historische Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Als er heimkam, erkundigte sich der Fabrikant nach seinem Ausflug. Nun erzählte R., er habe das Stuart-, 1 das Shakespeare-Haus besichtigt u. auch das von Walter Scott. „Ist das der“, fragte der Fabrikant „der Cheviot 2 erzeugt?“ Da warf die Frau des Fabrikanten ein: „Aber Henry “, das ist ja der Dichter, der die schönen Kindermärchen geschrieben hat“. – All' diese Erzählungen gaben mir nun Gelegenheit, R. gegenüber meine Gedanken über die Geldverwendungen unserer Reichen auszudrücken, u. dadurch inspiriert, daß ich auch zu einem Musiker sprach, fand ich das, wie ich glaube, treffende Wort dafür: Der Reichtum solcher Menschen erfahre sozusagen keine thematische Verarbeitung. Besonders viel sprachen wir über die Portraits großer Männer. Ich meinte, die Maler wüßten selten den Portraits dasjenige zu geben, worin die Größe des Mannes ihren Ausdruck finden müßte. So wies ich z. B. auf die Mozart-Bildnisse hin, denen niemals die ewige Größe des Komponisten u. Menschen anzumerken wäre. Diese bedauerliche Tatsache glaubte ich darauf zurückführen zu müssen, daß die Maler, im Augenblicke, da der große Mann noch lebend, also mit allen Merkmalen auch des Alltags behaftet, ihnen gegenüber dasteht, nicht die nötige Kenntnis vom Umfang der Größe des Zzu- vVerewigenden besitzen u. ihn daher kleiner sehen, als er sich im Laufe der Jahrhunderte erweist. Mir schwebt dabei auch die vielen Brahms-Bildnisse vor, die in keinem Zug verraten, welch' dominierenden Wert der Meister für die künftigen Jahrhunderte u. Jahrtausende bedeutet. Aus all' dem folgerte ich, daß die Maler gar zu sehr nur als Zeitgenossen ihre Aufgaben lösen u. nicht die Fähigkeit besitzen, Unsterblichkeit aus Haltung u. Zügen oder aus Gesprächs- {957} wendungen des Meisters heraus zu wittern. – Was letzteren Punkt betrifft, stimmte mir der Gastgeber zu, indem er sogar noch weiter ging u. die Behauptung aufstellte, den Malern fehle es überhaupt an Bildung. Was aber den Kern der Frage anlangt schien er nicht meiner Ansicht. Was mich selbst dabei aber am meisten freute war d ieer Umstand, daß ich noch immer an dem seit frühen Jahren (so auch in der Wochenschrift „Die Zeit“ über das Tilgnerische Mozart-Monument) 3 ausgesprochenen Standpunkt unwandelbar festhalte, ein Umstand, der schon allein die Richtigkeit meiner Anschauung verbürgt. – Spät nachts fuhren wir im selben Wagen heim, voller Anerkennung für einen so seltenen Zug der Liebenswürdigkeit. *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 17, 1915.
