Downloads temporarily removed for testing purposes


Prag, 19./III 1925


Liebe Jenny! 1

Es wird Dich wohl etwas befremden, daß ich Dir schreibe und nicht Paul, dein Bruder. Die Ursache ist folgende:

Paul hat sich vorgenommen, Dir einen recht ausführlichen Brief über jene Geschehnisse zu senden, die sich in der Zeit ereigneten, da Du nichts von ihm hörtest. Um rechte M[o]m[en]te zu diesem Brief zu finden, wollte er ihn schreiben, wenn er seinen, ihm von Gesetzes wegen diktierten, unfreiwilligen 3 Monateurlaub angetreten hatte. Dies geschah am 10. d. M.. Da er aber nur einmal monatlich schreiben darf, hat er mich, gewiß an Dich zu berichten. Denn die Pause, bis er wiederkäme, wäre doch zu lang.

Erschrick nur nicht, es folgt nun weitere Erklärung! Paul hat zwar eine Privatanstellung, hat aber doch ab und zu noch Ausflüge in die Politik gemacht, von der er ernstlich wohl nie wieder lassen wird. Ein solcher Ausflug – es war dies eine Versammlung im April vorigen Jahres – ist ihm schlecht bekommen. Er wurde wegen Aufreizung zum Sturz der Regierung nach den § des Gesetzes zum Schutze der Republik angeklagt und zu 3 Monaten Kerker verurteilt, die er nun absetzen muß. Da die Vergehen gegen das Schutzgesetz, wie gemeine Verbrechen gewertet werden, genießt Paul keinerlei Begünstigungen, wie sie bei politischen Vergehen üblich sind. In dieser Hinsicht ist die Tschechoslovakei ein Unikum, denn, es existiert überhaupt kein Staat, der durch ein besonderes Gesetz politische Vergehen wie gemeine Vergehen klassifiziert. Paul war im {2} Jahre 1923 auch schon 3 Wochen inhaftiert und zwar wegen einer Rede, die er anläßlich der Mobilisierung gehalten hatte. Damals bestand das famose Schutzgesetz noch nicht. Paul konnte sich selbst verpflegen, es wurde ihm eine sehr schöne Zelle zugeteilt, er konnte lesen und für sich arbeiten etc. . In Unkenntnis der Wirkungen des neuen Gesetzes, glaubte er, daß auch diesmal so vorgegangen wurden würde u. er hätte Dir recht ausführlich über sein Treiben berichten wollen. Da Du auch an unsere Existenzfrage denken wirst: Seine Anstalt hat sich sehr anständig benommen. Es wurde eine Disziplinarkomission eingesetzt, die einen Antrag auf Entlassung Pauls abgelehnt hat. Sie bewilligte ihm die 3 Monate als bezahlten Urlaub.

Nun zu all dem, was die Jahre vorher geschah! Paul inskribierte 1919 für Philosophie und trieb gleichzeitig Chemie. In diesem Jahr trat er auch in die sozialdemokr. Partei ein und betätigte sich bald sosehr, daß leitende Funktionäre auf ihn aufmerksam wurden. Als 1920 der Betrag, der für sein weiteres Studium noch vorhanden war, nur noch für Monate gereicht hätte, machten sich seine Verwandten erbötig, ihm das weitere Studium zu bezahlen. Jedoch: Philosophie aufgeben, Chemie fortsetzen. Letzteres hat er nur mit Unlust und als ihm Juni 1920 der Antrag gestellt wurde, als politischer u. volkswirtschaftl. Redakteur an den Reichenberger „Vorwärts“ zu gehen, 2 nahm Paul an. Er arbeitete mit solchem Fleiß und Hingebung an der Sache, erwarb sich unter den Arbeitern eine solche Beliebtheit, {3} wie sie leider nicht viele Führer der kommunist. Partei besitzen. In der Zeit, als hier unter heftigen theoretischen Auseinandersetzungen die komm. Partei gegründet wurde, hörten in vielen Gebieten in überfüllten Sälen die Arbeiter Paul 3–4 Stunden zu, ohne, daß einer weggelaufen wäre. Es ist dies ein Phänomen, und wurde selbst von langjährigen Politkern mit Verwunderung konstatiert. Denn: Paul hat nie Phrasen gedroschen, er wollte überzeugen und brachte eine Fülle von Material vor die interessierte Zuhörerschaft, die nicht zu ermüden schien.

