21. VIII. 16
Sehe den gegenwärtigen Aufenthaltsort der Schwester, den Ort ich gar nicht kenne, Blauda, im Traume, jedoch traumhaft transformirt, . da ich! Was ich nur je an Abbildungen alter deutscher Städtchen u. Städte, auch an modernen Villen sah, drängte sich zu bezaubernden Bildern zusammen u. das kurioseste: es fehlte dabei nicht am Einschlag modernster Technik. Hier hat der Traum Wunder verrichtet: so zeigte z. B. das Heben u. Senken des Dachgiebels an, daß ein Lift im Hause steigt u. fällt. Ob nun auch Shakespeare durch den Traum gespuckt [sic] {387} hat, weiß ich nicht, aber ausgemacht war es mir, daß Blauda an einem Meere liege. Das mir ungewohnte Element lockte meine Neugier u. als ich an das Ufer trat, sah ich zu meinem Entsetzen gerade ein Gespann in die Fluten sich herabstürzen. Aber siehe: auf einmal machte das Pferd im Wasser nur die tollsten lustigsten Purzelbäume u. als ich sah, daß es mit dem Ertrinken nicht gar so ernst sei, dachte auch ich an mein Vergnügen. Ich wandte mich nun wieder der Stadt zu, um ein Caféhaus aufzusuchen. Gerade nur auf das Bbeste erpicht, ging ich zum Hauptplatz: Da taten sich neue Wunder der Architektur auf. leider verschoben sich sofort die Coulissen, die schönen Bilder verloren sich u. ich trat in die Häuslichkeit der Schwester. Hier fand ich eine erstaunliche Fülle von allem, d was irdischen Gütern zugetane Menschen überhaupt nur wünschen mögen. Auch die Mama traf ich dort, wirtschaftlich tätig. Endlich kam auch der junge Herr Marienberg u. meine Schwester flüsterte mir ins Ohr, daß er offenbar Hunger leide u. daß sie sich öfter das Vergnügen mache, ihn zu sättigen, ohne seinen Stolz zu verletzen! *Das Wetter hat sich geändert, Sonne, Gipfel werden sichtbar; jedenfalls ist der Morgen einem Spaziergang günstig. 8¼ –10h St. Jakob, wobei wir den Schuhmacher besuchen. Es war von Nutzen, daß wir rechtzeitig kamen, da er in bezug auf einen wichtigen Punkt unserer Verabredung nicht mehr ganz zuverlässig orientiert war. — Zuhause angelangt, machen wir den ersten Weg zur Bibliothek, aus der wir Meyers Ausgabe von „Wilhelm Meister“ entnehmen, bearbeitet von Dr. Victor Schweizer. 1 — — Revision des Kommentarbestandes zu Ph. Em. Bach, die meine Vermutung bestätigt, daß so ziemlich bereits das ganze Werk kommentiert vorliegt, jedenfalls ganz in den schwierigsten Abschnitten u. Paragraphen. Es bleibt nur mehr so wenig zu tun, daß es in wenigen Tagen fertig gemacht werden könnte, ja vielleicht ließe sich sogar der ganze Kommentar binnen zwei Wochen druckfertig machen! — — Die Einleitung des Herausgebers zu „Wilhelm Meister“ 2 hat uns sehr interessiert, weniger den Ansichten des Herausgebers nach, als wegen der Daten der Literaturhinweise u. besonders wegen der Zitate Goethes, deren eigene Meinung die meinige ganz u. vollauf bestätigt. Auch der An- {388} blick der Irrtümer, wie sie hervorragende Geister am Werk begangen haben, trug zur Vertiefung der Erkenntnis bei. Wir wollen nun auch die speziellen Anmerkungen genau nachlesen. — *Von Sophie (K): meldet Uebersiedlung nach Mähr. Schönberg, die ihnen zwar viel[e] Vorteile raubt, anderseits aber die Verbindung mit Hans ermöglicht. Gerade heute nacht [sic] aber, welcher Zufall, träumte ich von Blauda! — Von Dr. Brünauer ein Kistchen Bäckereien, 3.50 kg. — An Brünauer (Br.): Dank; Ankündigung der Fertigstellung von II2; eigener Definition desselben, Bemerkungen über Optimismus in meinen Sachen, in Sachen der eigenen Arbeit, des Krieges; . iInbezug auf die von ihm zitierten Schwierigkeiten Bismarck’s in Deutschland bemerke ich, der Widerstand wider das Genie gehöre nicht in das besondere Kapitel Deutschlands, sondern in das ganze Buch der Menschheit. Schließlich Mitteilungen über Vrieslander, Roth, Weisse usw. — Karte an den Schuhmacher mit Feststellung meiner Wünsche. — — Abends Anmerkungen zu „Wilhelm Meister“ aus Meyers Klassiker-Ausgabe (Dr. Victor Schweizer [9. Band] 3 u. Dr. Harry Maync [10. Bd.] 4 ). — *
© Transcription Marko Deisinger. |
August 21, 1916.
