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OJ 6/7, [3] - Handwritten letter from Schenker to Moriz Violin, dated May 6, 1922
[Envelope]
{recto} [top torn away, including postmark] H. Prof. Moriz Violin Hamburg Woldsenweg 3 Deutschland {verso} Dr H Schenker Wien, III, Keilgasse 8 [Letter] Sonntag 6 Mai, 1922 Fl! 1 Wenn ich auf deinen wie immer so lieben Bf, 2 der so Interessantes als Beigabe brachte, so lange nicht geantwortet habe, waren es unüberredliche Hindernisse, um derentwillen du mir sicher, auch ohne sie gekannt zu haben, nicht herzlich Freispruch schenktest. Da war zunächst die Ausfertigung des großen Bandes. im besonderen die Abfassung eines längeren „Vorwortes“ (in letzter Minute mitten unter aufreibenden Dingen des Tages), die Ausfertigung des II[.] Heftes „T.W.“ Und dann ein Unerhörtes: das „Vermischte“ vom II. Heft war bereits gedruckt, etwa 1 Bogen stark, u. ich dürfte das Heft in meiner Hand schon am 4. d. M. erwarten, da plötzlich erhalte ich einen Bf von H., worin er den Inhalt gar als „Völkerverhetzung“, „Politik“ bezeichnet u. derdie Veröffentlichung ausweisen will, trotzdem die „U. E.“ als Verlag nicht zeichnet u. der Vertrag mir „freie Meinungsäußerung“ eigens verbürgt. 3 Im ersten Zorn entwarf ich einen Bf, der ihm das Recht auf Kritik abspricht u.s.w. Am Morgen des nächsten Tages aber hatte ich einen glänzenden Einfall, der jenen Bf in den Hintergrund drängte. Du dürftest wissen, daß mir seinerzeit H. aus „Op. 101“ einen langen Passus über Becker [sic] abgebettelt hat, ihn aber für den T.W. freigegeben mit den Worten: „da bin ich {2} froh, daß die Hinrichtung, wenn sie schon geschehen muß, zumindest nicht in meinem Hause („U. E.“) sondern im TW. geschieht.“ Ausdrücklich führte er Becker’s Dienste in Angelegenheiten Schrecker [sic] , Mahler u.s.w als Grund seiner Bettelei an. Aber dem ich die Galgenfrist geschenkt habe, war des Mitleids nicht würdig. Denn nach dem Schweigen 1913–1920 faßte sich Becker plötzlich vor Kurzem ein Herz u. versuchte sich 2 mal sein Mütchen zu kühlen in der Frk. Ztg (aus Anlaß von Kurth u. der „Mondschein-Son.“ 4 in einer Weise. die selbst H. bewog, mir zu schreiben: „Die hämische [?Anrampelei] B.’s ist zwar schändlich (unterstrichen von ihm), aber menschlich begreiflich, da er sich für manche Ohrfeige revanchieren will.“ Dieser Einfall war: das „völkerverhetzende“, „politische“ Vermischte ziehe ich zurück, um den Preis, daß an dessen Stelle blos — unter dem Titel: „Musikkritik“ — der abgebettelte Übersatz u. die Entgegnung an B. gedruckt werden. Der schlaue, in Wahrheit dummer H. hat nun die Qual der — Wahl: „Frankreich“ oder — „Becker“! Ich habe mir eine „Hetz“ gemacht u. will H. an die Wand drücken. Er ist so dumm, mir u. sich das „TW.“-Leben zu verderben, 5 er versteht nichts davon. Wie mir seinerzeit die „Polemik“ vorgehalten wurde, deren künstlerische Verdienste heute allgemein gewürdigt werden, so ist man im Begriffe, dem „TW.“ einen Prügel zwischen vor die Beine zur zu werfen , {3} u. ich weiß es ja doch besser, was zur Sache gehört! Morgen wird sich H. zu entscheiden haben. Ich habe damit gedroht, daß ich Heft II nicht mehr herauszugeben erlaube, u. überhaupt nicht weiter gehe. Von der Entscheidung hängt ab, wann du das Heft in die Hand kriegst. Du kannst dir denken, was das alles für Mühe bei anstrengenden Stunden u. der Zuckerkont[rolle], die noch (6 Wochen) fortgeht, verursacht. Schon nach 14 Tagen war der Harn „zuckerfrei“, aber die Zuckerspuren im Blut sollen noch entfernt werden. An Gewicht nehme ich, trotz strengster Diät, zu. Kostspielige Diät: 20 dg Butter, 25 dg Fleich, 4 Eier, 5 dg Emmenthaler, Gemüse, Fett u. Fett u. Fett — täglich, das geht ordentlich ins Geld. Die Kritiken habe ich Eduard bereits übergeben. Und da bin ich bei dem Eigentlichen: Weiße’s Brief hat mich u. Jeden, der ihn las, entsetzt! „Urlinie“-Beitrag auf Menschenseele übertragen: so war er, so ist er, so bleibt er. Er ist dumm zu glauben, daß er Anerkennung für seine Komp. ertrotzen wird dadurch, daß er sich der Feder enthält, als ob so was Em. Bach, Schumann, Wagner (heute Pfitzner, Strauß usw.) geschadet hätte. 