13. IX. 19
Erlösung winkt uns erst in Vöklabruck gegen 3h morgens, wo zwei Mädchen aussteigen; wir nehmen ihre Plätze ein u. schlafen sofort. Der Morgen enthüllt uns die Mitreisenden. Ein Bankbeamter aus Mannheim, der geschäftlich nach Wien zur Creditanstalt reist, erzählt empörendste Einzelheiten aus den von den Franzosen besetzten Gebieten um Mannheim. Auch fällt uns ein junger Jude besonders auf, dessen Kleidung auf jüngsterworbenen Wohlstand schließen ließ, mit dem Sprache u. {2142} Betragen freilich nicht gleichen Schritt noch halten können. Er zeigt sich allen Mitreisenden gegenüber überaus dienstfertig u. tut jemand über so viel Freundlichkeit erstaunt, so meint er immer wieder: „Wer soll denn helfen, wenn nicht ein junger Mensch?“ Bei der Ankunft hatten wir keine geringe Verlegenheit zu bestehen, da wir Wallner zunächst nicht finden konnten; die Menschenmenge, die M mitreisenden, die E erwartenden, war so unübersehbar, daß wir fast die Hoffnung aufgeben wollten, ihn überhaupt zu finden. Erst die Vermittlung eines andern Trägers hat ihn uns gebracht u. wir konnten nun ruhig allem Kommenden entgegensehen. Wir übergaben ihm die Gepäckscheine u. nahmen im Restaurationsgarten 1 Platz[,] um zu essen. Hierher brachte uns Wallner die Mitteilung, daß unser Reisegepäck wahrscheinlich in Salzburg zurückgeblieben sei, daß es aber bestimmt morgen einlangen werde, worauf er es unverzüglich ins Haus zu bringen versprach. — Zuhause bei mir u. Lie-Liechen alles in Ordnung vorgefunden, bloß die drei Gläser Erdbeermarmelade wollten gerade Schimmel ansetzen. Lie-Liechen findet zwei Briefe von Paul vor, aus denen auf seinen Aufenthalt beim Bruder Louis geschlossen werden konnte. Lie-Liechen braut einen guten Café! — Erster Weg zur Post, Meldung meiner Ankunft. — An das Post-Zeitungsamt (K.): ersuche um Zusendung an meine ständige Adresse. — Zuhause schon vorgefunden: von Hupka (K.): bittet, mich in den nächsten Tagen sprechen zu dürfen; von Frl. Freund (Br.): hofft nach Wien zurückkehren zu können u. bittet um Wiederaufnahme; von Figdor (Br.): meldet sich an und schlägt zwei Stunden vor; von Oppel (Brief mit beigelegter Chaconne): 2 erzählt unter anderem, wie er vom Herausgeber {2143} einer Musik-Zeitschrift aufgefordert über mich zu schreiben, dies mit der Begründung ablehnte, selbst noch nicht so weit zu sein, um dies fertig zu bringen; von Dr. Wächter das Büchlein; von Deetjen (Br.): habe sich bei Hertzka nach etwa neuerschienenen Arbeiten von mir erkundigt, von ihm aber die Mitteilung erhalten, daß ich nichts mehr bei ihm veröffentlichen werde; bittet mich um Hilfe u. Teilnahme an der von ihm geplanten Erziehung seines Konzertpublikums; von Kohn: Mahnschreiben u. Erlagschein. — Wallner bringt punkt 6h, wie versprochen, meine Handtasche. © Transcription Marko Deisinger. |
September 13, 1919
The first hope of salvation didn't come until Vöklabruck at around 3 a.m., when two girls depart; we take their seats and fall asleep immediately. The morning revealed who was in our car with us. A banker from Mannheim, who was traveling on business to Vienna to the Creditanstalt, tells us the most shocking details from the areas around Mannheim occupied by the French. We notice especially a young Jew, whose clothing indicates recently acquired wealth, which speech and {2142} deportment naturally could not keep up with. He was absolutely accommodating to all the other travelers and when someone expresses surprise at so much friendliness, he said again and again: "Who should help, if not a young person?" Upon arriving, we faced the sizeable embarrassment of not being able to find Wallner at first; the crowds, fellow travelers, people waiting for someone, was all so vast, that we nearly gave up all hope of finding him at all. Only with the help of another carrier was he brought to us and we could calmly handle what was to come. We gave him the luggage tags and sat down in the restaurant courtyard 1 to eat. Here Wallner brought us the news that our luggage was probably left behind in Salzburg but that it will certainly arrive tomorrow, then he promised to bring it home to us without delay. — Everything was in order at home in my apartment and Lie-Liechen's apartment, only three jars of strawberry marmalade were on the brink of developing mold. Lie-Liechen finds two letters from Paul, from which a stay with brother Louis could be deduced. Lie-Liechen brews good coffee! — First errand to the post office, report my arrival. — To the newspaper post office (postcard): request delivery to my permanent address. — Find already at home: from Hupka (postcard): asks for permission to speak with me in the next few days; From Miss Freund (letter): hopes to be able to return to Vienna and asks to be taken on again; from Figdor (letter): signs up and proposes two lessons; from Oppel (letter with enclosed chaconne): 2 among other things, tells how he was {2143} asked by the publisher of a music magazine to write about me, which he refused on grounds that he is himself not yet advanced enough to do that; from Dr. Wächter the small book; from Deetjen (letter): asked Hertzka about any new publications of mine but was given the information from him that I would not be publishing anything else with him; asks for my help and involvement in his plan to educate his concert audience; from Kohn: dunning letter and payment form. — Wallner brings my handbag at exactly 6:00 as promised. © Translation Scott Witmer. |
13. IX. 19
