15. XII. 16 +4°, nebelig, nach Tisch aber wunderschön!
— Des morgens, auf dem Wege zu Lie-Lie ein bejammernswert krankes Pferd gesehen, das von einem kleinen Buben offenbar ins Tierspital geführt wurde. Immer wieder blieb das Pferd stehen, weil es von Schmerzen gefoltert offenbar mußte; war doch der kleine Bub aber schon brutal genug, es mit lauter Stimme rücksichtslos anzutreiben, so oft das Pferd stehen blieb. Wer wollte es aber dem Buben verargen? Wird er denn nicht ebenso wie das Pferd von den brutalen Reichen, die ja seine Kutscher u. Einpeitscher sind, vorwärts getrieben, gleichviel ob ihm dies oder jenes wehtut. ? Nicht anders treibt es {538} mit dem Pferd, als mit ihm getrieben wird! — — „N. Fr. Pr.“ Hindenburg –Wiegand (s. 15. XII. 16)[:] Kräftige Fußtritte an Amerika u. die übrigen Gegner bei ganz sonst so manchen klug u. diplomatisch eingestreuten Worten der Anerkennung. 1 — Frau D. erzählt, daß die Notizen von ihrem Bruder 2 sind u. so komme ich in der Stunde wieder auf das Thema: Forscher-Genie , u.wie auf das Genie für sich selbst betrachtet zurück. Es ist geradezu grotesk zu sehen, welche Vorstellung sich Nicht-Genies von vom einem Genie machen (so z. B. daß er immerzu „Neues“ machen müsse!) Nur auf das eine kommen sie noch immer nicht, daß es ihnen für alle Zeit verschlossen bleiben muß nie möglich sein wird, dahinter zu kommen. Wer würde von den Nicht-Genies bBeim Anblick eines auf dem Erdboden kriechenden Wurmes diesem wer wollte da dem Wurm schon etwa zumuten, daß er augenblicklich vor sich hin kriechend z. B. an Gott oder Unsterblichkeit denke? Für Nicht-Genies gibt es nur eines: Sich zZum Genie hinstrebend zu bewegen fortzuleben, zwar ohne Aussicht, es je ganz zu erreichen, aber mit desto schönerer Aussicht auf eine zumindest würdige Beschäftigung. – Bei dieser Gelegenheit habe ich einige mehrere eigene Illusionen der Frau D. richtiggestellt, wie z. B. die, daß sie doch zur Gesellschaft u. nicht zur Kunst sich zu zählen habe, daß auch die Gesellschaft, der sie angehört, dies deutlich herausspürt u. sie eben wegen ihres solchen Zwitterwesens nicht mit Unrecht mit Bemerkungen kritischer Natur zur Last fallen belästigt; daß sie weil sie auch nach dem Begriff der Gesellschaft nicht eigentlich Kunst nicht treibt u. eben daher immer wieder Vorwürfe, daß sie Theorie treibe u. nicht Kunst zu treiben, zu hören bekomm et. – Zum Schlusse begab sich noch folgendes: „Sie haben doch, Herr Doktor, einige freie Stunden, könnte ich da nicht statt am Freitag an einem andern Tage kommen, damit ich am Freitag abreisen kann?“ Die freien Stunden konnte ich nun freilich nicht bestreiten, nachdem ich selbst davon mehrmals ihr gegenüber davon selbst Erwähnung getan, wenn so da ich ihr meine Verluste zu Gemüte führen wollte; ich beschied sie also für Donnerstag um ½5h. Nun erst nahm sie eine die kläglich este Miene der Welt an, um sich gewissermaßen wegen der Weihnachtsreise vor mir zu entschuldigen: zuerst schob sie den Arzt vor, als hätte dieser für sie auf einer Luftveränderung bestanden; darauf meinte nun ich, (nur um sie in die Klemme zu bringen,) daß sie die {539} Reise ja auch ohne ärztliche Empfehlung zu machen sich erlauben dürfe, da sie sich eine solche sich doch überhaupt erlauben kann. Darauf holte sie nun aber aus ihrem Moralsalon eiligst wieder eine andere Ausrede: „Weihnachten muß ich immer fort, um Weihnachten habe ich immer in Wien das Schrecklichste erlebt.