5. VIII. 16 Schön, kühl, 16° in der Sonne; feierliche Stimmung.
— An Seligmann (Br.WSLB I.N.95655); ergreife die Gelegenheit zu erklären, weshalb ich op. 101 u. speziell 106 nicht mache; schildere, wie Hertzka sein Honorar nicht nach der einzukaufenden Ware, sondern nur nach seiner Krämerlaune apriori [sic] festzustellen liebt u. schließe an, wie auch Peters u. der Wiener Konzertverein ähnliche Attentate wider die Logik auf meine Kosten versucht haben. Zur Frage des polemischen Tones bemerke ich, daß ich ihn ursprünglicher [recte ursprünglich] konzilianter hielt u. daß erst das Betragen der allzu eiteln [sic] u. wehleidigen Gegner mich zur Verschärfung zwang. Deute schließlich an, daß ihm selbst der konziliante Ton ja auch gar nichts nütze u. daß ich im übrigen einen Unterschied zwischen blos paradigmatischen gehaltenen Werken, wie eben die letzteingesandten u. den theoretischen Hauptwerken selbst mache! — *An Frau Bednař K. mit Anfrage nach dem Befinden des Sohnes. — An Frau Violin K. mit Anfrage nach dem Befinden sämtlicher Familienmitglieder. — Nach Ausfertigung der Korrespondenzen Spaziergang in Richtung Stiegeneck, 10½–12¼h. Nach Tisch: Lie-Liechen gewinnt Anschluss an „Wilhelm Meister“ IV. 4; 1 ich bringe die Vorarbeiten zum freien Satz fertig. — — Die beiden Wienerinnen wechseln täglich Toiletten in einem Dorfe, in dem augenblicklich sechs Gäste weilen, die ihre Mahlzeiten im Lumpenstübl einnehmen. Muss man da nicht mit unbedingter Sicherheit schließen, daß die täglich gewechselten Toiletten nicht blos die Körper, sondern vielmehr schwere Mängel der Seelen zuzudecken haben? — — Der Generalleutnant hat den Weg verfehlt; dessen Frau teilt uns das mit nur wenig Erregung mit: er werde schon kommen! In der Tat erschien er eine halbe Stunde später; sie jagen gerne Schmetterlinge, wie sie sagte, u. so verliert des öfteren sie ihn, er sie. Im übrigen sind beide Personen, obwohl dem Adel angehörend, nicht nur betrübend ungebildet, sondern auch von Natur aus beschränkte Personen; die Dame erklärt selbst, nur Sportartikel zu lesen, – ihre Spezialität sei Klettertouren zu machen. Seit vier {363} Jahren seien sie auf Reisen, die sie in die vornehmsten Orte Deutschlands, Oesterreichs u. auch des Auslandes führen. Daß diese Reisen zur Bildung ebensowenig wie die Klettertouren beitrugen, sieht man, entnimmt man jeder Bewegung (Lie-Liechen findet sie weder graziös noch elegant) u. hört man aus jedem Wort. Der alte Herr schwätzt besonders gern, scheint aber Mangel an Gedächtnis zu leiden, was ihm selbst den Dialog wesentlich erleichtert, da er in die Lage kommt, alle Antworten mit „Ja, ja“ beginnen zu können. Daß ein deutscher Generalleutnant so wenig allgemeine Bildung hat – auch er liest nichts –, muss doch nachdenklich stimmen. — *Nach der Jause bringen wir einen schon lange gehegten Wunsch in Erfüllung, indem wir eine in die Rosannaschlucht hervorspringende Nase erklimmen, deren Kuppe uns seit jeher – von der St. Christofstraße aus sichtbar – intrigirte. Zu unserer Ueberraschung tut sich auch auf diesem kleinen Hügel Falte um Falte, Mulde um Mulde auf. Auf der Kuppe selbst finden wir ein ausgedehntes Schwarzbeerenfeld u. im Wäldchen selbst zeigt sich ein prachtvoller breitstämmiger Baum, unter dem in solcher örtlicher Abgeschiedenheit von Zugängen jeder Art zu ruhen sich sicher lohnen würde. Wir ziehen aber vor, die Rekognoszierung fortzusetzen u. den Abstieg in der entgegengesetzten Richtung des Aufstiegs zu machen. Hier tut sich plötzlich eine große Scheune auf, aus der der drei Personen hervortreten, in denen wir Schulers Gesinde erkennen; u. wir erfahren, daß all diese Wiesen ihm gehören! Wir durchqueren die Wiesen u. gewinnen die St. Christofstraße. — — „Wilhelm Meister“ 2 Fortsetzung; Rosegger: einige Erzählungen, deren allzu grotesker Inhalt beinahe den gemütlichen Humor des Erzählers beinahe ganz aufzuzehren scheint. — — Aufforderung zum Beitritt einer Vereinigung „Eisernes Oesterreich [“]. — Wundervoller Abend. — Ueber mir verursacht der alte Herr viel Lärm, was freilich weniger an ihm selbst, als an den knarrenden krachenden Dielen liegt. Die Nachtruhe empfindlich gestört. Leider {364} müssen wir uns auch versagen, von Zimmer zu Zimmer zu sprechen, da hiezu immerhin ein gesteigerter Ton erforderlich ist, den wir aber augenblicklich wegen der neuen Gäste nicht mehr in Anwendung bringen können. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
August 5, 1916. Fair weather, cool, 16° in the sun; a ceremonial atmosphere.
