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1. II. 1926.


Meine Lieben! 1

Mit diesem Briefe folgt eine Abschrift eines Schreibens, das Viktor an Klara geschickt hat u. gleichzeitig den Schlussabsatz eines Briefes von V. an mich. Die Abschrift hat sich etwas verzögert, was damit entschuldigt werden muss, daß eure Anna einen wilden [?Ranzen] zu beaufl beaufsichtigen hat. — Es hat uns sehr gefreut, zu hören, daß Ihr diesen Sommer nach Böhmen kommen wollt, und wir rechnen damit, so aus diesem Projekt etwas wird, Euch bei uns in Prag zu sehen. 2 — Was sehr selten vorzukommen pflegt, hat sich dennoch ereignet, meine protestantische Schwester Klara hat uns geschrieben und mich um Euere Adresse gebeten, was ich mir so er- {2} kläre, daß sie Viktor, der sich nach Lie Lies Adresse erkundigte, diese Adresse mitteilen will. Ich habe sie ihr bisher nicht geantwortet, seit ich Viktor selbst schrieb u. ihm L.L.-Adresse bekanntgegeben habe u. außerdem nicht weiss, ob Lie Lie damit einverstanden ist, daß ich Klara die Adresse bekanntgebe. Es ist ja nicht ausgeschlossen – was ich sehr gut begreifen könnte –, daß Lie Lie darauf gerne verzichtet, von Klara nach 18 Jahren neu entdeckt zu werden. Ich warte vorläufig, bis mir LieLie mitteilt, was ihr recht ist: daß ob ich oder ob ich nicht an Klara schreiben soll.

{3} Doch dies hat Zeit. Von uns selbst ist nur zu sagen, daß wir ein kleinbürgerliches Leben führen, in unser Kind mehr als diesem Frosch guttut, verliebt sind u. ganz u. gar. zu den Törichten gehören, die da glaubten, in ihrer Brut was Besonderes mit recht sehen zu dürfen, obgleich der kleine liebe Affe bei Lichte besehen, sich in nichts von den Kindern anderer heute unterscheidet. Doch so narrt uns mal die Natur, um der jungen Brut ein recht sicheres Nest & dem Nesthocker eine gewissenhafte Pflege zu sichern.

Schreibet einmal!


Recht herzliche Grüsse & Küsse
[signed:] Paul

[For Viktor’s letters to Klara and Paul, see OJ 14/9, [1], October 30, 1925, OJ 14/9, [2], December 19, 1925]



{4} Liebe Lie-Lie!

Ich möchte nur gegen die Behauptung Pauls protestieren, unser Kind unterscheide sich durch nichts von anderen Kindern. Vor allem ist Lisl viel schlimmer und wilder als andere Kinder und die Kehrseite dieser Medaille ist äußerste Sensibilität, also gerade das Gegenteil der erstgenannten Eigenschaften. Wenn ich für heute Pauls Zeilen weiter nichts hinzufüge, brauchst Du doch nicht zu glauben, ich sähe die Welt nur durch die Brille der Mutterliebe. Gerade diese Empfindung birgt vielmehr Egoismus in sich und ist vielen Kindern mehr Hemmnis als Förderung ihrer Entwicklung.


Dir und dem lieben Heinrich
herzlichste Grüße!
[signed:] Anna

© Transcription William Drabkin, 2024


February 2, 1926


My dear ones, 1

With this letter you are receiving a copy of a letter that Viktor wrote to Klara and, at the same time, the concluding paragraph of a letter from Viktor to me. That the copy was delayed somewhat must be excused on account of your Anna having to look after a wild [?fat-belly]. We were delighted to hear that you would like to come to Bohemia this summer, and we are counting on seeing you at our place in Prague as part of this plan. 2 — What happens very seldom, but has nonetheless occurred, is that my Protestant sister Klara has written to us and asked me for your address, something that I can {2} explain as a result of her wanting to give Lie-Lie’s address to Viktor, who had asked about it. I did not reply to her until now, since I wrote to Viktor myself and gave him Lie-Lie’s address, and since I do not know in addition whether Lie-Lie is happy about giving Klara her address. It is indeed not impossible – as I can well understand – that Lie-Lie would be likely to refuse to be newly discovered after a period of eighteen years. For the moment I shall wait until Lie-Lie tells me what she would prefer, and whether I should or should not write to Klara.