Jänner 1922 setzte Paul seiner öffentlichen politischen Betätigung, die meiner Meinung nach damals seine höchste Reife aufwies, ein gewaltsames Ende. Er verliert wegen persönlicher Differenzen, die er damals nicht überwinden konnte, seine politische Stellung, die doch nur der einzige Platz ist, auf den er gehört. Ein halbes Jahr hielt er es aus, ohne nur eine einzige Zeile zu schreiben. Dann aber verfasste er wieder Artikel und 1923 hielt er bereits wieder – ohne Wissen seiner Anstalt – Vorträge, zuerst nur in Parteischulen, später auch wieder öffentlich, bis ihn eben April vorigen Jahres sein Schicksal ereilte.

Du willst nun wissen, was ich als seine Frau und Mutter unseres Kindes dazu sage? Ich kenne Paul viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er bei der Riunione {4} Adriatica nicht enden wird. 3 Wenn Du ihn noch etwas in Erinnerung hast, glaubst Du, daß dieser Junge, der er trotz seiner Reife u. Klugheit geblieben ist, grau werden wird als biederer, borderauxschreibender Beamter? Ich glaube es nicht und wünsche es nichteinmal. Denn, er kann nicht glücklich sein in einem solchen Beruf. Er wird im anderen Fall Martyrer seiner Idee. Das steht für mich ganz fest. Denn er hat jenen Glaubenseifer, der den meisten abgeht, die sich politisch betätigen, die aber vielleicht eben aus diesem Mangel heraus Sieger bleiben. Ihn einmal zurückhalten, wenn er wieder dahinstürmen wollte, hätte, selbst wenn ich den Versuch machte, wenig Sinn und wohl keinen Erfolg. — Wir haben uns lieb, wir heirateten aus keinerlei materiellen Interessen; unser einziges Bindemittel war die Liebe und die gemeinsame Überzeugung, die geistige Grundlage für unser Zusammenleben. Paul ist auch ein sehr zärtlicher Vater. Sosehr ich oft auch dagegen ankämpfe, sosehr ich es gerade in unserer Ehe verhindern wollte: Lisl und ich sind und bleiben doch das Erdenschwere, das Paul verhindert, zu tun, was er schließlich doch lieber heute als morgen täte, wenn wir nicht wären. Er empfindet es vielleicht so, wie ich.

Nun will ich vollständig in die „Niederungen“ des Daseins zurückkehren. Da wir beide arme Leute sind haben wir vor 4 Monaten, nachdem wir fast 4 Jahre verheiratet sind, durch Vermittlung von Bekannten unsere erste Wohnung bezogen.

{5}21./III. 1925

Erst heute komme ich dazu, den Brief zu beenden. Das Wenige, das ich über Deine Kinder weiß, wollte ich Dir ebenfalls berichten. Nun erhielten wir gestern eine Vermählungsanzeige Deines Sohnes Erich, die ich Dir beilege. 4 Ich nehme an, daß sie einen Wert für Dich hat. Erich soll nun in das Geschäft seines Vaters eingetreten sein, Felix war längere Zeit als Volontär in Berlin. Mehr über Deine Söhne weist auch Paul nicht, da zwischen den Dreien eigentlich keine Verbindung besteht.

Wenn es Dich interessieren sollte, was Deine übrigen Geschwister mit und ihren Kindern [sic] machen: Frieda hat bereits einen 2jährigen Enkel. Hede heiratete nach Hamburg (Bankhaus Delmonte.) Ihre Mutter ließ ihr eine Villa bauen. Emma, die ich in Reichenberg näher kennen lernte, als die anderen Schwägerinnen, hält sich so leidlich noch gesund, trotzdem sie die schwere Rückenverletzung hat. Ihr Sohn ist ebenfalls bei der Riunione Adriatica angestellt. Rosas Tochter soll ein auffallend hübsches, übergroßes Mädchen sein, das außerordentlich gut lernt und Trude Schiff hat sich ebenfalls bereits offiziell verlobt. Hella hat noch immer nur ein Töchterchen sowie Klara bei dem einen Jungen geblieben ist. Die beiden letztgenannten Kinder sind noch schulpflichtig, daher Bericht über Verlobung u oder Verheiratung unterbleiben. – Von Viktor hat keines der Geschwister Nachricht. — Hiemit wäre die Familienchronik beendet. Sie fiel mir etwas schwer, da ich nur Emma des öfteren gesehen und die übrigen Schwestern nur ein einzigesmal flüchtig kennen lernte. Deinen Bruder Louis, ebenso Deine Söhne kenne ich persönlich garnicht.