6 Außerdem überschlägt er die Tragweite seines Kernes. Mit den Flitterwochen seiner Ehe sind auch sozusagen die Flitterwochen dieses Kernes fast ganz um. Statt daß er mitkämpft, sich den Boden zu errichten, {4} u. durch Ausgestaltung seines Gutes das Musikniveau zu bessern ‒ die eigentlich schöne Aufgabe des gute sn Mittelgutes unterhalb der Geniegipfel, gegen das ich ja gar nicht kämpfe, denn was anderes ist schlechte Musik, wie heute, oder Überhebung ‒ will er sich durch die von den Kräften meiner Arme allein bedienen lassen, als ob das hinreichte. Und noch entsetzlicher ist der Fall davon, daß er heuer, seitdem wir die Wohnung bezogen haben, sich fast eine Art Gratis-Privatunterricht zurechtgelegt hat, indem er regelmäßig Donnerstag oder Freitag Mittags ‒ zu Tisch! ‒ erscheint u. einpackt, was ihm nur in seinem Unterrichtsbetriebe nötig ist, Lieder, Analysen u.s.w. Und mehr als das: Jeden Dienstag läßt er auch den jungen Bamberger zu sich kommen, angeblich zum 4-händig Spiel, in Wahrheit aber aus dem Grunde, au sch aus diesem Rohr Milch von mir zu trinken. Nun, ich warte gelassen, bis die Natur ihr Urteil spricht: sie wird die Maße zurechtrücken u. strafen, was strafwürdig ist. Soll ich dir für die Treue, die du unserer Sache bewährst, eigens danken? Mir geht es schwer von den Lippen, u. vor dir, ich weiß es, kann ich es mir ersparen. Wie peinlich war mir z.B. kürzlich von Straube nach seinem Orgelkonzert hier zu hören: „Es ist mir eine sehr hohe Ehre“ (2 mal wiederholt), was soll ich den erwidern? Und trotzdem drängt es mich, dir wenigstens einmal, wenn {5} nicht ins Angesicht, so doch ins Papier zu sagen: Wenn u. Was ich auch spielen, dirigieren, kurz musizieren hörte, ‒ in der letzten Zeit sogar etwas mehr ‒, deine Ohren bleiben die allerfeinsten, deine Kunst die wahrste, sublimste, von Natur leicht erflossen! Welcher Jammer, daß für eine solche Edelvaluta ‒ den Vergleich will ich einmal noch im „TW.“ bringen ‒ keine Kenner sind. Wo sonst die Menschen im Leben auf Dollars, Pfund gehen u. unsere Kram links liegen lassen, halten als dieselben Menschen mit in der Kunst anders: hier fliegen sie der österr. Kram nach u. schmähen die Edelvaluta. Das Bild müssten auch die Valutajäger begreifen, aber sie können sich beim besten Willen nicht helfen, auch wenn sie zur Edelvaluta übersiedeln wollten, wegen Mangel an Gebrauch. Busoni’s Bf. 7 habe ich gelesen. Merkwürdig genug! Wie ich höre, soll ich im „Anbruch“ ein H. Dr Pisk erwidert, d.h. die Unzufriedenheit der Partei ausgedruckt haben. 8 Wo hat Halm geschrieben? Das interessierte mich. Unter Anführungszeichen das Wort oder bereits frei? Das D-dur Trio von dir, 9 das du spieltest, dürfte ich wohl kennen. Ist es nicht dasselbe, das ich bei Frau Hauser einmal {6} gehört habe? Aus den Kritiken ersehe ich, daß du in der kurzen Zeit sehr viel Ansehen erworben hast: sie merken doch eine Überlegenheit, der sie einen Namen zu geben, leider viel zu dumm sind. Was würde aber auch dazugehören, deine Überlegenheit auszudrucken: ich kann sie mit Notenköpfen belegen, aber die andere . . ?, wie sollten sie es anfangen? Der Sommer steht vor der Tür. Noch näher die Ordination 10 am Dienstag Abend: Eduard ist so lieb, immer dabei zu sein. Wenn die Aufregungen der Woche (s. ob) nicht einen Rückfall gebracht haben, vielleicht entschließen sich die beiden Gestrengen endlich zur ersten Übergangsform, aus der strengsten Diät heraus. Es wäre Zeit. Denn wir wollen wieder nach Galltür um, nach harten 2 Jahren, wirklich einmal nichts zu tun, als in Büchern zu bummeln, aber Galtür hat keine gute Küche, u. die Ärzte sind sehr wühlerisch. Na, bis dahin sind noch paar Wochen . . Wir wollen sehen. Beiliegend die beiden Dokumente. 11 Ich bin der Meinung, auf Hans zu verzichten. Was er mir vorlas, war allerdings ausgezeichnet, u. dennoch ists besser, den Plan fallen zu lassen. Ihn bangt vor Schaden, den ich ihm verursachen könnte, — u. seine Hilfe ist mir entbehrlich. Es geht, es geht, sei überzeugt. Dir u. den deinigen von mir u. Lieliechen (die an dem Becker-Aufsatz schreibt!) herzlichste Grüße [signed:] Dein Heinrich [left margin, written sideways:] Das ist der erste Bf, den ich schreibe, nachdem ich die letzten Arbeiten beendet habe. 12 © Transcription William Drabkin, 2011 |
