21.
Von Fl. Expreßbrief; wünscht vor allem seine Angabe bezüglich der Post geglaubt zu wissen; versucht mir zu schmeicheln, indem er vorgibt, er kenne den Umfang meiner Arbeit genau so wie Lie-Liechen (natürlich wollte er sagen besser als Lie-Liechen!); er komme also Donnerstag. — — Zum Kohlenhändler um zu erforschen, ob der Austräger bereit wäre, die Säcke zurückzulassen. — Vormittag noch zurück mit Lie-Liechen in meine Wohnung, wo sie endlich das neue Bett bereitet. Endlich, nach so vielen Jahren eine würdige Liegestatt, deren {41} ich mich nicht zu schämen bau brauche. Und wenn auch aus Lie-Liechens Plan, ein völlig neues Bett zu forçieren nichts geworden ist, so habe ich es doch nur ihrer Energie zu verdanken, daß das neue Bett gekommen, das mir übrigens besser als jedes moderne gefällt zusagt. Allerdings klagt Lie-Liechen noch bis zur Stunde über eine fehlende Matraze [sic]; nun, die kann in Gottes Namen noch warten. Das alte Federbett für die Brockensammlung bestimmt. — — Hans Weisse um 11h zu Besuch; spricht unter anderen sogar unbefangen genug von der Affaire seines Vaters, worauf ich mich bemühe, ebenso unbefangen manches Trostwort zu sprechen, ein Trostwort freilich von der höheren Warte, von der aus auch gewisse Verfehlungen nur als Lebenserkenntnis gedeutet werden mögen. — *In der „N. Fr. Pr.“ erzählt Ganghofer über seinen Besuch bei Hindenburg; 1 letzterer macht auch menschlich sowohl in Haltung als wie in Worten den denkbar günstigsten Eindruck. — — Korrektur der Literatur bis Fahne 12 gediehen. — Nachmittag ins populäre Konzert: 2 Cornelius: Ouverture zu „Der Barbier von Bagdad“; Beethoven: V. Symphonie; Liszt: Klavierkonzert Adur; Grieg: aus der lyrischen Suite op. 54. Cornelius, süßliche Cantilene oder Witze unaufhörlich treibend u. so in Kleinigkeiten u. Kleinlichkeiten sich verzettelnd, versäumt er Idee wie Form der Ouverture überhaupt. Die Wiedergabe der V. unter aller Kritik: im 1. Satz zu langsam, zu wenig hinreißend u. feurig, im 2. Satz fehlte ebenfalls das con moto, überhaupt fehlden [sic] die Gebärden des ff, um es über das f zu erheben. Den Akzenten fehlte jeglicher Nachdruck, also das, was schon das Wort sagt. Die Streicher sehr im Rückstand gegenüber den Bläsern. Liszt's Konzert: ohne symphonisch zu sein ein stetes Mitgehen des Orchesters, das dem Klavierspieler seine Aufgabe, die ohnehin leicht genug ist, noch mehr erleichtert. *Schopenhauer: Lesen u. Lernen ist das Betreten u. Untersuchen der Oberfläche einer Kugel. Denken das senkrechte Eindringen in ihr Inneres. Ersteres ist bloß Mittel zu letzterem. Man reiset auf der Oberfläche der Kugel hin u. her, um die Stellen zu suchen, wo man sich einsenken könne. Toren, Pedanten, Schulfüchse meinen, das Herumlaufen auf der Oberfläche sei die Sache, der Zweck: – Und in diesem Irrtum ist auch jeder, sobald er zu sich sagt: „Ach, da habe ich, statt weiter zu lesen, in Gedanken gesessen“; – oder wenn er sich freut recht viel gelesen zu haben: denn da hat er sicherlich am wenigsten gedacht. Aus Deussens Schopenhauer-Ausgabe „Voss. Ztg.“ vom 23. Nov. 15 3 (Blg.) *
© Transcription Marko Deisinger. |
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From Floriz, express letter: he would like above all that his explanation regarding the mail will be believed; he attempts to flatter me by saying that he knows the extent of my work just as well as Lie-Liechen (of course he wanted to say better than Lie-Liechen!); he will come, then, on Thursday. — — To the coal dealer to find out whether the delivery man would be prepared to leave the sacks behind. — In the morning, back into my apartment with Lie-Liechen, in which she finally prepares the new bed. Finally, after so many years, a place to lie down of which I do not have to be ashamed. {41} And even if nothing had come of Lie-Liechen's plan to force on me a completely new bed, it is only thanks to her energy that the new bed arrived, which moreover agrees with me better than any modern one. At any rate, Lie-Liechen is still complaining to this very moment about a missing mattress; now, in God's name, this can still wait. The old feather bed consigned to charity. — — Hans Weisse at 11 o'clock for a visit; among other things, he talks about the matter concerning his father ingenuously enough, whereupon I make the effort of offering words of comfort, likewise ingenuously, words of comfort, of course, from a higher vantage point, from which even certain failings may be understood merely as life's experience. — *In the Neue