Und nun will ich auch meinen Brief beenden. Er ist länger geworden als Dir vielleicht lieb ist. Zur schließlichen Entschuldigung für meine Art des Briefschreibens mögest Du freundlich hinnehmen, daß ich von Paul wohl mehr u. besser berichtet habe als er es möglicherweise getan hätte.

Wenn Du die Zeilen einer Unbekannten nicht als Belästigung {6} empfinden hast, wird es sehr freuen.


Deine Dich und Deinen teuren Mann
herzlichst grüßende
[signed:] Anna

Praha-Libeň 1081 ů pivovaru

© Transcription William Drabkin, 2024


Prague, March 19, 1925


Dear Jenny, 1

You will probably be somewhat surprised to see that I am writing to you, and not your brother Paul. The reason for this is as follows:

Paul had intended to send you a quite thorough letter about the events that occurred during the time in which you heard nothing from him. To find the right frame of mind for this letter, he wanted to write it after he had begun his compulsory three-month holiday as dictated by law. This happened on the 10th of the month. But as he is permitted to write only once a month, he asked me to be sure to report to you, as the time gap before he returned would of course be too long.

Don’t be frightened: a further explanation now follows! Paul has, to be sure, a private occupation; but now and then he has made further excursions into the realm of politics, which he will never again seriously give up. Such an excursion – this was an assembly that took place in April last year – ended badly for him. He was accused of inciting the overthrow of the government, in accordance with the paragraphs of the law referring to the protection of the Republic, and sentenced to three months’ imprisonment, which he must now undergo. As offenses against the state-protection law are treated as common crimes, Paul cannot profit from any favorable treatment, as is usually the case with political offenses. In this respect Czechoslovakia is unique, since there is no other state whatsoever that has a special law that classifies political offenses as common crimes. {2} In 1923 Paul had already been incarcerated for three weeks, on account of a speech that he had given on the occasion of the mobilization. At that time, the infamous state-protection law did not yet exist. Paul was able to look after himself; he was given a very nice prison cell, where he could read and work for himself, etc. Ignorant of the effects of the new law, he believed that these conditions would also apply this time, too, and he would have liked to report to you in considerable detail about his activities. As you will also be wondering what will happen to us: his company behaved quite decently. A disciplinary commission was set up, which turned down a petition for Paul’s release. They agreed to give him the three months as paid leave.

Now for everything that occurred in the previous years! Paul registered in 1919 to study philosophy, and pursued chemistry at the same time. In that year he also joined the Social-Democratic Party and acted with such enthusiasm that leading functionaries took notice of him. When in 1920 the money for his further education was still available but would have sufficed only for a few months, his relatives offered to pay for his further studies, but only on condition that he give up philosophy and continue with chemistry. He undertook the latter only with reluctance; and when he was offered a contract to be the political and economic editor of Reichenberg’s Vorwärts!, Paul accepted. 2 He worked with such industry and dedication to the cause that he won a degree of popularity among the workers of the sort that {3} regrettably few leaders of the Communist Party possess. In the course of time, as the Communist Party was being formed amidst vigorous theoretical debates, the workers in many regions listened to Paul speak to overflowing halls for three to four hours, without one of them walking out. This is quite phenomenal, and it was confirmed with admiration even by politicians of long-term standing. For Paul never minced his words: he wanted to convince, and brought a wealth of material in front of his captivated audience, who did not seem to grow tired.

In January 1922 Paul put his public political activity, which for me had hitherto demonstrated his greatest maturity, to a violent end. He lost his position in politics, which is the only place where he belongs. For six months he ceased to write a single word. But then he wrote articles again and, in 1923, without the knowledge of his company, started giving lectures again: at first only in party schools, but later also in public, until just April of the preceding year when fate overtook him.