— LetterWSLB I.N.95655 to Seligmann; I seize the opportunity to explain why I am not doing Op. 101 and especially Op. 106 ; I describe how Hertzka likes to determine his fee a priori, not on the basis of the work for sale but merely on the basis of his shopkeeper mood, and I add how Peters and the Vienna Concert Society have also attempted similar assaults on logic, at my expense. On the matter of my polemical tone, I observe that I originally adopted a more conciliatory one, and that it was only the behavior of overly vain and sniveling opponents which drove me to adopt a tougher stance. Finally, I suggest that a conciliatory tone will be of no use at all even to him, and that, moreover, I myself make a distinction between works that I regard as merely paradigmatic – such as the ones I have recently sent him – and my main theoretical works ! — *Postcard to Mrs. Bednař, asking about her son's health. — Postcard to Mrs. Violin, enquiring after the health of everyone in the family. — After completing the correspondence, a walk in the direction of Stiegeneck, 10:30 to 12:15. After lunch, Lie-Liechen finishes catching up to Wilhelm Meister IV4; 1 I complete the preliminary work on Free Composition . — — The two ladies from Vienna are putting on new clothes every day, in a village where six guests are currently staying and eating their meals in a shabby dining room. Would one not have to conclude with unconditional certainty that the clothes that are daily changed are for covering not merely the body but, rather more, serious shortcomings of the soul? — The lieutenant-general has got lost; his wife tells us this with only a little excitement: he'll eventually return! In fact, he appears half an hour later; they like to catch butterflies, she says, and so she often loses sight of him, and he of her. Moreover, both persons, though they belong to the nobility, are not only sadly uneducated but also by nature persons of limited interests. The lady herself explains that she reads only articles about sport; her specialty is to go on climbing tours. {363} They have been making trips for the last four years, which have taken them to the foremost places in Germany, Austria, and even abroad. That these trips contributed to their education as little as their climbing tours is something that one can see or deduce from every movement they make (Lie-Liechen finds the woman neither gracious nor elegant) and hear in every word they speak. The old gentleman in particular likes to chat; but he apparently suffers from memory loss – which makes dialog considerably easier for him, as he puts himself in the position of being able to begin all his replies with "Yes, yes." That a German lieutenant-general has so little basic education – what is more, he reads nothing – must give one pause for thought. — *After teatime, we bring a long-cherished wish to fulfillment by climbing on the overhang in the Rosannaschlucht, whose crest – visible from the road to St. Christoph – had always intrigued us. To our surprise, every fold, every depression on this small hill opens up before us. At the crest itself we find an extensive field of blueberries, and in the copse itself stands a magnificent broad-trunked tree; geographically cut off from every sort of access, we could usefully rest beneath it. But we decide to continue our reconnaissance and make our descent in the opposite direction to that of our ascent. Here we suddenly come across a barn from which three persons appear, whom we recognize as Schuler's farmhands; and we learn that all these meadows belong to him! We cross the meadows and gain the road to St. Christoph. — — Wilhelm Meister 2 continued; Rosegger, a few stories whose all-too-grotesque content almost seems to destroy the author's cozy sense of humor. — — Invitation to join the association "Iron Austria." — Beautiful evening. — Above my bedroom, the old gentleman creates a great deal of noise, which of course has less to do with him than the creaking floorboards. My night's peace delicately disturbed. {364} Unfortunately we are also unable to communicate between rooms, for it would have then been necessary to raise our voices – something we did not wish to do any longer, in consideration of the new guests. — *