Freie Presse , Ganghofer writes about his visit to Hindenburg; 1 the latter makes the most favorable impression imaginable, also as a human being, in his manners as well as in his speech. — — Correction of the Literature section proceeds as far as galley proof 12. — In the afternoon, to the Popular Concert: 2 Overture to Cornelius's The Barber of Baghdad; Beethoven's Fifth Symphony; Liszt's Piano Concerto in A major; extracts from Grieg's Lyric Suite, Op. 54. Cornelius incessantly pursuing a saccharine cantilena or witticism, and thus dissipating into trivialities and pettiness, he is lacking in concept, such as the form of the overture in general. The rendering of the Fifth beneath contempt: the first movement too slow, not sufficiently gripping and fiery; the second movement was similarly lacking in con moto, the fortissimo gestures were missing altogether and so could not rise above the forte. The accents were not given any emphasis, that which the word itself already expresses. The strings very much deficient in comparison with the wind instruments. Liszt's concerto: without being symphonic, it offers the constant presence of the orchestra, which makes it all the easier for the pianist to fulfill his task, which at any rate is easy enough. *Schopenhauer: to read and to learn is to step onto and investigate the surface of a sphere. To think is to penetrate its inside. The former is merely a means to the latter. One travels all over the surface of the sphere in order to find the places where one can get into it. Fools, pedants, and sophists think that running about over the surface is that object, the purpose. And everyone makes that mistake when they say to themselves: "Ah, instead of reading further, I sat in thought"; or when they are pleased to have read a great deal, for then they have surely thought the least. From Deussen's Schopenhauer edition, Vossische Zeitung from November 23, 1915 3 (collection [of clippings]). *
© Translation William Drabkin. |
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Von Fl. Expreßbrief; wünscht vor allem seine Angabe bezüglich der Post geglaubt zu wissen; versucht mir zu schmeicheln, indem er vorgibt, er kenne den Umfang meiner Arbeit genau so wie Lie-Liechen (natürlich wollte er sagen besser als Lie-Liechen!); er komme also Donnerstag. — — Zum Kohlenhändler um zu erforschen, ob der Austräger bereit wäre, die Säcke zurückzulassen. — Vormittag noch zurück mit Lie-Liechen in meine Wohnung, wo sie endlich das neue Bett bereitet. Endlich, nach so vielen Jahren eine würdige Liegestatt, deren {41} ich mich nicht zu schämen bau brauche. Und wenn auch aus Lie-Liechens Plan, ein völlig neues Bett zu forçieren nichts geworden ist, so habe ich es doch nur ihrer Energie zu verdanken, daß das neue Bett gekommen, das mir übrigens besser als jedes moderne gefällt zusagt. Allerdings klagt Lie-Liechen noch bis zur Stunde über eine fehlende Matraze [sic]; nun, die kann in Gottes Namen noch warten. Das alte Federbett für die Brockensammlung bestimmt. — — Hans Weisse um 11h zu Besuch; spricht unter anderen sogar unbefangen genug von der Affaire seines Vaters, worauf ich mich bemühe, ebenso unbefangen manches Trostwort zu sprechen, ein Trostwort freilich von der höheren Warte, von der aus auch gewisse Verfehlungen nur als Lebenserkenntnis gedeutet werden mögen. — *In der „N. Fr. Pr.“ erzählt Ganghofer über seinen Besuch bei Hindenburg; 1 letzterer macht auch menschlich sowohl in Haltung als wie in Worten den denkbar günstigsten Eindruck. — — Korrektur der Literatur bis Fahne 12 gediehen. — Nachmittag ins populäre Konzert: 2 Cornelius: Ouverture zu „Der Barbier von Bagdad“; Beethoven: V. Symphonie; Liszt: Klavierkonzert Adur; Grieg: aus der lyrischen Suite op. 54. Cornelius, süßliche Cantilene oder Witze unaufhörlich treibend u. so in Kleinigkeiten u. Kleinlichkeiten sich verzettelnd, versäumt er Idee wie Form der Ouverture überhaupt. Die Wiedergabe der V. unter aller Kritik: im 1. Satz zu langsam, zu wenig hinreißend u. feurig, im 2. Satz fehlte ebenfalls das con moto, überhaupt fehlden [sic] die Gebärden des ff, um es über das f zu erheben. Den Akzenten fehlte jeglicher Nachdruck, also das, was schon das Wort sagt. Die Streicher sehr im Rückstand gegenüber den Bläsern. Liszt's Konzert: ohne symphonisch zu sein ein stetes Mitgehen des Orchesters, das dem Klavierspieler seine Aufgabe, die ohnehin leicht genug ist, noch mehr erleichtert. *Schopenhauer: Lesen u. Lernen ist das Betreten u. Untersuchen der Oberfläche einer Kugel. Denken das senkrechte Eindringen in ihr Inneres. Ersteres ist bloß Mittel zu letzterem. Man reiset auf der Oberfläche der Kugel hin u. her, um die Stellen zu suchen, wo man sich einsenken könne. Toren, Pedanten, Schulfüchse meinen, das Herumlaufen auf der Oberfläche sei die Sache, der Zweck: – Und in diesem Irrtum ist auch jeder, sobald er zu sich sagt: „Ach, da habe ich, statt weiter zu lesen, in Gedanken gesessen“; – oder wenn er sich freut recht viel gelesen zu haben: denn da hat er sicherlich am wenigsten gedacht. Aus Deussens Schopenhauer-Ausgabe „Voss. Ztg.“ vom 23. Nov. 15 3 (Blg.) *