You will now ask me what I, as his wife and the mother of our child, have to say about this. I know Paul much too well to realize that things will not end at the Riunione {4} Adriatica. 3 If you still have any recollection of him, do you think that this youth, who has remained a youth in spite of his maturity and intelligence, will turn grey-haired as a stuffy official producing tiresome reports? I don’t think so, and I do not even wish it so, for he cannot be happy in such a profession. Alternatively, he will fall martyr to his cause – of that much I am sure. For he has that faith in his beliefs, which is lacking in most others who are politically active, but who perhaps from that very lack remain victorious. To hold him back when he wishes to press forward again would have little sense and surely no success, even if I were to try to do so. — We love each other, and we married without any material interests at all; the only thing holding us together was our love and common conviction, the spiritual basis for our living together. Paul is also a very tender father. As much as I often fight against it, as often as I have wished to hinder it in our marriage, Lisl and I are, and must remain, the gravitational force that prevents Paul from doing what he would ultimately prefer to do sooner than later if we were not there. Perhaps he senses this as much as I.

Now I would like to return completely to the “lowlands” of existence. As we are both poor people, we acquired our first apartment – through the intervention of acquaintances – only four months ago, having been married for nearly four years.

{5}March 21, 1925

Only now am I able to finish this letter. I also wanted to report to you the little I know about your children. Yesterday we received an announcement of the wedding of your son Erich, which I am enclosing for you; 4 I assume that it is of value to you. Erich is now about to enter into his father’s business; Felix was for a long time a volunteer in Berlin. Even Paul knows nothing more about your children, as there really is no communication among the three of them.

It may interest you to know what your other siblings with and their children are up to. Frieda already has a two-year-old grandson. Hedda married a man from Hamburg (in the Delmonte banking house); her mother had a villa built for them. Emma, whom I got to know in Reichenberg better than my other sisters-in-law, is still keeping tolerably well in spite of having suffered a serious back injury; her son is likewise employed at the Riunione Adriatica. Rosa’s daughter has evidently become a strikingly attractive, very tall young lady who is learning exceptionally well; and Trude Schiff has also just announced her engagement officially. Hella has still just the one little daughter; likewise Klara, with whom one boy has remained. The last two named children are still of school age, so any report of engagement and or marriage is omitted. None of the siblings have had any news from Viktor. With this I end the family chronicle. I found it somewhat difficult, as I have seen only Emma rather often and got to know your other sisters only hastily, on one occasion. I do not know your brother Louis or your sons personally at all.

And now I shall end my letter. It has become longer than you perhaps wanted it to be. For a final apology for my way of writing letters, you may kindly accept that I have reported about Paul more – and better – than he could possibly have done.

If you have received these lines from an unknown person without feeling vexed, {6} I shall be very pleased.


With the most cordial greetings to you
and your dear husband,
[signed:] Anna

Prague-Libeň 1081 at the brewery

© Translation William Drabkin, 2024


Prag, 19./III 1925


Liebe Jenny! 1

Es wird Dich wohl etwas befremden, daß ich Dir schreibe und nicht Paul, dein Bruder. Die Ursache ist folgende:

Paul hat sich vorgenommen, Dir einen recht ausführlichen Brief über jene Geschehnisse zu senden, die sich in der Zeit ereigneten, da Du nichts von ihm hörtest. Um rechte M[o]m[en]te zu diesem Brief zu finden, wollte er ihn schreiben, wenn er seinen, ihm von Gesetzes wegen diktierten, unfreiwilligen 3 Monateurlaub angetreten hatte. Dies geschah am 10. d. M.. Da er aber nur einmal monatlich schreiben darf, hat er mich, gewiß an Dich zu berichten. Denn die Pause, bis er wiederkäme, wäre doch zu lang.