Letter from Baroness Bach in which, with regard to the delay of the matter between us, she agrees to wait until the autumn. *LetterOJ 5/45, [1] to Weisse in which I explain my standpoint regarding the lesson fee in question as comprehensively as possible. The letter is copied and is sent via a servant, together with books. *Letter from Mrs. Colbert, with cancellation. — Mrs. Deutsch at lunch. — *The Münchner Neueste Nachrichten coins the word "Cripple Entente." *In the morning, Rothberger asks when he should send the coach to collect us. At 6 o'clock the coach is waiting for us and we drive to his summer residence. Already this in itself is a courtesy that cannot be regarded as something that would ordinarily happen in Vienna. The courtesy was even surpassed by the fact that he did not invite anyone but us on the same evening, so that we had complete freedom to give the conversations not only the required expression but also the required scope. Rothberger tells us many amusing things about his English experiences. Once, so he says, he was there as the guest of one of the leading cloth manufacturers, and he was present at a business deal that took no longer than 15 minutes and brought the manufacturer many hundreds of thousands of francs! In spite of his enormous income, however, the English manufacturer did not show the least inclination to put his money towards any beautiful purposes. Thus only engravings of little value, the sort one even finds in the poorest houses in Germany, hung in his rooms. Of books, there was not a single one to be seen the length and breadth of the house! {956} The intellectual qualities of the English manufacturer could best be characterized by Rothberger by the following story: One day Rothberger made an excursion to see certain historical places of interest. When he returned home, the manufacturer asked him about his trip. Now Rothberger tells him that he visited the Stuart House 1 , the Shakespeare house, and also the home of Walter Scott. "Is he," the manufacturer enquired, "the one who produced Cheviot wool 2 ?" The manufacturer's wife then intervened: "No, Henry, that is of course the poet, who wrote those beautiful children's fairy tales." – All of these stories now gave me occasion to express my thoughts to Rothberger about the uses to which our wealthy people put their money; and further inspired by that fact that I was speaking to a musician, I found the trenchant words for it: the wealth of such people undergoes, so to speak, no thematic development. We spoke for quite a long time about the portraits of great men. I said that painters were rarely able to give their portraits that element in which the greatness of the man would find its expression. Thus, for example, I referred to the portraits of Mozart in which the eternal greatness of the composer and man was never to be observed. This regrettable fact could, I believed, be traced to the fact that the painters, at a time when the great man was still alive, that is, when he stood in front of them burdened by all the characteristics of everyday life, did not possess the necessary knowledge of the extent of the greatness of one who would be immortalized; and therefore they saw him as smaller than he would prove to be in the course of centuries. I am also thinking in this context of the many portraits of Brahms, which show no traces of that dominating value the master will signify for future centuries and millennia. From all this I concluded that the painters fulfill their assignments far too much as contemporaries and do not have the ability to form an image of immortality from the master's behavior and facial expressions, or from his turns of phrase. {957} – As far as the last point was concerned, my host was in agreement in that he went even further by claiming that painters are altogether lacking in education. But concerning the central point of the matter, he did not appear to share my view. What delighted me most of all was the circumstance that I have unswervingly held onto the opinion that I expressed in my early years (and also in the weekly periodical Die Zeit about Tilgner's Mozart monument) 3 , a circumstance that even on its own attests to the correctness of my opinion. – Late at night, we travelled home in the same coach, full of appreciation for such a rare act of kindness. *