{3} But take your time. About ourselves, all that can be said is that we lead the life of petty bourgeois, are more enamored of our child than is good for this little frog, and belong entirely to those fools who believe that they may rightly see something special in their brood, even though their dear little ape, when seen in the light of day, is no different than the children of others today. But nature fools us in such a way as to give our young brood a safe nest and conscientious care to those who are vulnerable in that nest.

Write to us again!


Very cordial greetings and kisses
[signed:] Paul

[For Viktor’s letters to Klara and Paul, see OJ 14/9, [1], October 30, 1925, OJ 14/9, [2], December 19, 1925]



{4} Dear Lie-Lie!

I would like merely to dispute Paul’s claim that our child is no different from other children. Lisl is, above all, much wilder and more badly behaved than other children, and the reverse side of this coin is her extreme sensitivity, that is, the very opposite of the first-named qualities. If I add nothing further today to what Paul has written, you should not believe that I look at the world only through the lens of maternal love. This very feeling, on the contrary, harbors egoism, which for many children will result in more a curtailment than a promotion of their development.


Most cordial greetings to you
and your dear Heinrich!
[signed:] Anna

© Translation William Drabkin, 2024


1. II. 1926.


Meine Lieben! 1

Mit diesem Briefe folgt eine Abschrift eines Schreibens, das Viktor an Klara geschickt hat u. gleichzeitig den Schlussabsatz eines Briefes von V. an mich. Die Abschrift hat sich etwas verzögert, was damit entschuldigt werden muss, daß eure Anna einen wilden [?Ranzen] zu beaufl beaufsichtigen hat. — Es hat uns sehr gefreut, zu hören, daß Ihr diesen Sommer nach Böhmen kommen wollt, und wir rechnen damit, so aus diesem Projekt etwas wird, Euch bei uns in Prag zu sehen. 2 — Was sehr selten vorzukommen pflegt, hat sich dennoch ereignet, meine protestantische Schwester Klara hat uns geschrieben und mich um Euere Adresse gebeten, was ich mir so er- {2} kläre, daß sie Viktor, der sich nach Lie Lies Adresse erkundigte, diese Adresse mitteilen will. Ich habe sie ihr bisher nicht geantwortet, seit ich Viktor selbst schrieb u. ihm L.L.-Adresse bekanntgegeben habe u. außerdem nicht weiss, ob Lie Lie damit einverstanden ist, daß ich Klara die Adresse bekanntgebe. Es ist ja nicht ausgeschlossen – was ich sehr gut begreifen könnte –, daß Lie Lie darauf gerne verzichtet, von Klara nach 18 Jahren neu entdeckt zu werden. Ich warte vorläufig, bis mir LieLie mitteilt, was ihr recht ist: daß ob ich oder ob ich nicht an Klara schreiben soll.

{3} Doch dies hat Zeit. Von uns selbst ist nur zu sagen, daß wir ein kleinbürgerliches Leben führen, in unser Kind mehr als diesem Frosch guttut, verliebt sind u. ganz u. gar. zu den Törichten gehören, die da glaubten, in ihrer Brut was Besonderes mit recht sehen zu dürfen, obgleich der kleine liebe Affe bei Lichte besehen, sich in nichts von den Kindern anderer heute unterscheidet. Doch so narrt uns mal die Natur, um der jungen Brut ein recht sicheres Nest & dem Nesthocker eine gewissenhafte Pflege zu sichern.

Schreibet einmal!


Recht herzliche Grüsse & Küsse
[signed:] Paul

[For Viktor’s letters to Klara and Paul, see OJ 14/9, [1], October 30, 1925, OJ 14/9, [2], December 19, 1925]



{4} Liebe Lie-Lie!

Ich möchte nur gegen die Behauptung Pauls protestieren, unser Kind unterscheide sich durch nichts von anderen Kindern. Vor allem ist Lisl viel schlimmer und wilder als andere Kinder und die Kehrseite dieser Medaille ist äußerste Sensibilität, also gerade das Gegenteil der erstgenannten Eigenschaften. Wenn ich für heute Pauls Zeilen weiter nichts hinzufüge, brauchst Du doch nicht zu glauben, ich sähe die Welt nur durch die Brille der Mutterliebe. Gerade diese Empfindung birgt vielmehr Egoismus in sich und ist vielen Kindern mehr Hemmnis als Förderung ihrer Entwicklung.