Erschrick nur nicht, es folgt nun weitere Erklärung! Paul hat zwar eine Privatanstellung, hat aber doch ab und zu noch Ausflüge in die Politik gemacht, von der er ernstlich wohl nie wieder lassen wird. Ein solcher Ausflug – es war dies eine Versammlung im April vorigen Jahres – ist ihm schlecht bekommen. Er wurde wegen Aufreizung zum Sturz der Regierung nach den § des Gesetzes zum Schutze der Republik angeklagt und zu 3 Monaten Kerker verurteilt, die er nun absetzen muß. Da die Vergehen gegen das Schutzgesetz, wie gemeine Verbrechen gewertet werden, genießt Paul keinerlei Begünstigungen, wie sie bei politischen Vergehen üblich sind. In dieser Hinsicht ist die Tschechoslovakei ein Unikum, denn, es existiert überhaupt kein Staat, der durch ein besonderes Gesetz politische Vergehen wie gemeine Vergehen klassifiziert. Paul war im {2} Jahre 1923 auch schon 3 Wochen inhaftiert und zwar wegen einer Rede, die er anläßlich der Mobilisierung gehalten hatte. Damals bestand das famose Schutzgesetz noch nicht. Paul konnte sich selbst verpflegen, es wurde ihm eine sehr schöne Zelle zugeteilt, er konnte lesen und für sich arbeiten etc. . In Unkenntnis der Wirkungen des neuen Gesetzes, glaubte er, daß auch diesmal so vorgegangen wurden würde u. er hätte Dir recht ausführlich über sein Treiben berichten wollen. Da Du auch an unsere Existenzfrage denken wirst: Seine Anstalt hat sich sehr anständig benommen. Es wurde eine Disziplinarkomission eingesetzt, die einen Antrag auf Entlassung Pauls abgelehnt hat. Sie bewilligte ihm die 3 Monate als bezahlten Urlaub.

Nun zu all dem, was die Jahre vorher geschah! Paul inskribierte 1919 für Philosophie und trieb gleichzeitig Chemie. In diesem Jahr trat er auch in die sozialdemokr. Partei ein und betätigte sich bald sosehr, daß leitende Funktionäre auf ihn aufmerksam wurden. Als 1920 der Betrag, der für sein weiteres Studium noch vorhanden war, nur noch für Monate gereicht hätte, machten sich seine Verwandten erbötig, ihm das weitere Studium zu bezahlen. Jedoch: Philosophie aufgeben, Chemie fortsetzen. Letzteres hat er nur mit Unlust und als ihm Juni 1920 der Antrag gestellt wurde, als politischer u. volkswirtschaftl. Redakteur an den Reichenberger „Vorwärts“ zu gehen, 2 nahm Paul an. Er arbeitete mit solchem Fleiß und Hingebung an der Sache, erwarb sich unter den Arbeitern eine solche Beliebtheit, {3} wie sie leider nicht viele Führer der kommunist. Partei besitzen. In der Zeit, als hier unter heftigen theoretischen Auseinandersetzungen die komm. Partei gegründet wurde, hörten in vielen Gebieten in überfüllten Sälen die Arbeiter Paul 3–4 Stunden zu, ohne, daß einer weggelaufen wäre. Es ist dies ein Phänomen, und wurde selbst von langjährigen Politkern mit Verwunderung konstatiert. Denn: Paul hat nie Phrasen gedroschen, er wollte überzeugen und brachte eine Fülle von Material vor die interessierte Zuhörerschaft, die nicht zu ermüden schien.

Jänner 1922 setzte Paul seiner öffentlichen politischen Betätigung, die meiner Meinung nach damals seine höchste Reife aufwies, ein gewaltsames Ende. Er verliert wegen persönlicher Differenzen, die er damals nicht überwinden konnte, seine politische Stellung, die doch nur der einzige Platz ist, auf den er gehört. Ein halbes Jahr hielt er es aus, ohne nur eine einzige Zeile zu schreiben. Dann aber verfasste er wieder Artikel und 1923 hielt er bereits wieder – ohne Wissen seiner Anstalt – Vorträge, zuerst nur in Parteischulen, später auch wieder öffentlich, bis ihn eben April vorigen Jahres sein Schicksal ereilte.