“ Mit solchen Argumenten hantiert also eine Gesellschaftsäffin, nur um sich selbst zu belügen u. – wie sie hofft – wohl auch mich über das Äffische hinweggehen zu machen. — — Neid u. Wut der Menschen wider Naturgaben, die sie mit ihrer Affigkeit nicht bewältigen können, so also besonders gegen geistige oder körperliche Schönheit. Nicht nur Vor allem wäre hiezu Arbeit erforderlich, aber selbst die intensivste u. längste würde versagen, während u. gar der kürzeste Weg, der äffische, überhaupt nicht hinlang ten. — Im Kreise der Frau D. scheinen die beiden Brüder 3 sich dem Wahne hinzugeben, daß sie, als praktische Genies, dasselbe schon längst in Wirklichkeit umgesetzt haben, was Josef Popper erst theoretisch formuliert! Auch diese Illusion rektifiziere ich ganz unerbittlich, wobei ich so weit gehe zu sagen, daß es kaum einen größeren Gegensatz geben kann, als den zwischen Betrügern u. Popper. — — Bei Dr. Frühmann (2.); findet nichts Verdächtiges, macht nur wegen des Katarrhs eine Pinselung. — Im Caféhaus erzählt uns der Besitzer, daß soeben von der Behörde die Weisung gekommen, weder Zigarren noch Zigarretten [sic] den Gästen zu verabreichen, widrigenfalls Kellner u. Gast bestraft würden. Darauf meinte der Oberkellner zu uns: „I’ håb’ z’haus paar hundert Stück Z’garetten g’måcht, i’ wer do n iet draufzahl’n wegen denera Varordnunga; i’ wers’ scho’ anbringen!“ Schulbeispiel für kaufmännisches Denken: Unreellerweise schafft er sich der Kellner Tabak in großen Mengen an, nicht etwa um für sich selbst zu hamstern, sondern um die Zigaretten teuerer zu verkaufen, also in preistreiberischer Absicht, empfindet es aber als Härte, wenn die Behörde ihm das Handwerk legt u. nennt das Nicht-erreichen des unreell beabsichtigten Geschäftes ein – Draufzahlenmüssen. 4 — Briand „ bucht “ in seiner letzten Kammerrede zum so u. sovieltenmale die Schlacht an {540} der Marne u. bei Verdun! 5 Echt französische Maulmacherei bei eigentlich bescheidenster Grundlage. Wie u. was müßte erst ein Hindenburg buchen? Aber freilich, alles was dieser Mann in den Mund nähme, wäre für französische Ohren eine geschmacklos-arrogante Ruhmredigkeit! — „ Goldenes Kalb “ – der Kaufmann unterstreicht hiebei schmatzend das Beiwort „golden“, ich aber das Hauptwort „Kalb“. — Presse: Wenn der Presse Beziehungen vorgeworfen werden, so erklärt sie, sich stolz in die Brust werfend, was sie vorbringe, sei ja Ausdruck nur der Redaktion im engsten Kreise; ist es aber in einem gegebenen Zeitpunkt still von Vorwürfen um sie, so verkündet sie die Presse, sich fraulich im Spiegel beschauend, noch stolzer, was sie schreibe, sei die „ öffentliche Meinung “. Ferner: Die Presse gibt zu, daß die Presse (eine andere!) auch käuflich ist oder zumindest einem Bankkonsortium gehört, in welchem Sinne sie dann allerdings die Meinung nur der Kaufenden Käufer wiedergibt; sie gibt aber auch zu, daß die Presse auch sonst durchaus noch nicht immer die Stimme des Volkes bedeutet – man sehe die Zeitung[s]stimmen in England, Frankreich, Italien zum Friedensanbot vom 12. XII. 16 6 , – woraus folgt, daß die Presse (zumindest dort!) nicht das Recht hat, sich als Künderin der öffentlichen Meinung aufzuspielen. Was ist also an der Presse Richtiges, wenn sie, – um das Resultat zusammenzufassen – selbst zugibt, nicht Ausdruck der öffentlichen Meinung zu sein, um es allerdings gleich wieder zu behaupten, wenn sie selbst zugibt käuflich zu sein, um gleich darauf die ihre Meinung als Ausdruck der Redaktion hinzustellen? Am treffendsten, glaube ich, ist es, diese Widersprüche im Begriff der Lüge zusammenzufassen u. für Lüge das Synonym Geschäft zu setzen! Lüge , ist immer Geschäft, Geschäft immer Lüge u. Betrug u. so ist auch die Presse ein lügnerisch-betrügerisches Geschäft, begangen von Individuen, die Honoriges zu machen offenbar nicht wußten im Stande sind u. sich daher zum Betrug flüchteten. — © Transcription Marko Deisinger. |
December 15, 1916. +4°, fog, but beautiful weather after lunch!