Dir und dem lieben Heinrich
herzlichste Grüße!
[signed:] Anna

© Transcription William Drabkin, 2024


February 2, 1926


My dear ones, 1

With this letter you are receiving a copy of a letter that Viktor wrote to Klara and, at the same time, the concluding paragraph of a letter from Viktor to me. That the copy was delayed somewhat must be excused on account of your Anna having to look after a wild [?fat-belly]. We were delighted to hear that you would like to come to Bohemia this summer, and we are counting on seeing you at our place in Prague as part of this plan. 2 — What happens very seldom, but has nonetheless occurred, is that my Protestant sister Klara has written to us and asked me for your address, something that I can {2} explain as a result of her wanting to give Lie-Lie’s address to Viktor, who had asked about it. I did not reply to her until now, since I wrote to Viktor myself and gave him Lie-Lie’s address, and since I do not know in addition whether Lie-Lie is happy about giving Klara her address. It is indeed not impossible – as I can well understand – that Lie-Lie would be likely to refuse to be newly discovered after a period of eighteen years. For the moment I shall wait until Lie-Lie tells me what she would prefer, and whether I should or should not write to Klara.

{3} But take your time. About ourselves, all that can be said is that we lead the life of petty bourgeois, are more enamored of our child than is good for this little frog, and belong entirely to those fools who believe that they may rightly see something special in their brood, even though their dear little ape, when seen in the light of day, is no different than the children of others today. But nature fools us in such a way as to give our young brood a safe nest and conscientious care to those who are vulnerable in that nest.

Write to us again!


Very cordial greetings and kisses
[signed:] Paul

[For Viktor’s letters to Klara and Paul, see OJ 14/9, [1], October 30, 1925, OJ 14/9, [2], December 19, 1925]



{4} Dear Lie-Lie!

I would like merely to dispute Paul’s claim that our child is no different from other children. Lisl is, above all, much wilder and more badly behaved than other children, and the reverse side of this coin is her extreme sensitivity, that is, the very opposite of the first-named qualities. If I add nothing further today to what Paul has written, you should not believe that I look at the world only through the lens of maternal love. This very feeling, on the contrary, harbors egoism, which for many children will result in more a curtailment than a promotion of their development.


Most cordial greetings to you
and your dear Heinrich!
[signed:] Anna

© Translation William Drabkin, 2024

Footnotes

1 Receipt of this letter is recorded in Schenker’s diary for February 4, 1926: “Von Paul: Victors Brief, von Anna abgeschrieben, Paul schreibt auch selbst. […] Paul wirft Victor den Handel vor usw. In seiner Selbständigkeit, seinem Wagemut u. insbesondere seiner Herzenswärme scheint Victor seine Geschwister Paul u. Clara zu übertreffen” (“From Paul: Viktor's letter, copied by Anna, Paul himself writes, too. […] Paul criticizes Viktor for his business dealings, etc. In his independence, his daring and above all his warm-heartedness, Viktor appears to exceed his siblings Paul and Klara.”).

2 The visit to Bohemia and Paul and Anna by the Schenkers did not materialize.

Commentary

Format
4p letter, holograph (Paul) salutation, message, valediction, and signature (pp. 1-3); holograph (Anna) salutation, message, valediction, and signature (p. 4)
Provenance
Schenker, Heinrich (document date-1935)--Schenker, Jeanette (1934-c.1942)--Ratz, Erwin (c.1942-c.1945)--Jonas, Oswald (c.1945-1978)--University of California, Riverside (1978--)
License
Attempts to identify the heirs of Paul and Anna Schiff have proved unsuccessful. This document is deemed to be in the public domain. Any claim to intellectual right on this document should be addressed to Schenker Documents Online, Faculty of Music, University of Cambridge, at schenkercorrespondence[at]mus(dot)cam(dot)ac(dot)uk.
Rights Holder
Heirs of Paul and Anna Schiff, deemed to be in the public domain

Digital version created: 2025-02-11
Last updated: 2010-03-11