In a dream I see Blauda, the present whereabouts of my sister and a place that I do not know at all; yet it is magically transformed. That which I had only seen in pictures of old German towns and cities, also in modern villas, merged together to form enchanting images; and, most curiously, the impact of the most modern technology was not missing. Thus the raising and lowering of gables in the roof revealed that an elevator in the house went up and down. Whether Shakespeare himself had a hand in this I don't know; {387} but Blauda was presented to me as lying by the sea. The aspect, unknown to me, attracted my curiosity and as I stepped onto the shore I actually saw, to my horror, a horse and carriage sinking beneath the waves. But lo: all of a sudden the horse was only making the most amazing, amusing somersaults in the water; and when I saw that the matter of drowning wasn't all that serious, I thought, too, of my own pleasure. I now made my way back to the town to look for a coffee house. Eager for only the best one, I went to the main square: there new wonders of architecture unfolded. Unfortunately, the scenery shifted, the beautiful images disappeared, and I entered the domesticity of my sister. Here I found an astonishing array of everything that people could have wished for in the way of earthly goods. I even met my Mama there, busily at work. Finally the young Mr. Marienberg came, and my sister whispered in my ear that he was apparently starving, and that she often took pleasure in satiating him without damaging his pride! *The weather has changed, sun and mountain tops become visible; at any event, the morning is favorable for a walk. From 7:15 to 10 o'clock, to St. Jakob, where we visit the shoemaker. It was useful that we came promptly as he was no longer completely sure with regard to an important point of our arrangement. — Returning home, we take our first trip to the library, from which we borrow Meyer's edition of Wilhelm Meister, edited by Dr. Victor Schweizer. 1 — — Revision of the commentary to C. P. E. Bach, which confirms my suspicion that the entire work essentially appears to be commented on in full; at any event in its entirety in the most difficult sections and paragraphs. There remains so little to do that it could be completed in a few days; perhaps the entire commentary can be made ready for publication within two weeks! — — The editor's introduction to Wilhelm Meister 2 interested us greatly, less for the editor's views than for the information in the references to the secondary literature, and especially on account of the quotations from Goethe, whose own opinion confirms mine completely and thoroughly. {388} Even the sight of the errors that outstanding minds have committed in studying the work contributed to a deeper understanding. We now also want to read the special remarks carefully. — *Postcard from Sophie: she reports their relocation to Mährisch Schönberg which, though it robs them of many advantages, nonetheless permits a connection with Hans. But this very night – what a coincidence – I dreamed of Blaudov! — From Dr. Brünauer a small case of baked goods, 3.50 kilograms. — Letter to Brünauer: thanks; announcement of the completion of Counterpoint 2 ; my own definition of this, observations on optimism in matters concerning my own work, and the war. With regard to Bismarck's difficulties in Germany, to which he refers, I observe that the opposition to genius is not a special chapter in Germany's history but rather belongs to the entire book of mankind. Finally, communications about Vrieslander, Roth, Weisse, and so on. — Postcard to the shoemaker, specifying my wishes. — — In the evening, notes on Wilhelm Meister from Meyer's edition of the classics (Dr. Victor Schweizer [book 9] 3 and. Dr. Harry Maync [book 10] 4 ). — *
© Translation William Drabkin. |
21. VIII. 16