— In the morning, on my way to Lie-Lie, I saw a pitiably sick horse which was being led to an animal hospital by a small boy. The horse repeatedly came to a stop, evidently because it was tortured by the pain; and yet the boy was brutal enough to drive the horse on with a loud voice whenever it came to a stop. But who would hold this against the boy? Is he not driven forward, just like the horse, by the brutal rich, who indeed are his coachmen and whippers, regardless of whether this or that hurts him? {538} The horse is being driven no differently from the way in which he is driven! — — Neue Freie Presse Hindenburg –Wiegand (see December 15, 1916): clear footsteps to America and the other opponents with so many cleverly and diplomatically interspersed words of recognition. 1 — Mrs. Deutsch says that the notes were made by her brother, 2 and so during the lesson I again revisit the subject research–genius as applied to genius per se. It is downright grotesque to see what notion non-geniuses have of a genius (for instance, that he must always do something "new"!). Only one thing forever eludes them, that they must forever remain barred from finding out what [genius] is. When looking at a worm crawling along the ground, who would expect the worm, as it crawls along, to be thinking, say, about God or immortality? For non-geniuses there is only one thing: to go on living while aspiring to genius, of course without any prospect of ever reaching it but with the all the more beautiful prospect of an occupation that is at least a dignified one. – On this occasion I corrected several of Mrs. Deutsch's own illusions, e.g. that she reckons herself to be part of society and not to art; that even the society to which she belongs clearly senses this and, verily on account of such a two-faced existence, burdens her (not unjustly) with remarks of a critical nature; that, from society's viewpoint, she is not actually pursuing art and that she will continue to hear criticisms that she is pursuing theory and not art. – In the end, the following emerged: "Doctor [Schenker], you surely have a few free lesson times; could I not come to you on some day other than Friday, so that I can depart on Friday?" I could certainly not dispute the free times, having myself mentioned them several times in order to make her understand my losses; I decided therefore to see her on Thursday at 4:30. Only then did she put on the most miserable facial expression possible, to excuse herself to me for her Christmas holiday. At first, she used her physician as a pretext, as if he had insisted that she have a change of scenery, whereupon I said (only to put her in a corner) {539} that she could permit herself to make the trip even without medical advice, as she can allow herself to make any such trip. Hearing this, however, she pulled another excuse from her salon of morality as quickly as possible: "I must always go away at Christmas; at Christmas, I have always experienced the most dreadful things in Vienna." Thus a society she-ape makes use of such arguments, only to deceive herself and – as she hopes – to get me to pass over her apishness as well. — — Envy and anger of people against natural gifts, which they are unable to master on account of their apishness, especially against intellectual or physical beauty. Above all, work would be necessary; but even the most intensive and longest work would fail, while the shortest path, the apish, would not suffice at all. — In Mrs. Deutsch's circle, her two brothers 3 seem to have succumbed to the delusion that, as practical geniuses, they have put into practice what Josef Popper has only formulated theoretically! This illusion, too, I rectify mercilessly, going so far as to say that there could hardly be a greater contrast than that between fraudsters and Popper. — — At Dr. Frühmann's (second visit); he finds nothing suspicious, just brushes the affected area on account of the catarrh. — At the coffee house, the proprietor informs us that the authorities have just issued instructions to give neither cigars nor cigarettes to his customers, otherwise waiter and customer would be punished. To this the head waiter added: "At home I have made a few hundred cigarettes, but I'm not going to be out of pocket on account of the regulation; I'll bring them in any event." A textbook example of business mentality: the waiter acquires large quantities of tobacco, unrealistically: not to stockpile it for his own use, but rather in order to sell his cigarettes at a higher price, i.e. with a profit motive. But he finds it severe when the authorities put a stop to his activities and calls the non-attainment of his unrealistically conceived business "having to be out of pocket." 