© Translation William Drabkin. |
17. VI. 15
Brief von Baronin Bach, worin sie sich mit der Vertagung der zwischen uns schwebenden Angelegenheit auf den Herbst einverstanden erklärt. *BriefOJ 5/45, [1] an Weisse, worin ich meinen Standpunkt bezüglich des in Anspruch genommenen Honorars so umfassend als möglich darlege. Der Brief wird copiert u. samt Büchern durch einen Dienstmann an ihn befördert. *Brief von Frau Colbert mit Absage. — Frau Deutsch zu Tisch. — *„MM. N. N.“ prägen das Wort „Krüppel-Entente“. *Rothberger erkundigt sich vormittags, wann er uns den Wagen zu schicken hätte, um uns abholen zu lassen. Um 6h erwartet uns der Wagen u. wir fahren in seine Sommerwohnung hinaus. Schon dies allein ist eine Aufmerksamkeit, die in Wien nicht gerade ortsüblich zu nennen ist. Ueberboten wird diese Aufmerksamkeit noch dadurch, daß er am selben Abend niemand außer uns eingeladen hat, so daß wir nun volle Freiheit haben, den Gesprächen nicht nur die nötige Wendung, sondern auch den nötigen Umfang zu geben. Viel Amüsantes erzählt R. aus seinen englischen Erlebnissen. Einmal, zo so erzählt er, war er dort zu Gast bei einem der hervorragendsten Tuch-Fabrikanten u. habe einer Geschäftsabwicklung beigewohnt, die nicht länger als 15 Min. dauerte u. dem Fabrikanten viele Hunderttausend Frank eintrug! Trotz enormem Einkommen zeigte aber der engl. Fabrikant nicht die geringste Neigung, das Geld auch für schöne Zwecke zu verwenden. So hiengen in seinen Zimmern nur minderwertige Stiche, wie sie in Deutschland auch bei den Aermsten anzutreffen sind. Von Büchern aber war weit u. breit {956} kein einziges Exemplar zu sehen! Die Geistesbeschaffenheit des engl. Fabrikanten wußte R. am besten durch folgende Erzählung zu charakterisieren: Eines Tages machte R. einen Ausflug, um gewisse historische Sehenswürdigkeiten zu besichtigen. Als er heimkam, erkundigte sich der Fabrikant nach seinem Ausflug. Nun erzählte R., er habe das Stuart-, 1 das Shakespeare-Haus besichtigt u. auch das von Walter Scott. „Ist das der“, fragte der Fabrikant „der Cheviot 2 erzeugt?“ Da warf die Frau des Fabrikanten ein: „Aber Henry “, das ist ja der Dichter, der die schönen Kindermärchen geschrieben hat“. – All' diese Erzählungen gaben mir nun Gelegenheit, R. gegenüber meine Gedanken über die Geldverwendungen unserer Reichen auszudrücken, u. dadurch inspiriert, daß ich auch zu einem Musiker sprach, fand ich das, wie ich glaube, treffende Wort dafür: Der Reichtum solcher Menschen erfahre sozusagen keine thematische Verarbeitung. Besonders viel sprachen wir über die Portraits großer Männer. Ich meinte, die Maler wüßten selten den Portraits dasjenige zu geben, worin die Größe des Mannes ihren Ausdruck finden müßte. So wies ich z. B. auf die Mozart-Bildnisse hin, denen niemals die ewige Größe des Komponisten u. Menschen anzumerken wäre. Diese bedauerliche Tatsache glaubte ich darauf zurückführen zu müssen, daß die Maler, im Augenblicke, da der große Mann noch lebend, also mit allen Merkmalen auch des Alltags behaftet, ihnen gegenüber dasteht, nicht die nötige Kenntnis vom Umfang der Größe des Zzu- vVerewigenden besitzen u. ihn daher kleiner sehen, als er sich im Laufe der Jahrhunderte erweist. Mir schwebt dabei auch die vielen Brahms-Bildnisse vor, die in keinem Zug verraten, welch' dominierenden Wert der Meister für die künftigen Jahrhunderte u. Jahrtausende bedeutet. Aus all' dem folgerte ich, daß die Maler gar zu sehr nur als Zeitgenossen ihre Aufgaben lösen u. nicht die Fähigkeit besitzen, Unsterblichkeit aus Haltung u. Zügen oder aus Gesprächs- {957} wendungen des Meisters heraus zu wittern. – Was letzteren Punkt betrifft, stimmte mir der Gastgeber zu, indem er sogar noch weiter ging u. die Behauptung aufstellte, den Malern fehle es überhaupt an Bildung. Was aber den Kern der Frage anlangt schien er nicht meiner Ansicht. Was mich selbst dabei aber am meisten freute war d ieer Umstand, daß ich noch immer an dem seit frühen Jahren (so auch in der Wochenschrift „Die Zeit“ über das Tilgnerische Mozart-Monument) 3 ausgesprochenen Standpunkt unwandelbar festhalte, ein Umstand, der schon allein die Richtigkeit meiner Anschauung verbürgt. – Spät nachts fuhren wir im selben Wagen heim, voller Anerkennung für einen so seltenen Zug der Liebenswürdigkeit. *
© Transcription Marko Deisinger. |
June 17, 1915.