Du willst nun wissen, was ich als seine Frau und Mutter unseres Kindes dazu sage? Ich kenne Paul viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er bei der Riunione {4} Adriatica nicht enden wird. 3 Wenn Du ihn noch etwas in Erinnerung hast, glaubst Du, daß dieser Junge, der er trotz seiner Reife u. Klugheit geblieben ist, grau werden wird als biederer, borderauxschreibender Beamter? Ich glaube es nicht und wünsche es nichteinmal. Denn, er kann nicht glücklich sein in einem solchen Beruf. Er wird im anderen Fall Martyrer seiner Idee. Das steht für mich ganz fest. Denn er hat jenen Glaubenseifer, der den meisten abgeht, die sich politisch betätigen, die aber vielleicht eben aus diesem Mangel heraus Sieger bleiben. Ihn einmal zurückhalten, wenn er wieder dahinstürmen wollte, hätte, selbst wenn ich den Versuch machte, wenig Sinn und wohl keinen Erfolg. — Wir haben uns lieb, wir heirateten aus keinerlei materiellen Interessen; unser einziges Bindemittel war die Liebe und die gemeinsame Überzeugung, die geistige Grundlage für unser Zusammenleben. Paul ist auch ein sehr zärtlicher Vater. Sosehr ich oft auch dagegen ankämpfe, sosehr ich es gerade in unserer Ehe verhindern wollte: Lisl und ich sind und bleiben doch das Erdenschwere, das Paul verhindert, zu tun, was er schließlich doch lieber heute als morgen täte, wenn wir nicht wären. Er empfindet es vielleicht so, wie ich.

Nun will ich vollständig in die „Niederungen“ des Daseins zurückkehren. Da wir beide arme Leute sind haben wir vor 4 Monaten, nachdem wir fast 4 Jahre verheiratet sind, durch Vermittlung von Bekannten unsere erste Wohnung bezogen.

{5}21./III. 1925

Erst heute komme ich dazu, den Brief zu beenden. Das Wenige, das ich über Deine Kinder weiß, wollte ich Dir ebenfalls berichten. Nun erhielten wir gestern eine Vermählungsanzeige Deines Sohnes Erich, die ich Dir beilege. 4 Ich nehme an, daß sie einen Wert für Dich hat. Erich soll nun in das Geschäft seines Vaters eingetreten sein, Felix war längere Zeit als Volontär in Berlin. Mehr über Deine Söhne weist auch Paul nicht, da zwischen den Dreien eigentlich keine Verbindung besteht.

Wenn es Dich interessieren sollte, was Deine übrigen Geschwister mit und ihren Kindern [sic] machen: Frieda hat bereits einen 2jährigen Enkel. Hede heiratete nach Hamburg (Bankhaus Delmonte.) Ihre Mutter ließ ihr eine Villa bauen. Emma, die ich in Reichenberg näher kennen lernte, als die anderen Schwägerinnen, hält sich so leidlich noch gesund, trotzdem sie die schwere Rückenverletzung hat. Ihr Sohn ist ebenfalls bei der Riunione Adriatica angestellt. Rosas Tochter soll ein auffallend hübsches, übergroßes Mädchen sein, das außerordentlich gut lernt und Trude Schiff hat sich ebenfalls bereits offiziell verlobt. Hella hat noch immer nur ein Töchterchen sowie Klara bei dem einen Jungen geblieben ist. Die beiden letztgenannten Kinder sind noch schulpflichtig, daher Bericht über Verlobung u oder Verheiratung unterbleiben. – Von Viktor hat keines der Geschwister Nachricht. — Hiemit wäre die Familienchronik beendet. Sie fiel mir etwas schwer, da ich nur Emma des öfteren gesehen und die übrigen Schwestern nur ein einzigesmal flüchtig kennen lernte. Deinen Bruder Louis, ebenso Deine Söhne kenne ich persönlich garnicht.

Und nun will ich auch meinen Brief beenden. Er ist länger geworden als Dir vielleicht lieb ist. Zur schließlichen Entschuldigung für meine Art des Briefschreibens mögest Du freundlich hinnehmen, daß ich von Paul wohl mehr u. besser berichtet habe als er es möglicherweise getan hätte.

Wenn Du die Zeilen einer Unbekannten nicht als Belästigung {6} empfinden hast, wird es sehr freuen.