4 — In his most recent speech to parliament, Briand "registers" for yet another time the battle at {540} the Marne and at Verdun! 5 Typical French yelping on what is actually the flimsiest basis. How and what would a Hindenburg have to register? But admittedly, everything that this man puts in his mouth would be for French ears tasteless and arrogant boastfulness! — "Golden Calf" – the businessman noisily underscores the adjective "golden," but I emphasize the noun "calf." — The press: if the press is accused of having connections, then it explains, puffing itself up, that what it prints is merely an expression only of the editorial team in the narrowest sense; but if at a given time there are not criticisms, then, looking at itself in a mirror, as women do, it pronounces with even greater pride that what it writes is "public opinion." In addition, the press admits that the press (a different one!) is even corruptible or at least belongs to a banking consortium, in which sense it is reproducing the opinion of its buyers; but it also admits that what the press says does not otherwise signify the voice of the people in all cases – look at the newspaper voices in England, France, and Italy concerning the peace proposal of December 12, 1916 6 – from which it follows that the press, at least in those instances, does not have the right to put on airs as the herald of public opinion. And so what is right about the press if – to summarize the result – it itself admits not to be the expression of public opinion, only to assert immediately afterwards, when it itself admits to be corruptible, only to assert again straightaway that its opinion is the expression of the editors? Most apt, I believe, is that these contradictions should be placed together under the rubric of mendacity and for mendacity to be treated as a synonym of business! Mendacity is always business, business always mendacity and deceit; and so even the press is a lying, deceitful business, perpetrated by individuals who are evidently not capable of doing decent things and thus take refuge in deceit. — © Translation William Drabkin. |
15. XII. 16 +4°, nebelig, nach Tisch aber wunderschön!
— Des morgens, auf dem Wege zu Lie-Lie ein bejammernswert krankes Pferd gesehen, das von einem kleinen Buben offenbar ins Tierspital geführt wurde. Immer wieder blieb das Pferd stehen, weil es von Schmerzen gefoltert offenbar mußte; war doch der kleine Bub aber schon brutal genug, es mit lauter Stimme rücksichtslos anzutreiben, so oft das Pferd stehen blieb. Wer wollte es aber dem Buben verargen? Wird er denn nicht ebenso wie das Pferd von den brutalen Reichen, die ja seine Kutscher u. Einpeitscher sind, vorwärts getrieben, gleichviel ob ihm dies oder jenes wehtut. ? Nicht anders treibt es {538} mit dem Pferd, als mit ihm getrieben wird! — — „N. Fr. Pr.“ Hindenburg –Wiegand (s. 15. XII. 16)[:] Kräftige Fußtritte an Amerika u. die übrigen Gegner bei ganz sonst so manchen klug u. diplomatisch eingestreuten Worten der Anerkennung. 1 — Frau D. erzählt, daß die Notizen von ihrem Bruder 2 sind u. so komme ich in der Stunde wieder auf das Thema: Forscher-Genie , u.wie auf das Genie für sich selbst betrachtet zurück. Es ist geradezu grotesk zu sehen, welche Vorstellung sich Nicht-Genies von vom einem Genie machen (so z. B. daß er immerzu „Neues“ machen müsse!) Nur auf das eine kommen sie noch immer nicht, daß es ihnen für alle Zeit verschlossen bleiben muß nie möglich sein wird, dahinter zu kommen. Wer würde von den Nicht-Genies bBeim Anblick eines auf dem Erdboden kriechenden Wurmes diesem wer wollte da dem Wurm schon etwa zumuten, daß er augenblicklich vor sich hin kriechend z. B. an Gott oder Unsterblichkeit denke? Für Nicht-Genies gibt es nur eines: Sich zZum Genie hinstrebend zu bewegen fortzuleben, zwar ohne Aussicht, es je ganz zu erreichen, aber mit desto schönerer Aussicht auf eine zumindest würdige Beschäftigung. – Bei dieser Gelegenheit habe ich einige mehrere