Letter from Baroness Bach in which, with regard to the delay of the matter between us, she agrees to wait until the autumn. *LetterOJ 5/45, [1] to Weisse in which I explain my standpoint regarding the lesson fee in question as comprehensively as possible. The letter is copied and is sent via a servant, together with books. *Letter from Mrs. Colbert, with cancellation. — Mrs. Deutsch at lunch. — *The Münchner Neueste Nachrichten coins the word "Cripple Entente." *In the morning, Rothberger asks when he should send the coach to collect us. At 6 o'clock the coach is waiting for us and we drive to his summer residence. Already this in itself is a courtesy that cannot be regarded as something that would ordinarily happen in Vienna. The courtesy was even surpassed by the fact that he did not invite anyone but us on the same evening, so that we had complete freedom to give the conversations not only the required expression but also the required scope. Rothberger tells us many amusing things about his English experiences. Once, so he says, he was there as the guest of one of the leading cloth manufacturers, and he was present at a business deal that took no longer than 15 minutes and brought the manufacturer many hundreds of thousands of francs! In spite of his enormous income, however, the English manufacturer did not show the least inclination to put his money towards any beautiful purposes. Thus only engravings of little value, the sort one even finds in the poorest houses in Germany, hung in his rooms. Of books, there was not a single one to be seen the length and breadth of the house! {956} The intellectual qualities of the English manufacturer could best be characterized by Rothberger by the following story: One day Rothberger made an excursion to see certain historical places of interest. When he returned home, the manufacturer asked him about his trip. Now Rothberger tells him that he visited the Stuart House 1 , the Shakespeare house, and also the home of Walter Scott. "Is he," the manufacturer enquired, "the one who produced Cheviot wool 2 ?" The manufacturer's wife then intervened: "No, Henry, that is of course the poet, who wrote those beautiful children's fairy tales." – All of these stories now gave me occasion to express my thoughts to Rothberger about the uses to which our wealthy people put their money; and further inspired by that fact that I was speaking to a musician, I found the trenchant words for it: the wealth of such people undergoes, so to speak, no thematic development. We spoke for quite a long time about the portraits of great men. I said that painters were rarely able to give their portraits that element in which the greatness of the man would find its expression. Thus, for example, I referred to the portraits of Mozart in which the eternal greatness of the composer and man was never to be observed. This regrettable fact could, I believed, be traced to the fact that the painters, at a time when the great man was still alive, that is, when he stood in front of them burdened by all the characteristics of everyday life, did not possess the necessary knowledge of the extent of the greatness of one who would be immortalized; and therefore they saw him as smaller than he would prove to be in the course of centuries. I am also thinking in this context of the many portraits of Brahms, which show no traces of that dominating value the master will signify for future centuries and millennia. From all this I concluded that the painters fulfill their assignments far too much as contemporaries and do not have the ability to form an image of immortality from the master's behavior and facial expressions, or from his turns of phrase. {957} – As far as the last point was concerned, my host was in agreement in that he went even further by claiming that painters are altogether lacking in education. But concerning the central point of the matter, he did not appear to share my view. What delighted me most of all was the circumstance that I have unswervingly held onto the opinion that I expressed in my early years (and also in the weekly periodical Die Zeit about Tilgner's Mozart monument) 3 , a circumstance that even on its own attests to the correctness of my opinion. – Late at night, we travelled home in the same coach, full of appreciation for such a rare act of kindness. *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Possibly a house associated with the Scottish royal family of Stewart (Stuart), which ruled Scotland from the late fourteenth century and the United Kingdom following English-Scottish unification. Abbotsford, the home of Sir Walter Scott, is situated in the Scottish borders, about 30 km south of Edinburgh and not far from the Cheviot Hills in Northumberland. 2 Cheviot, woolen fabric made originally from the wool of Cheviot sheep. 3 Heinrich Schenker, "Zur Mozartfeier," Die Zeit 7/82 (1896), p. 60; reprinted in Hellmut Federhofer (ed.), Heinrich Schenker als Essayist und Kritiker (Hildesheim: Olms, 1990), pp. 189–90. |