Deine Dich und Deinen teuren Mann
herzlichst grüßende
[signed:] Anna

Praha-Libeň 1081 ů pivovaru

© Transcription William Drabkin, 2024


Prague, March 19, 1925


Dear Jenny, 1

You will probably be somewhat surprised to see that I am writing to you, and not your brother Paul. The reason for this is as follows:

Paul had intended to send you a quite thorough letter about the events that occurred during the time in which you heard nothing from him. To find the right frame of mind for this letter, he wanted to write it after he had begun his compulsory three-month holiday as dictated by law. This happened on the 10th of the month. But as he is permitted to write only once a month, he asked me to be sure to report to you, as the time gap before he returned would of course be too long.

Don’t be frightened: a further explanation now follows! Paul has, to be sure, a private occupation; but now and then he has made further excursions into the realm of politics, which he will never again seriously give up. Such an excursion – this was an assembly that took place in April last year – ended badly for him. He was accused of inciting the overthrow of the government, in accordance with the paragraphs of the law referring to the protection of the Republic, and sentenced to three months’ imprisonment, which he must now undergo. As offenses against the state-protection law are treated as common crimes, Paul cannot profit from any favorable treatment, as is usually the case with political offenses. In this respect Czechoslovakia is unique, since there is no other state whatsoever that has a special law that classifies political offenses as common crimes. {2} In 1923 Paul had already been incarcerated for three weeks, on account of a speech that he had given on the occasion of the mobilization. At that time, the infamous state-protection law did not yet exist. Paul was able to look after himself; he was given a very nice prison cell, where he could read and work for himself, etc. Ignorant of the effects of the new law, he believed that these conditions would also apply this time, too, and he would have liked to report to you in considerable detail about his activities. As you will also be wondering what will happen to us: his company behaved quite decently. A disciplinary commission was set up, which turned down a petition for Paul’s release. They agreed to give him the three months as paid leave.

Now for everything that occurred in the previous years! Paul registered in 1919 to study philosophy, and pursued chemistry at the same time. In that year he also joined the Social-Democratic Party and acted with such enthusiasm that leading functionaries took notice of him. When in 1920 the money for his further education was still available but would have sufficed only for a few months, his relatives offered to pay for his further studies, but only on condition that he give up philosophy and continue with chemistry. He undertook the latter only with reluctance; and when he was offered a contract to be the political and economic editor of Reichenberg’s Vorwärts!, Paul accepted. 2 He worked with such industry and dedication to the cause that he won a degree of popularity among the workers of the sort that {3} regrettably few leaders of the Communist Party possess. In the course of time, as the Communist Party was being formed amidst vigorous theoretical debates, the workers in many regions listened to Paul speak to overflowing halls for three to four hours, without one of them walking out. This is quite phenomenal, and it was confirmed with admiration even by politicians of long-term standing. For Paul never minced his words: he wanted to convince, and brought a wealth of material in front of his captivated audience, who did not seem to grow tired.

In January 1922 Paul put his public political activity, which for me had hitherto demonstrated his greatest maturity, to a violent end. He lost his position in politics, which is the only place where he belongs. For six months he ceased to write a single word. But then he wrote articles again and, in 1923, without the knowledge of his company, started giving lectures again: at first only in party schools, but later also in public, until just April of the preceding year when fate overtook him.

You will now ask me what I, as his wife and the mother of our child, have to say about this. I know Paul much too well to realize that things will not end at the Riunione {4} Adriatica. 3 If you still have any recollection of him, do you think that this youth, who has remained a youth in spite of his maturity and intelligence, will turn grey-haired as a stuffy official producing tiresome reports? I don’t think so, and I do not even wish it so, for he cannot be happy in such a profession. Alternatively, he will fall martyr to his cause – of that much I am sure. For he has that faith in his beliefs, which is lacking in most others who are politically active, but who perhaps from that very lack remain victorious. To hold him back when he wishes to press forward again would have little sense and surely no success, even if I were to try to do so. — We love each other, and we married without any material interests at all; the only thing holding us together was our love and common conviction, the spiritual basis for our living together. Paul is also a very tender father. As much as I often fight against it, as often as I have wished to hinder it in our marriage, Lisl and I are, and must remain, the gravitational force that prevents Paul from doing what he would ultimately prefer to do sooner than later if we were not there. Perhaps he senses this as much as I.