© Translation William Drabkin. |
5. VIII. 16 Schön, kühl, 16° in der Sonne; feierliche Stimmung.
— An Seligmann (Br.WSLB I.N.95655); ergreife die Gelegenheit zu erklären, weshalb ich op. 101 u. speziell 106 nicht mache; schildere, wie Hertzka sein Honorar nicht nach der einzukaufenden Ware, sondern nur nach seiner Krämerlaune apriori [sic] festzustellen liebt u. schließe an, wie auch Peters u. der Wiener Konzertverein ähnliche Attentate wider die Logik auf meine Kosten versucht haben. Zur Frage des polemischen Tones bemerke ich, daß ich ihn ursprünglicher [recte ursprünglich] konzilianter hielt u. daß erst das Betragen der allzu eiteln [sic] u. wehleidigen Gegner mich zur Verschärfung zwang. Deute schließlich an, daß ihm selbst der konziliante Ton ja auch gar nichts nütze u. daß ich im übrigen einen Unterschied zwischen blos paradigmatischen gehaltenen Werken, wie eben die letzteingesandten u. den theoretischen Hauptwerken selbst mache! — *An Frau Bednař K. mit Anfrage nach dem Befinden des Sohnes. — An Frau Violin K. mit Anfrage nach dem Befinden sämtlicher Familienmitglieder. — Nach Ausfertigung der Korrespondenzen Spaziergang in Richtung Stiegeneck, 10½–12¼h. Nach Tisch: Lie-Liechen gewinnt Anschluss an „Wilhelm Meister“ IV. 4; 1 ich bringe die Vorarbeiten zum freien Satz fertig. — — Die beiden Wienerinnen wechseln täglich Toiletten in einem Dorfe, in dem augenblicklich sechs Gäste weilen, die ihre Mahlzeiten im Lumpenstübl einnehmen. Muss man da nicht mit unbedingter Sicherheit schließen, daß die täglich gewechselten Toiletten nicht blos die Körper, sondern vielmehr schwere Mängel der Seelen zuzudecken haben? — — Der Generalleutnant hat den Weg verfehlt; dessen Frau teilt uns das mit nur wenig Erregung mit: er werde schon kommen! In der Tat erschien er eine halbe Stunde später; sie jagen gerne Schmetterlinge, wie sie sagte, u. so verliert des öfteren sie ihn, er sie. Im übrigen sind beide Personen, obwohl dem Adel angehörend, nicht nur betrübend ungebildet, sondern auch von Natur aus beschränkte Personen; die Dame erklärt selbst, nur Sportartikel zu lesen, – ihre Spezialität sei Klettertouren zu machen. Seit vier {363} Jahren seien sie auf Reisen, die sie in die vornehmsten Orte Deutschlands, Oesterreichs u. auch des Auslandes führen. Daß diese Reisen zur Bildung ebensowenig wie die Klettertouren beitrugen, sieht man, entnimmt man jeder Bewegung (Lie-Liechen findet sie weder graziös noch elegant) u. hört man aus jedem Wort. Der alte Herr schwätzt besonders gern, scheint aber Mangel an Gedächtnis zu leiden, was ihm selbst den Dialog wesentlich erleichtert, da er in die Lage kommt, alle Antworten mit „Ja, ja“ beginnen zu können. Daß ein deutscher Generalleutnant so wenig allgemeine Bildung hat – auch er liest nichts –, muss doch nachdenklich stimmen. — *Nach der Jause bringen wir einen schon lange gehegten Wunsch in Erfüllung, indem wir eine in die Rosannaschlucht hervorspringende Nase erklimmen, deren Kuppe uns seit jeher – von der St. Christofstraße aus sichtbar – intrigirte. Zu unserer Ueberraschung tut sich auch auf diesem kleinen Hügel Falte um Falte, Mulde um Mulde auf. Auf der Kuppe selbst finden wir ein ausgedehntes Schwarzbeerenfeld u. im Wäldchen selbst zeigt sich ein prachtvoller breitstämmiger Baum, unter dem in solcher örtlicher Abgeschiedenheit von Zugängen jeder Art zu ruhen sich sicher lohnen würde. Wir ziehen aber vor, die Rekognoszierung fortzusetzen u. den Abstieg in der entgegengesetzten Richtung des Aufstiegs zu machen. Hier tut sich plötzlich eine große Scheune auf, aus der der drei Personen hervortreten, in denen wir Schulers Gesinde erkennen; u. wir erfahren, daß all diese Wiesen ihm gehören! Wir durchqueren die Wiesen u. gewinnen die St. Christofstraße. — — „Wilhelm Meister“ 2 Fortsetzung; Rosegger: einige Erzählungen, deren allzu grotesker Inhalt beinahe den gemütlichen Humor des Erzählers beinahe ganz aufzuzehren scheint. — — Aufforderung zum Beitritt einer Vereinigung „Eisernes Oesterreich [“]. — Wundervoller Abend. — Ueber mir verursacht der alte Herr viel Lärm, was freilich weniger an ihm selbst, als an den knarrenden krachenden Dielen liegt. Die Nachtruhe empfindlich gestört. Leider {364} müssen wir uns auch versagen, von Zimmer zu Zimmer zu sprechen, da hiezu immerhin ein gesteigerter Ton erforderlich ist, den wir aber augenblicklich wegen der neuen Gäste nicht mehr in Anwendung bringen können. — *
© Transcription Marko Deisinger. |
August 5, 1916. Fair weather, cool, 16° in the sun; a ceremonial atmosphere.