eigene Illusionen der Frau D. richtiggestellt, wie z. B. die, daß sie doch zur Gesellschaft u. nicht zur Kunst sich zu zählen habe, daß auch die Gesellschaft, der sie angehört, dies deutlich herausspürt u. sie eben wegen ihres solchen Zwitterwesens nicht mit Unrecht mit Bemerkungen kritischer Natur zur Last fallen belästigt; daß sie weil sie auch nach dem Begriff der Gesellschaft nicht eigentlich Kunst nicht treibt u. eben daher immer wieder Vorwürfe, daß sie Theorie treibe u. nicht Kunst zu treiben, zu hören bekomm et. – Zum Schlusse begab sich noch folgendes: „Sie haben doch, Herr Doktor, einige freie Stunden, könnte ich da nicht statt am Freitag an einem andern Tage kommen, damit ich am Freitag abreisen kann?“ Die freien Stunden konnte ich nun freilich nicht bestreiten, nachdem ich selbst davon mehrmals ihr gegenüber davon selbst Erwähnung getan, wenn so da ich ihr meine Verluste zu Gemüte führen wollte; ich beschied sie also für Donnerstag um ½5h. Nun erst nahm sie eine die kläglich este Miene der Welt an, um sich gewissermaßen wegen der Weihnachtsreise vor mir zu entschuldigen: zuerst schob sie den Arzt vor, als hätte dieser für sie auf einer Luftveränderung bestanden; darauf meinte nun ich, (nur um sie in die Klemme zu bringen,) daß sie die {539} Reise ja auch ohne ärztliche Empfehlung zu machen sich erlauben dürfe, da sie sich eine solche sich doch überhaupt erlauben kann. Darauf holte sie nun aber aus ihrem Moralsalon eiligst wieder eine andere Ausrede: „Weihnachten muß ich immer fort, um Weihnachten habe ich immer in Wien das Schrecklichste erlebt.“ Mit solchen Argumenten hantiert also eine Gesellschaftsäffin, nur um sich selbst zu belügen u. – wie sie hofft – wohl auch mich über das Äffische hinweggehen zu machen. — — Neid u. Wut der Menschen wider Naturgaben, die sie mit ihrer Affigkeit nicht bewältigen können, so also besonders gegen geistige oder körperliche Schönheit. Nicht nur Vor allem wäre hiezu Arbeit erforderlich, aber selbst die intensivste u. längste würde versagen, während u. gar der kürzeste Weg, der äffische, überhaupt nicht hinlang ten. — Im Kreise der Frau D. scheinen die beiden Brüder 3 sich dem Wahne hinzugeben, daß sie, als praktische Genies, dasselbe schon längst in Wirklichkeit umgesetzt haben, was Josef Popper erst theoretisch formuliert! Auch diese Illusion rektifiziere ich ganz unerbittlich, wobei ich so weit gehe zu sagen, daß es kaum einen größeren Gegensatz geben kann, als den zwischen Betrügern u. Popper. — — Bei Dr. Frühmann (2.); findet nichts Verdächtiges, macht nur wegen des Katarrhs eine Pinselung. — Im Caféhaus erzählt uns der Besitzer, daß soeben von der Behörde die Weisung gekommen, weder Zigarren noch Zigarretten [sic] den Gästen zu verabreichen, widrigenfalls Kellner u. Gast bestraft würden. Darauf meinte der Oberkellner zu uns: „I’ håb’ z’haus paar hundert Stück Z’garetten g’måcht, i’ wer do n iet draufzahl’n wegen denera Varordnunga; i’ wers’ scho’ anbringen!“ Schulbeispiel für kaufmännisches Denken: Unreellerweise schafft er sich der Kellner Tabak in großen Mengen an, nicht etwa um für sich selbst zu hamstern, sondern um die Zigaretten teuerer zu verkaufen, also in preistreiberischer Absicht, empfindet es aber als Härte, wenn die Behörde ihm das Handwerk legt u. nennt das Nicht-erreichen des unreell beabsichtigten Geschäftes ein – Draufzahlenmüssen. 4 — Briand „ bucht “ in seiner letzten Kammerrede zum so u. sovieltenmale die Schlacht an {540} der Marne u. bei Verdun! 5 Echt französische Maulmacherei bei eigentlich bescheidenster Grundlage. Wie u. was müßte erst ein Hindenburg buchen? Aber freilich, alles was dieser Mann in den Mund nähme, wäre für französische Ohren eine geschmacklos-arrogante Ruhmredigkeit! — „ Goldenes Kalb “ – der Kaufmann unterstreicht hiebei schmatzend das Beiwort „golden“, ich aber das Hauptwort „Kalb“. — Presse: Wenn der Presse Beziehungen vorgeworfen werden, so erklärt sie, sich stolz in die Brust werfend, was sie vorbringe, sei ja Ausdruck nur der Redaktion im engsten Kreise; ist es aber in einem gegebenen Zeitpunkt still von Vorwürfen um sie, so verkündet sie die Presse, sich fraulich im Spiegel beschauend, noch stolzer, was sie schreibe, sei die „ öffentliche Meinung “. Ferner: Die Presse gibt zu, daß die Presse (eine andere!) auch käuflich ist oder zumindest einem Bankkonsortium gehört, in welchem