[Envelope]
{recto} [top torn away, including postmark] Prof. Moriz Violin, Hamburg, Woldsenweg 3, Germany {verso} Dr. H. Schenker, Vienna III, Keilgasse 8 [Letter] Sunday May 6, 1922 Floriz, 1 If I have not answered your last letter 2 – as lovely as ever, and providing so much of interest – for such a long time, that is because there were insurmountable difficulties, for which you would certainly grant me an acquittal with your heart, even without knowing what they were. First of all, I had to complete the big volume, in particular the formulation of a rather long Foreword (at the last minute, amidst the matters of the day that were pushing to the fore), and the completion of the second issue of Der Tonwille . And then something unimaginable occurred: the "Miscellanea" of Tonwille 2 were already printed, about one gathering's worth, and I could expect to receive the issue as early as the 4th of the month, when I suddenly received a letter from Hertzka, in which he describes its contents as nothing but "inciting the people" and "politics" and indicates that he will cancel its publication, despite the fact that UE is not indicated as the publisher and that my contract expressly confers upon me "the right to express my opinions freely." 3 In my initial fit of anger, I drafted a letter that denies him the right to criticize me, etc. The following morning, however, I had a brilliant idea, which pushed that letter into the background. You probably know that Hertzka had earlier persuaded me to remove a lengthy passage about Bekker from Op. 101 but allowed me to use it in Der Tonwille , saying: "I shall be {2} happy that the execution, if it must happen, will at least not happen in my house (i.e. UE) but in Der Tonwille . He expressly referred to Bekker's services on behalf of Schreker, Mahler, and others as the reason for his earlier action. But the one who had been granted a stay of execution was not worthy of sympathy. For after a silence lasting from 1913 to 1920, Bekker recently plucked up the courage all of a sudden, and sought twice to cool his temper in the Frankfurter Zeitung (on the occasion of the publication of book by Kurth and the "Moonlight" Sonata), 4 in such a way that even Hertzka himself was moved to write to me: "Bekker's malicious attack is indeed disgraceful (the underlining is his), though humanly understandable, as he wants to take revenge for having his ear boxed so often." My idea was as follows: that I would withdraw the "people-inciting" and "political" "Miscellanea," in return merely for the rescinded piece – under the title "Music Criticism" – with the reply to Bekker being published in their place. The clever, in reality stupid, Hertzka is now caught in a dilemma: either "France" or – "Bekker"! I have played my little trick, and I am going to pin Hertzka to the wall: it is so stupid of him to spoil, for me and for himself, the life of Der Tonwille ; 5 he understands nothing of it. As I had previously been reproached for the "polemics," whose services to art are today generally recognized, so Der Tonwille is at the point of having a cudgel thrown between before its legs; {3} and indeed I myself know better what belongs to the cause! Hertzka will have to make up his mind tomorrow. I have threatened to withdraw publication of the second issue, and to go no further with anything at all. You can well imagine what all this has cost me in terms of stressful lessons and the control of my sugar-level, which must be watched for a further six weeks. 