Sehe den gegenwärtigen Aufenthaltsort der Schwester, den Ort ich gar nicht kenne, Blauda, im Traume, jedoch traumhaft transformirt, . da ich! Was ich nur je an Abbildungen alter deutscher Städtchen u. Städte, auch an modernen Villen sah, drängte sich zu bezaubernden Bildern zusammen u. das kurioseste: es fehlte dabei nicht am Einschlag modernster Technik. Hier hat der Traum Wunder verrichtet: so zeigte z. B. das Heben u. Senken des Dachgiebels an, daß ein Lift im Hause steigt u. fällt. Ob nun auch Shakespeare durch den Traum gespuckt [sic] {387} hat, weiß ich nicht, aber ausgemacht war es mir, daß Blauda an einem Meere liege. Das mir ungewohnte Element lockte meine Neugier u. als ich an das Ufer trat, sah ich zu meinem Entsetzen gerade ein Gespann in die Fluten sich herabstürzen. Aber siehe: auf einmal machte das Pferd im Wasser nur die tollsten lustigsten Purzelbäume u. als ich sah, daß es mit dem Ertrinken nicht gar so ernst sei, dachte auch ich an mein Vergnügen. Ich wandte mich nun wieder der Stadt zu, um ein Caféhaus aufzusuchen. Gerade nur auf das Bbeste erpicht, ging ich zum Hauptplatz: Da taten sich neue Wunder der Architektur auf. leider verschoben sich sofort die Coulissen, die schönen Bilder verloren sich u. ich trat in die Häuslichkeit der Schwester. Hier fand ich eine erstaunliche Fülle von allem, d was irdischen Gütern zugetane Menschen überhaupt nur wünschen mögen. Auch die Mama traf ich dort, wirtschaftlich tätig. Endlich kam auch der junge Herr Marienberg u. meine Schwester flüsterte mir ins Ohr, daß er offenbar Hunger leide u. daß sie sich öfter das Vergnügen mache, ihn zu sättigen, ohne seinen Stolz zu verletzen! *Das Wetter hat sich geändert, Sonne, Gipfel werden sichtbar; jedenfalls ist der Morgen einem Spaziergang günstig. 8¼ –10h St. Jakob, wobei wir den Schuhmacher besuchen. Es war von Nutzen, daß wir rechtzeitig kamen, da er in bezug auf einen wichtigen Punkt unserer Verabredung nicht mehr ganz zuverlässig orientiert war. — Zuhause angelangt, machen wir den ersten Weg zur Bibliothek, aus der wir Meyers Ausgabe von „Wilhelm Meister“ entnehmen, bearbeitet von Dr. Victor Schweizer. 1 — — Revision des Kommentarbestandes zu Ph. Em. Bach, die meine Vermutung bestätigt, daß so ziemlich bereits das ganze Werk kommentiert vorliegt, jedenfalls ganz in den schwierigsten Abschnitten u. Paragraphen. Es bleibt nur mehr so wenig zu tun, daß es in wenigen Tagen fertig gemacht werden könnte, ja vielleicht ließe sich sogar der ganze Kommentar binnen zwei Wochen druckfertig machen! — — Die Einleitung des Herausgebers zu „Wilhelm Meister“ 2 hat uns sehr interessiert, weniger den Ansichten des Herausgebers nach, als wegen der Daten der Literaturhinweise u. besonders wegen der Zitate Goethes, deren eigene Meinung die meinige ganz u. vollauf bestätigt. Auch der An- {388} blick der Irrtümer, wie sie hervorragende Geister am Werk begangen haben, trug zur Vertiefung der Erkenntnis bei. Wir wollen nun auch die speziellen Anmerkungen genau nachlesen. — *Von Sophie (K): meldet Uebersiedlung nach Mähr. Schönberg, die ihnen zwar viel[e] Vorteile raubt, anderseits aber die Verbindung mit Hans ermöglicht. Gerade heute nacht [sic] aber, welcher Zufall, träumte ich von Blauda! — Von Dr. Brünauer ein Kistchen Bäckereien, 3.50 kg. — An Brünauer (Br.): Dank; Ankündigung der Fertigstellung von II2; eigener Definition desselben, Bemerkungen über Optimismus in meinen Sachen, in Sachen der eigenen Arbeit, des Krieges; . iInbezug auf die von ihm zitierten Schwierigkeiten Bismarck’s in Deutschland bemerke ich, der Widerstand wider das Genie gehöre nicht in das besondere Kapitel Deutschlands, sondern in das ganze Buch der Menschheit. Schließlich Mitteilungen über Vrieslander, Roth, Weisse usw. — Karte an den Schuhmacher mit Feststellung meiner Wünsche. — — Abends Anmerkungen zu „Wilhelm Meister“ aus Meyers Klassiker-Ausgabe (Dr. Victor Schweizer [9. Band] 3 u. Dr. Harry Maync [10. Bd.] 4 ). — *
© Transcription Marko Deisinger. |
August 21, 1916.