Sinne sie dann allerdings die Meinung nur der Kaufenden Käufer wiedergibt; sie gibt aber auch zu, daß die Presse auch sonst durchaus noch nicht immer die Stimme des Volkes bedeutet – man sehe die Zeitung[s]stimmen in England, Frankreich, Italien zum Friedensanbot vom 12. XII. 16 6 , – woraus folgt, daß die Presse (zumindest dort!) nicht das Recht hat, sich als Künderin der öffentlichen Meinung aufzuspielen. Was ist also an der Presse Richtiges, wenn sie, – um das Resultat zusammenzufassen – selbst zugibt, nicht Ausdruck der öffentlichen Meinung zu sein, um es allerdings gleich wieder zu behaupten, wenn sie selbst zugibt käuflich zu sein, um gleich darauf die ihre Meinung als Ausdruck der Redaktion hinzustellen? Am treffendsten, glaube ich, ist es, diese Widersprüche im Begriff der Lüge zusammenzufassen u. für Lüge das Synonym Geschäft zu setzen! Lüge , ist immer Geschäft, Geschäft immer Lüge u. Betrug u. so ist auch die Presse ein lügnerisch-betrügerisches Geschäft, begangen von Individuen, die Honoriges zu machen offenbar nicht wußten im Stande sind u. sich daher zum Betrug flüchteten. — © Transcription Marko Deisinger. |
December 15, 1916. +4°, fog, but beautiful weather after lunch!
— In the morning, on my way to Lie-Lie, I saw a pitiably sick horse which was being led to an animal hospital by a small boy. The horse repeatedly came to a stop, evidently because it was tortured by the pain; and yet the boy was brutal enough to drive the horse on with a loud voice whenever it came to a stop. But who would hold this against the boy? Is he not driven forward, just like the horse, by the brutal rich, who indeed are his coachmen and whippers, regardless of whether this or that hurts him? {538} The horse is being driven no differently from the way in which he is driven! — — Neue Freie Presse Hindenburg –Wiegand (see December 15, 1916): clear footsteps to America and the other opponents with so many cleverly and diplomatically interspersed words of recognition. 1 — Mrs. Deutsch says that the notes were made by her brother, 2 and so during the lesson I again revisit the subject research–genius as applied to genius per se. It is downright grotesque to see what notion non-geniuses have of a genius (for instance, that he must always do something "new"!). Only one thing forever eludes them, that they must forever remain barred from finding out what [genius] is. When looking at a worm crawling along the ground, who would expect the worm, as it crawls along, to be thinking, say, about God or immortality? For non-geniuses there is only one thing: to go on living while aspiring to genius, of course without any prospect of ever reaching it but with the all the more beautiful prospect of an occupation that is at least a dignified one. – On this occasion I corrected several of Mrs. Deutsch's own illusions, e.g. that she reckons herself to be part of society and not to art; that even the society to which she belongs clearly senses this and, verily on account of such a two-faced existence, burdens her (not unjustly) with remarks of a critical nature; that, from society's viewpoint, she is not actually pursuing art and that she will continue to hear criticisms that she is pursuing theory and not art. – In the end, the following emerged: "Doctor [Schenker], you surely have a few free lesson times; could I not come to you on some day other than Friday, so that I can depart on Friday?" I could certainly not dispute the free times, having myself mentioned them several times in order to make her understand my losses; I decided therefore to see her on Thursday at 4:30. Only then did she put on the most miserable facial expression possible, to excuse herself to me for her Christmas holiday. At first, she used her physician as a pretext, as if he had insisted that she have a change of scenery, whereupon I said (only to put her in a corner) {539} that she could permit herself to make the trip even without medical advice, as she can allow herself to make any such trip. Hearing this, however, she pulled another excuse from her salon of morality as quickly as possible: "I must always go away at Christmas; at Christmas, I have always experienced the most dreadful things in Vienna." Thus a society she-ape makes use of such arguments, only to deceive herself and – as she hopes – to get me to pass over her apishness