6 After only two weeks my urine was "sugar-free," but traces of sugar in the blood must still be removed. I am gaining weight, in spite of the strictest of diets. An expensive diet: 200 grams of butter, 250 grams of meat, four eggs, 50 grams of Emmenthal cheese, fat, fat, and more fat – every day. That translates into a lot of money. I have given Eduard the newspaper reviews. And this brings me to the matter at hand: Weisse's letter shocked me, and everyone who read it. A contribution to the "Urlinie" transferred to the human soul: that is the way he was, that is the way he is, that is the way he always will be. He is stupid to think that he will gain recognition for his compositions by sheer defiance, precisely as a consequence of not taking up the pen, as if that sort of thing would have harmed the reputation of C. P. E. Bach, or Schumann, or Wagner (or, today, Pfitzner or Strauss, etc.).[6] Moreover he has exaggerated the reach of his intrinsic worth. As with the honeymoon of his marriage, so the honeymoon of this material, so to speak, is nearly over. Instead of helping to establish a foundation, {4} and developing his good qualities so as to raise the general music level – which would actually be a nice piece of work for someone of moderately good ability, [though] lying below the summit of genius; this is something I would not at all oppose, for how else can we describe bad music, such as we have today, or arrogance? – he wants to be served only by the powers of my arms, as if that were sufficient. And even more shocking is the fact that this year, since we moved into the new apartment, he has arranged almost a kind of free private tuition, in that he regularly appears on a Thursday or Friday around midday – at mealtime! – and takes with him anything that is necessary for his teaching activities: songs, analyses, etc. And, what is more, every Tuesday he has the young Bamberger come to his apartment, ostensibly to play four-hand piano music but in fact to siphon off my milk through the latter's pipe. Now, I shall wait calmly until Nature gives her verdict: she will put measures in their proper place, and punish that which deserves punishment. Can I ever thank you for the faith that you have shown in our cause? It is difficult for me to express this; in person, I know, it is not necessary. How painful it was for me for instance to hear from Straube, after his organ concert: "This is a great honor for me" (said twice): what should I reply to that? And yet I am compelled to say at least once, if {5} not face to face, at least on paper: Whenever and whatever I have heard played, conducted, in short performed by musicians – to an even greater extent in most recent times – your ears remain the most refined, your art is the truest and most sublime, flowing so easily from Nature! What a pity that for such a noble currency – the analogy is something I shall want to develop in Der Tonwille – there are no connoisseurs! Where otherwise people go about their lives in search of dollars and pounds, and leave our worthless currency to one side, the same people behave differently in art: here they are in pursuit of the worthless Austrian [contemporary] junk and scorn the noble currency. Even the currency hawkers ought to understand this picture but, with the best will in the world, they cannot help themselves even if they wanted to emigrate to [the land of] the noble currency, because they do not use it enough. I have read Busoni's letter. 7 Interesting enough! I hear that a Dr Pisk has replied to him in the Anbruch , i.e. expressed the dissatisfaction of the party. 