— LetterWSLB I.N.95655 to Seligmann; I seize the opportunity to explain why I am not doing Op. 101 and especially Op. 106 ; I describe how Hertzka likes to determine his fee a priori, not on the basis of the work for sale but merely on the basis of his shopkeeper mood, and I add how Peters and the Vienna Concert Society have also attempted similar assaults on logic, at my expense. On the matter of my polemical tone, I observe that I originally adopted a more conciliatory one, and that it was only the behavior of overly vain and sniveling opponents which drove me to adopt a tougher stance. Finally, I suggest that a conciliatory tone will be of no use at all even to him, and that, moreover, I myself make a distinction between works that I regard as merely paradigmatic – such as the ones I have recently sent him – and my main theoretical works ! — *Postcard to Mrs. Bednař, asking about her son's health. — Postcard to Mrs. Violin, enquiring after the health of everyone in the family. — After completing the correspondence, a walk in the direction of Stiegeneck, 10:30 to 12:15. After lunch, Lie-Liechen finishes catching up to Wilhelm Meister IV4; 1 I complete the preliminary work on Free Composition . — — The two ladies from Vienna are putting on new clothes every day, in a village where six guests are currently staying and eating their meals in a shabby dining room. Would one not have to conclude with unconditional certainty that the clothes that are daily changed are for covering not merely the body but, rather more, serious shortcomings of the soul? — The lieutenant-general has got lost; his wife tells us this with only a little excitement: he'll eventually return! In fact, he appears half an hour later; they like to catch butterflies, she says, and so she often loses sight of him, and he of her. Moreover, both persons, though they belong to the nobility, are not only sadly uneducated but also by nature persons of limited interests. The lady herself explains that she reads only articles about sport; her specialty is to go on climbing tours. {363} They have been making trips for the last four years, which have taken them to the foremost places in Germany, Austria, and even abroad. That these trips contributed to their education as little as their climbing tours is something that one can see or deduce from every movement they make (Lie-Liechen finds the woman neither gracious nor elegant) and hear in every word they speak. The old gentleman in particular likes to chat; but he apparently suffers from memory loss – which makes dialog considerably easier for him, as he puts himself in the position of being able to begin all his replies with "Yes, yes." That a German lieutenant-general has so little basic education – what is more, he reads nothing – must give one pause for thought. — *After teatime, we bring a long-cherished wish to fulfillment by climbing on the overhang in the Rosannaschlucht, whose crest – visible from the road to St. Christoph – had always intrigued us. To our surprise, every fold, every depression on this small hill opens up before us. At the crest itself we find an extensive field of blueberries, and in the copse itself stands a magnificent broad-trunked tree; geographically cut off from every sort of access, we could usefully rest beneath it. But we decide to continue our reconnaissance and make our descent in the opposite direction to that of our ascent. Here we suddenly come across a barn from which three persons appear, whom we recognize as Schuler's farmhands; and we learn that all these meadows belong to him! We cross the meadows and gain the road to St. Christoph. — — Wilhelm Meister 2 continued; Rosegger, a few stories whose all-too-grotesque content almost seems to destroy the author's cozy sense of humor. — — Invitation to join the association "Iron Austria." — Beautiful evening. — Above my bedroom, the old gentleman creates a great deal of noise, which of course has less to do with him than the creaking floorboards. My night's peace delicately disturbed. {364} Unfortunately we are also unable to communicate between rooms, for it would have then been necessary to raise our voices – something we did not wish to do any longer, in consideration of the new guests. — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Wilhelm Meister's Apprenticeship), vol. 1, first published in 1795 (Berlin: Johann Friedrich Unger). 2 See footnote 1 |