In a dream I see Blauda, the present whereabouts of my sister and a place that I do not know at all; yet it is magically transformed. That which I had only seen in pictures of old German towns and cities, also in modern villas, merged together to form enchanting images; and, most curiously, the impact of the most modern technology was not missing. Thus the raising and lowering of gables in the roof revealed that an elevator in the house went up and down. Whether Shakespeare himself had a hand in this I don't know; {387} but Blauda was presented to me as lying by the sea. The aspect, unknown to me, attracted my curiosity and as I stepped onto the shore I actually saw, to my horror, a horse and carriage sinking beneath the waves. But lo: all of a sudden the horse was only making the most amazing, amusing somersaults in the water; and when I saw that the matter of drowning wasn't all that serious, I thought, too, of my own pleasure. I now made my way back to the town to look for a coffee house. Eager for only the best one, I went to the main square: there new wonders of architecture unfolded. Unfortunately, the scenery shifted, the beautiful images disappeared, and I entered the domesticity of my sister. Here I found an astonishing array of everything that people could have wished for in the way of earthly goods. I even met my Mama there, busily at work. Finally the young Mr. Marienberg came, and my sister whispered in my ear that he was apparently starving, and that she often took pleasure in satiating him without damaging his pride! *The weather has changed, sun and mountain tops become visible; at any event, the morning is favorable for a walk. From 7:15 to 10 o'clock, to St. Jakob, where we visit the shoemaker. It was useful that we came promptly as he was no longer completely sure with regard to an important point of our arrangement. — Returning home, we take our first trip to the library, from which we borrow Meyer's edition of Wilhelm Meister, edited by Dr. Victor Schweizer. 1 — — Revision of the commentary to C. P. E. Bach, which confirms my suspicion that the entire work essentially appears to be commented on in full; at any event in its entirety in the most difficult sections and paragraphs. There remains so little to do that it could be completed in a few days; perhaps the entire commentary can be made ready for publication within two weeks! — — The editor's introduction to Wilhelm Meister 2 interested us greatly, less for the editor's views than for the information in the references to the secondary literature, and especially on account of the quotations from Goethe, whose own opinion confirms mine completely and thoroughly. {388} Even the sight of the errors that outstanding minds have committed in studying the work contributed to a deeper understanding. We now also want to read the special remarks carefully. — *Postcard from Sophie: she reports their relocation to Mährisch Schönberg which, though it robs them of many advantages, nonetheless permits a connection with Hans. But this very night – what a coincidence – I dreamed of Blaudov! — From Dr. Brünauer a small case of baked goods, 3.50 kilograms. — Letter to Brünauer: thanks; announcement of the completion of Counterpoint 2 ; my own definition of this, observations on optimism in matters concerning my own work, and the war. With regard to Bismarck's difficulties in Germany, to which he refers, I observe that the opposition to genius is not a special chapter in Germany's history but rather belongs to the entire book of mankind. Finally, communications about Vrieslander, Roth, Weisse, and so on. — Postcard to the shoemaker, specifying my wishes. — — In the evening, notes on Wilhelm Meister from Meyer's edition of the classics (Dr. Victor Schweizer [book 9] 3 and. Dr. Harry Maync [book 10] 4 ). — *
© Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, ed. Viktor Schweizer (= Goethes Werke 9, Meyers Klassiker-Ausgaben, Leipzig: Bibliographisches Institut, s. d.). 2 See footnote 1 3 See footnote 1 4 Johann Wolfgang von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre (Schluß.), in: Goethes Werke 10, ed. Harry Maync (Meyers Klassiker-Ausgaben, Leipzig: Bibliographisches Institut, n. d.). The notes to this volume and vol. 9 (ed. Viktor Schweizer) are on pp. 439–69. |