8 Where did Halm write? That would interest me. Was the word in quotation marks, or actually his own? The D-major Trio that you played 9 is something I ought to know; is it not the same piece that I once heard at Mrs. Hauser's? {6} From the newspaper reviews I see that you have gained a lot of recognition in a short space of time; they notice your superiority, but are unfortunately much too stupid to give it a name. But what words could even be used to express that superiority? I can vouch for it by means of noteheads, but the others…? How could they begin to explain it? The summer is almost upon us. The visit to the doctor 10 is still closer, on Tuesday evening. Eduard is so kind, always to be there for me. If the tribulations of the week have not resulted in a setback, perhaps their lordships will finally decide on the first transitional form, off the strictest diet. It is high time. For we do not want to go to Galtür again, after a difficult two years, merely to do nothing but thumb through books. But Galtür does not have a good cuisine and the doctors there are very prying. Well, there are still two weeks to go before then: we shall see. I am enclosing the two documents. 11 I am of the opinion that you should do without Hans. What he read out to me was, at any rate, very good, and yet it is better to drop the plan. He is afraid of the damage that I could cause him; and his help is, to me, dispensable. It will be all right, quite all right, rest assured. To you and yours, from me and LieLiechen (who at this moment is writing up the Bekker essay!) most cordial greetings, [signed:] Your Heinrich [left margin, written sideways:] This is the first letter that I have written since I finished the last works. 12 © Translation William Drabkin, 2011 |
[Envelope]
{recto} [top torn away, including postmark] H. Prof. Moriz Violin Hamburg Woldsenweg 3 Deutschland {verso} Dr H Schenker Wien, III, Keilgasse 8 [Letter] Sonntag 6 Mai, 1922 Fl! 1 Wenn ich auf deinen wie immer so lieben Bf, 2 der so Interessantes als Beigabe brachte, so lange nicht geantwortet habe, waren es unüberredliche Hindernisse, um derentwillen du mir sicher, auch ohne sie gekannt zu haben, nicht herzlich Freispruch schenktest. Da war zunächst die Ausfertigung des großen Bandes. im besonderen die Abfassung eines längeren „Vorwortes“ (in letzter Minute mitten unter aufreibenden Dingen des Tages), die Ausfertigung des II[.] Heftes „T.W.“ Und dann ein Unerhörtes: das „Vermischte“ vom II. Heft war bereits gedruckt, etwa 1 Bogen stark, u. ich dürfte das Heft in meiner Hand schon am 4. d. M. erwarten, da plötzlich erhalte ich einen Bf von H., worin er den Inhalt gar als „Völkerverhetzung“, „Politik“ bezeichnet u. derdie Veröffentlichung ausweisen will, trotzdem die „U. E.“ als Verlag nicht zeichnet u. der Vertrag mir „freie Meinungsäußerung“ eigens verbürgt. 3 Im ersten Zorn entwarf ich einen Bf, der ihm das Recht auf Kritik abspricht u.s.w. Am Morgen des nächsten Tages aber hatte ich einen glänzenden Einfall, der jenen Bf in den Hintergrund drängte. Du dürftest wissen, daß mir seinerzeit H. aus „Op. 101“ einen langen Passus über Becker [sic] abgebettelt hat, ihn aber für den T.W. freigegeben mit den Worten: „da bin ich {2} froh, daß die Hinrichtung, wenn sie schon geschehen muß, zumindest nicht in meinem Hause („U. E.“) sondern im TW. geschieht.“ Ausdrücklich führte er Becker’s Dienste in Angelegenheiten Schrecker [sic] , Mahler u.s.w als Grund seiner Bettelei an. Aber dem ich die Galgenfrist geschenkt habe, war des Mitleids nicht würdig. Denn nach dem Schweigen 1913–1920 faßte sich Becker plötzlich vor Kurzem ein Herz u. versuchte sich 2 mal sein Mütchen zu kühlen in der Frk. Ztg (aus Anlaß von Kurth u. der „Mondschein-Son.“ 4 in einer Weise. die selbst H. bewog, mir zu schreiben: „Die hämische [?Anrampelei] B.’s ist zwar schändlich (unterstrichen von ihm), aber menschlich begreiflich, da er sich für manche Ohrfeige revanchieren will.