© Transcription Marko Deisinger. |
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From Floriz, express letter: he would like above all that his explanation regarding the mail will be believed; he attempts to flatter me by saying that he knows the extent of my work just as well as Lie-Liechen (of course he wanted to say better than Lie-Liechen!); he will come, then, on Thursday. — — To the coal dealer to find out whether the delivery man would be prepared to leave the sacks behind. — In the morning, back into my apartment with Lie-Liechen, in which she finally prepares the new bed. Finally, after so many years, a place to lie down of which I do not have to be ashamed. {41} And even if nothing had come of Lie-Liechen's plan to force on me a completely new bed, it is only thanks to her energy that the new bed arrived, which moreover agrees with me better than any modern one. At any rate, Lie-Liechen is still complaining to this very moment about a missing mattress; now, in God's name, this can still wait. The old feather bed consigned to charity. — — Hans Weisse at 11 o'clock for a visit; among other things, he talks about the matter concerning his father ingenuously enough, whereupon I make the effort of offering words of comfort, likewise ingenuously, words of comfort, of course, from a higher vantage point, from which even certain failings may be understood merely as life's experience. — *In the Neue Freie Presse , Ganghofer writes about his visit to Hindenburg; 1 the latter makes the most favorable impression imaginable, also as a human being, in his manners as well as in his speech. — — Correction of the Literature section proceeds as far as galley proof 12. — In the afternoon, to the Popular Concert: 2 Overture to Cornelius's The Barber of Baghdad; Beethoven's Fifth Symphony; Liszt's Piano Concerto in A major; extracts from Grieg's Lyric Suite, Op. 54. Cornelius incessantly pursuing a saccharine cantilena or witticism, and thus dissipating into trivialities and pettiness, he is lacking in concept, such as the form of the overture in general. The rendering of the Fifth beneath contempt: the first movement too slow, not sufficiently gripping and fiery; the second movement was similarly lacking in con moto, the fortissimo gestures were missing altogether and so could not rise above the forte. The accents were not given any emphasis, that which the word itself already expresses. The strings very much deficient in comparison with the wind instruments. Liszt's concerto: without being symphonic, it offers the constant presence of the orchestra, which makes it all the easier for the pianist to fulfill his task, which at any rate is easy enough. *Schopenhauer: to read and to learn is to step onto and investigate the surface of a sphere. To think is to penetrate its inside. The former is merely a means to the latter. One travels all over the surface of the sphere in order to find the places where one can get into it. Fools, pedants, and sophists think that running about over the surface is that object, the purpose. And everyone makes that mistake when they say to themselves: "Ah, instead of reading further, I sat in thought"; or when they are pleased to have read a great deal, for then they have surely thought the least. From Deussen's Schopenhauer edition, Vossische Zeitung from November 23, 1915 3 (collection [of clippings]). *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Ludwig Ganghofer, "Bei Hindenburg," Neue Freie Presse, No. 18408, November 21, 1915, morning edition, pp. 2-4. 2 The orchestra of the Vienna Konzertverein, conducted by Martin Spörr, played at the Konzerthaus; Ilone Kurz was the piano soloist (see "Theater- und Kunstnachrichten," Neue Freie Presse, No. 18407, November 20, 1915, morning edition, p. 13). 3 "Unveröffentlichtes von Schopenhauer," Vossische Zeitung, No. 599, November 23, 1915, evening edition, p. [3]. |