as well. — — Envy and anger of people against natural gifts, which they are unable to master on account of their apishness, especially against intellectual or physical beauty. Above all, work would be necessary; but even the most intensive and longest work would fail, while the shortest path, the apish, would not suffice at all. — In Mrs. Deutsch's circle, her two brothers 3 seem to have succumbed to the delusion that, as practical geniuses, they have put into practice what Josef Popper has only formulated theoretically! This illusion, too, I rectify mercilessly, going so far as to say that there could hardly be a greater contrast than that between fraudsters and Popper. — — At Dr. Frühmann's (second visit); he finds nothing suspicious, just brushes the affected area on account of the catarrh. — At the coffee house, the proprietor informs us that the authorities have just issued instructions to give neither cigars nor cigarettes to his customers, otherwise waiter and customer would be punished. To this the head waiter added: "At home I have made a few hundred cigarettes, but I'm not going to be out of pocket on account of the regulation; I'll bring them in any event." A textbook example of business mentality: the waiter acquires large quantities of tobacco, unrealistically: not to stockpile it for his own use, but rather in order to sell his cigarettes at a higher price, i.e. with a profit motive. But he finds it severe when the authorities put a stop to his activities and calls the non-attainment of his unrealistically conceived business "having to be out of pocket." 4 — In his most recent speech to parliament, Briand "registers" for yet another time the battle at {540} the Marne and at Verdun! 5 Typical French yelping on what is actually the flimsiest basis. How and what would a Hindenburg have to register? But admittedly, everything that this man puts in his mouth would be for French ears tasteless and arrogant boastfulness! — "Golden Calf" – the businessman noisily underscores the adjective "golden," but I emphasize the noun "calf." — The press: if the press is accused of having connections, then it explains, puffing itself up, that what it prints is merely an expression only of the editorial team in the narrowest sense; but if at a given time there are not criticisms, then, looking at itself in a mirror, as women do, it pronounces with even greater pride that what it writes is "public opinion." In addition, the press admits that the press (a different one!) is even corruptible or at least belongs to a banking consortium, in which sense it is reproducing the opinion of its buyers; but it also admits that what the press says does not otherwise signify the voice of the people in all cases – look at the newspaper voices in England, France, and Italy concerning the peace proposal of December 12, 1916 6 – from which it follows that the press, at least in those instances, does not have the right to put on airs as the herald of public opinion. And so what is right about the press if – to summarize the result – it itself admits not to be the expression of public opinion, only to assert immediately afterwards, when it itself admits to be corruptible, only to assert again straightaway that its opinion is the expression of the editors? Most apt, I believe, is that these contradictions should be placed together under the rubric of mendacity and for mendacity to be treated as a synonym of business! Mendacity is always business, business always mendacity and deceit; and so even the press is a lying, deceitful business, perpetrated by individuals who are evidently not capable of doing decent things and thus take refuge in deceit. — © Translation William Drabkin. |
Footnotes1 Karl v. Wiegand, "Ein Gespräch mit Feldmarschall v. Hindenburg," Neue Freie Presse, No. 18794, December 15, 1916, evening edition, pp. 2-4. 2 Either Heinrich or Fritz Mendl. See diary entry for December 12, in which the remarks on research and genius are first mentioned. 3 Heinrich and Fritz Mendl. 4 Marginal remark in Schenker's hand: Kaufmann ("businessman"). 5 "Erklärungen Briands zum Friedensangebot. Warnung vor einer Vergiftung des Landes," Neue Freie Presse, No. 18794, December 15, 1916, morning edition, pp. 3-4. 6 The peace proposal issued by the Central powers on December 12, 1916, remained without consequences. |