“ Dieser Einfall war: das „völkerverhetzende“, „politische“ Vermischte ziehe ich zurück, um den Preis, daß an dessen Stelle blos — unter dem Titel: „Musikkritik“ — der abgebettelte Übersatz u. die Entgegnung an B. gedruckt werden. Der schlaue, in Wahrheit dummer H. hat nun die Qual der — Wahl: „Frankreich“ oder — „Becker“! Ich habe mir eine „Hetz“ gemacht u. will H. an die Wand drücken. Er ist so dumm, mir u. sich das „TW.“-Leben zu verderben, 5 er versteht nichts davon. Wie mir seinerzeit die „Polemik“ vorgehalten wurde, deren künstlerische Verdienste heute allgemein gewürdigt werden, so ist man im Begriffe, dem „TW.“ einen Prügel zwischen vor die Beine zur zu werfen , {3} u. ich weiß es ja doch besser, was zur Sache gehört! Morgen wird sich H. zu entscheiden haben. Ich habe damit gedroht, daß ich Heft II nicht mehr herauszugeben erlaube, u. überhaupt nicht weiter gehe. Von der Entscheidung hängt ab, wann du das Heft in die Hand kriegst. Du kannst dir denken, was das alles für Mühe bei anstrengenden Stunden u. der Zuckerkont[rolle], die noch (6 Wochen) fortgeht, verursacht. Schon nach 14 Tagen war der Harn „zuckerfrei“, aber die Zuckerspuren im Blut sollen noch entfernt werden. An Gewicht nehme ich, trotz strengster Diät, zu. Kostspielige Diät: 20 dg Butter, 25 dg Fleich, 4 Eier, 5 dg Emmenthaler, Gemüse, Fett u. Fett u. Fett — täglich, das geht ordentlich ins Geld. Die Kritiken habe ich Eduard bereits übergeben. Und da bin ich bei dem Eigentlichen: Weiße’s Brief hat mich u. Jeden, der ihn las, entsetzt! „Urlinie“-Beitrag auf Menschenseele übertragen: so war er, so ist er, so bleibt er. Er ist dumm zu glauben, daß er Anerkennung für seine Komp. ertrotzen wird dadurch, daß er sich der Feder enthält, als ob so was Em. Bach, Schumann, Wagner (heute Pfitzner, Strauß usw.) geschadet hätte. 6 Außerdem überschlägt er die Tragweite seines Kernes. Mit den Flitterwochen seiner Ehe sind auch sozusagen die Flitterwochen dieses Kernes fast ganz um. Statt daß er mitkämpft, sich den Boden zu errichten, {4} u. durch Ausgestaltung seines Gutes das Musikniveau zu bessern ‒ die eigentlich schöne Aufgabe des gute sn Mittelgutes unterhalb der Geniegipfel, gegen das ich ja gar nicht kämpfe, denn was anderes ist schlechte Musik, wie heute, oder Überhebung ‒ will er sich durch die von den Kräften meiner Arme allein bedienen lassen, als ob das hinreichte. Und noch entsetzlicher ist der Fall davon, daß er heuer, seitdem wir die Wohnung bezogen haben, sich fast eine Art Gratis-Privatunterricht zurechtgelegt hat, indem er regelmäßig Donnerstag oder Freitag Mittags ‒ zu Tisch! ‒ erscheint u. einpackt, was ihm nur in seinem Unterrichtsbetriebe nötig ist, Lieder, Analysen u.s.w. Und mehr als das: Jeden Dienstag läßt er auch den jungen Bamberger zu sich kommen, angeblich zum 4-händig Spiel, in Wahrheit aber aus dem Grunde, au sch aus diesem Rohr Milch von mir zu trinken. Nun, ich warte gelassen, bis die Natur ihr Urteil spricht: sie wird die Maße zurechtrücken u. strafen, was strafwürdig ist. Soll ich dir für die Treue, die du unserer Sache bewährst, eigens danken? Mir geht es schwer von den Lippen, u. vor dir, ich weiß es, kann ich es mir ersparen. Wie peinlich war mir z.B. kürzlich von Straube nach seinem Orgelkonzert hier zu hören: „Es ist mir eine sehr hohe Ehre“ (2 mal wiederholt), was soll ich den erwidern? Und trotzdem drängt es mich, dir wenigstens einmal, wenn {5} nicht ins Angesicht, so doch ins Papier zu sagen: Wenn u. Was ich auch spielen, dirigieren, kurz musizieren hörte, ‒ in der letzten Zeit sogar etwas mehr ‒, deine Ohren bleiben die allerfeinsten, deine Kunst die wahrste, sublimste, von Natur leicht erflossen! Welcher Jammer, daß für eine solche Edelvaluta ‒ den Vergleich will ich einmal noch im „TW.