Erlösung winkt uns erst in Vöklabruck gegen 3h morgens, wo zwei Mädchen aussteigen; wir nehmen ihre Plätze ein u. schlafen sofort. Der Morgen enthüllt uns die Mitreisenden. Ein Bankbeamter aus Mannheim, der geschäftlich nach Wien zur Creditanstalt reist, erzählt empörendste Einzelheiten aus den von den Franzosen besetzten Gebieten um Mannheim. Auch fällt uns ein junger Jude besonders auf, dessen Kleidung auf jüngsterworbenen Wohlstand schließen ließ, mit dem Sprache u. {2142} Betragen freilich nicht gleichen Schritt noch halten können. Er zeigt sich allen Mitreisenden gegenüber überaus dienstfertig u. tut jemand über so viel Freundlichkeit erstaunt, so meint er immer wieder: „Wer soll denn helfen, wenn nicht ein junger Mensch?“ Bei der Ankunft hatten wir keine geringe Verlegenheit zu bestehen, da wir Wallner zunächst nicht finden konnten; die Menschenmenge, die M mitreisenden, die E erwartenden, war so unübersehbar, daß wir fast die Hoffnung aufgeben wollten, ihn überhaupt zu finden. Erst die Vermittlung eines andern Trägers hat ihn uns gebracht u. wir konnten nun ruhig allem Kommenden entgegensehen. Wir übergaben ihm die Gepäckscheine u. nahmen im Restaurationsgarten 1 Platz[,] um zu essen. Hierher brachte uns Wallner die Mitteilung, daß unser Reisegepäck wahrscheinlich in Salzburg zurückgeblieben sei, daß es aber bestimmt morgen einlangen werde, worauf er es unverzüglich ins Haus zu bringen versprach. — Zuhause bei mir u. Lie-Liechen alles in Ordnung vorgefunden, bloß die drei Gläser Erdbeermarmelade wollten gerade Schimmel ansetzen. Lie-Liechen findet zwei Briefe von Paul vor, aus denen auf seinen Aufenthalt beim Bruder Louis geschlossen werden konnte. Lie-Liechen braut einen guten Café! — Erster Weg zur Post, Meldung meiner Ankunft. — An das Post-Zeitungsamt (K.): ersuche um Zusendung an meine ständige Adresse. — Zuhause schon vorgefunden: von Hupka (K.): bittet, mich in den nächsten Tagen sprechen zu dürfen; von Frl. Freund (Br.): hofft nach Wien zurückkehren zu können u. bittet um Wiederaufnahme; von Figdor (Br.): meldet sich an und schlägt zwei Stunden vor; von Oppel (Brief mit beigelegter Chaconne): 2 erzählt unter anderem, wie er vom Herausgeber {2143} einer Musik-Zeitschrift aufgefordert über mich zu schreiben, dies mit der Begründung ablehnte, selbst noch nicht so weit zu sein, um dies fertig zu bringen; von Dr. Wächter das Büchlein; von Deetjen (Br.): habe sich bei Hertzka nach etwa neuerschienenen Arbeiten von mir erkundigt, von ihm aber die Mitteilung erhalten, daß ich nichts mehr bei ihm veröffentlichen werde; bittet mich um Hilfe u. Teilnahme an der von ihm geplanten Erziehung seines Konzertpublikums; von Kohn: Mahnschreiben u. Erlagschein. — Wallner bringt punkt 6h, wie versprochen, meine Handtasche. © Transcription Marko Deisinger. |
September 13, 1919
The first hope of salvation didn't come until Vöklabruck at around 3 a.m., when two girls depart; we take their seats and fall asleep immediately. The morning revealed who was in our car with us. A banker from Mannheim, who was traveling on business to Vienna to the Creditanstalt, tells us the most shocking details from the areas around Mannheim occupied by the French. We notice especially a young Jew, whose clothing indicates recently acquired wealth, which speech and {2142} deportment naturally could not keep up with. He was absolutely accommodating to all the other travelers and when someone expresses surprise at so much friendliness, he said again and again: "Who should help, if not a young person?" Upon arriving, we faced the sizeable embarrassment of not being able to find Wallner at first; the crowds, fellow travelers, people waiting for someone, was all so vast, that we nearly gave up all hope of finding him at all. Only with the help of another carrier was he brought to us and we could calmly handle what was to come. We gave him the luggage tags and sat down in the restaurant courtyard 1 to eat. Here Wallner brought us the news that our luggage was probably left behind in Salzburg but that it will certainly arrive tomorrow, then he promised to bring it home to us without delay. — Everything was in order at home in my apartment and Lie-Liechen's apartment, only three jars of strawberry marmalade were on the brink of developing mold. Lie-Liechen finds two letters from Paul, from which a stay with brother Louis could be deduced. Lie-Liechen brews good coffee! — First errand to the post office, report my arrival. — To the newspaper post office (postcard): request delivery to my permanent address. — Find already at home: from Hupka (postcard): asks for permission to speak with me in the next few days; From Miss Freund (letter): hopes to be able to return to Vienna and asks to be taken on again; from Figdor (letter): signs up and proposes two lessons; from Oppel (letter with enclosed chaconne): 2 among other things, tells how he was {2143} asked by the publisher of a music magazine to write about me, which he refused on grounds that he is himself not yet advanced enough to do that; from Dr. Wächter the small book; from Deetjen (letter): asked Hertzka about any new publications of mine but was given the information from him that I would not be publishing anything else with him; asks for my help and involvement in his plan to educate his concert audience; from Kohn: dunning letter and payment form. — Wallner brings my handbag at exactly 6:00 as promised. © Translation Scott Witmer. |
Footnotes1 Restaurationsgarten: Austrian German for Garten einer Gaststätte (courtyard of a restaurant). 2 = OJ 13/10, [7], September 7, 1919. |