Now I would like to return completely to the “lowlands” of existence. As we are both poor people, we acquired our first apartment – through the intervention of acquaintances – only four months ago, having been married for nearly four years.

{5}March 21, 1925

Only now am I able to finish this letter. I also wanted to report to you the little I know about your children. Yesterday we received an announcement of the wedding of your son Erich, which I am enclosing for you; 4 I assume that it is of value to you. Erich is now about to enter into his father’s business; Felix was for a long time a volunteer in Berlin. Even Paul knows nothing more about your children, as there really is no communication among the three of them.

It may interest you to know what your other siblings with and their children are up to. Frieda already has a two-year-old grandson. Hedda married a man from Hamburg (in the Delmonte banking house); her mother had a villa built for them. Emma, whom I got to know in Reichenberg better than my other sisters-in-law, is still keeping tolerably well in spite of having suffered a serious back injury; her son is likewise employed at the Riunione Adriatica. Rosa’s daughter has evidently become a strikingly attractive, very tall young lady who is learning exceptionally well; and Trude Schiff has also just announced her engagement officially. Hella has still just the one little daughter; likewise Klara, with whom one boy has remained. The last two named children are still of school age, so any report of engagement and or marriage is omitted. None of the siblings have had any news from Viktor. With this I end the family chronicle. I found it somewhat difficult, as I have seen only Emma rather often and got to know your other sisters only hastily, on one occasion. I do not know your brother Louis or your sons personally at all.

And now I shall end my letter. It has become longer than you perhaps wanted it to be. For a final apology for my way of writing letters, you may kindly accept that I have reported about Paul more – and better – than he could possibly have done.

If you have received these lines from an unknown person without feeling vexed, {6} I shall be very pleased.


With the most cordial greetings to you
and your dear husband,
[signed:] Anna

Prague-Libeň 1081 at the brewery

© Translation William Drabkin, 2024

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker’s diary for March 24, 1925: “Von Pauls Frau ein langer Brief; Paul büßt soeben eine Kerkerstrafe ab wegen einer aufrührerischen Rede. Die arme Frau ist weit entfernt davon die Sachlage dem wahren Ernst nach zu erfassen, zu begreifen, daß Paul sich offenbar auf einer abschüssigen Bahn bewegt, da unausbleiblich eine [sic] Rachegefühl wider den Staat sich seiner bemächtigen muß, das ihn in weitere Konflikte bringt. Die Frau erklärt sich mit dem Kind als Pauls „Erdenschwere“, ihn aber als „Märtyrer“. Aus allem geht die Verworrenheit der bedauernswerten Frau hervor, als Folge verworrener Grundanschauungen” (“A long letter from Paul's wife; Paul is currently doing a jail term because of a riotous speech. His poor wife is far from comprehending the gravity of the situation, from understanding that Paul is apparently traveling a precipitous path, since a feeling of revenge against the state will inevitably overcome him, which will lead him to further conflict. His wife describes herself and their child as Paul's "earthly weight" but him as a "martyr." Everything underscores the pitiable woman's confusion, as the result of confused fundamental views”).

2 Reichenberg: now Liberec, the fifth largest city in the Czech Republic. — Vorwärts! was founded in 1876 as the organ of the Social Democratic Party of Germany, but its origins go back to 1840s Paris. It had associated publications in Paris, Austria and Czechoslovakia.

3 Riunione Adriatica: an insurance company based in Prague.

4 The announcement does not survive with this letter.

Commentary

Format
6p letter, holograph (Anna) salutation, message, valediction, and signature
Provenance
Schenker, Heinrich (document date-1935)--Schenker, Jeanette (1934-c.1942)--Ratz, Erwin (c.1942-c.1945)--Jonas, Oswald (c.1945-1978)--University of California, Riverside (1978--)
License
Attempts to identify the heirs of Paul and Anna Schiff have proved unsuccessful. This document is deemed to be in the public domain. Any claim to intellectual right on this document should be addressed to Schenker Documents Online, Faculty of Music, University of Cambridge, at schenkercorrespondence[at]mus(dot)cam(dot)ac(dot)uk.
Rights Holder
Heirs of Paul and Anna Schiff, deemed to be in the public domain

Digital version created: 2025-02-07
Last updated: 2010-03-11