“ bringen ‒ keine Kenner sind. Wo sonst die Menschen im Leben auf Dollars, Pfund gehen u. unsere Kram links liegen lassen, halten als dieselben Menschen mit in der Kunst anders: hier fliegen sie der österr. Kram nach u. schmähen die Edelvaluta. Das Bild müssten auch die Valutajäger begreifen, aber sie können sich beim besten Willen nicht helfen, auch wenn sie zur Edelvaluta übersiedeln wollten, wegen Mangel an Gebrauch. Busoni’s Bf. 7 habe ich gelesen. Merkwürdig genug! Wie ich höre, soll ich im „Anbruch“ ein H. Dr Pisk erwidert, d.h. die Unzufriedenheit der Partei ausgedruckt haben. 8 Wo hat Halm geschrieben? Das interessierte mich. Unter Anführungszeichen das Wort oder bereits frei? Das D-dur Trio von dir, 9 das du spieltest, dürfte ich wohl kennen. Ist es nicht dasselbe, das ich bei Frau Hauser einmal {6} gehört habe? Aus den Kritiken ersehe ich, daß du in der kurzen Zeit sehr viel Ansehen erworben hast: sie merken doch eine Überlegenheit, der sie einen Namen zu geben, leider viel zu dumm sind. Was würde aber auch dazugehören, deine Überlegenheit auszudrucken: ich kann sie mit Notenköpfen belegen, aber die andere . . ?, wie sollten sie es anfangen? Der Sommer steht vor der Tür. Noch näher die Ordination 10 am Dienstag Abend: Eduard ist so lieb, immer dabei zu sein. Wenn die Aufregungen der Woche (s. ob) nicht einen Rückfall gebracht haben, vielleicht entschließen sich die beiden Gestrengen endlich zur ersten Übergangsform, aus der strengsten Diät heraus. Es wäre Zeit. Denn wir wollen wieder nach Galltür um, nach harten 2 Jahren, wirklich einmal nichts zu tun, als in Büchern zu bummeln, aber Galtür hat keine gute Küche, u. die Ärzte sind sehr wühlerisch. Na, bis dahin sind noch paar Wochen . . Wir wollen sehen. Beiliegend die beiden Dokumente. 11 Ich bin der Meinung, auf Hans zu verzichten. Was er mir vorlas, war allerdings ausgezeichnet, u. dennoch ists besser, den Plan fallen zu lassen. Ihn bangt vor Schaden, den ich ihm verursachen könnte, — u. seine Hilfe ist mir entbehrlich. Es geht, es geht, sei überzeugt. Dir u. den deinigen von mir u. Lieliechen (die an dem Becker-Aufsatz schreibt!) herzlichste Grüße [signed:] Dein Heinrich [left margin, written sideways:] Das ist der erste Bf, den ich schreibe, nachdem ich die letzten Arbeiten beendet habe. 12 © Transcription William Drabkin, 2011 |
[Envelope]
{recto} [top torn away, including postmark] Prof. Moriz Violin, Hamburg, Woldsenweg 3, Germany {verso} Dr. H. Schenker, Vienna III, Keilgasse 8 [Letter] Sunday May 6, 1922 Floriz, 1 If I have not answered your last letter 2 – as lovely as ever, and providing so much of interest – for such a long time, that is because there were insurmountable difficulties, for which you would certainly grant me an acquittal with your heart, even without knowing what they were. First of all, I had to complete the big volume, in particular the formulation of a rather long Foreword (at the last minute, amidst the matters of the day that were pushing to the fore), and the completion of the second issue of Der Tonwille . And then something unimaginable occurred: the "Miscellanea" of Tonwille 2 were already printed, about one gathering's worth, and I could expect to receive the issue as early as the 4th of the month, when I suddenly received a letter from Hertzka, in which he describes its contents as nothing but "inciting the people" and "politics" and indicates that he will cancel its publication, despite the fact that UE is not indicated as the publisher and that my contract expressly confers upon me "the right to express my opinions freely." 3 In my initial fit of anger, I drafted a letter that denies him the right to criticize me, etc. The following morning, however, I had a brilliant idea, which pushed that letter into the background. You probably know that Hertzka had earlier persuaded me to remove a lengthy passage about Bekker from Op. 101 but allowed me to use it in Der Tonwille , saying: "I shall be {2} happy that the execution, if it must happen, will at least not happen in my house (i.e. UE) but in Der Tonwille . He expressly referred to Bekker's services on behalf of Schreker, Mahler, and others as the reason for his earlier action. But the one who had been granted a stay of execution was not worthy of sympathy. For after a silence lasting from 1913 to 1920, Bekker recently plucked up the courage all of a sudden, and sought twice to cool his temper in the Frankfurter Zeitung (on the occasion of the publication of book by Kurth and the "Moonlight" Sonata), 4 in such a way that even Hertzka himself was moved to write to me: "Bekker's malicious attack is indeed disgraceful (the underlining is his), though humanly understandable, as he wants to take revenge for having his ear boxed so often." My idea was as follows: that I would withdraw the "people-inciting" and "political" "Miscellanea," in return merely for the rescinded piece – under the title "Music Criticism" – with the reply to Bekker being published in their place. The clever, in reality stupid, Hertzka is now caught in a dilemma: either "France" or – "Bekker"! I have played my little trick, and I am going to pin Hertzka to the wall: it is so stupid of him to spoil, for me and for himself, the life of Der Tonwille ; 5 he understands nothing of it. As I had previously been reproached for the "polemics," whose services to art are today generally recognized, so Der Tonwille is at the point of having a cudgel thrown between before its legs; {3} and indeed I myself know better what belongs to the cause! Hertzka will have to make up his mind tomorrow. I have threatened to withdraw publication of the second issue, and to go no further with anything at all. You can well imagine what all this has cost me in terms of stressful lessons and the control of my sugar-level, which must be watched for a further six weeks. 6 After only two weeks my urine was "sugar-free," but traces of sugar in the blood must still be removed. I am gaining weight, in spite of the strictest of diets. An expensive diet: 200 grams of butter, 250 grams of meat, four eggs, 50 grams of Emmenthal cheese, fat, fat, and more fat – every day. That translates into a lot of money. I have given Eduard the newspaper reviews. And this brings me to the matter at hand: Weisse's letter shocked me, and everyone who read it. A contribution to the "Urlinie" transferred to the human soul: that is the way he was, that is the way he is, that is the way he always will be. He is stupid to think that he will gain recognition for his compositions by sheer defiance, precisely as a consequence of not taking up the pen, as if that sort of thing would have harmed the reputation of C. P. E. Bach, or Schumann, or Wagner (or, today, Pfitzner or Strauss, etc.).[6] Moreover he has exaggerated the reach of his intrinsic worth. As with the honeymoon of his marriage, so the honeymoon of this material, so to speak, is nearly over. Instead of helping to establish a foundation, {4} and developing his good qualities so as to raise the general music level – which would actually be a nice piece of work for someone of moderately good ability, [though] lying below the summit of genius; this is something I would not at all oppose, for how else can we describe bad music, such as we have today, or arrogance? – he wants to be served only by the powers of my arms, as if that were sufficient. And even more shocking is the fact that this year, since we moved into the new apartment, he has arranged almost a kind of free private tuition, in that he regularly appears on a Thursday or Friday around midday – at mealtime! – and takes with him anything that is necessary for his teaching activities: songs, analyses, etc. And, what is more, every Tuesday he has the young Bamberger come to his apartment, ostensibly to play four-hand piano music but in fact to siphon off my milk through the latter's pipe. Now, I shall wait calmly until Nature gives her verdict: she will put measures in their proper place, and punish that which deserves punishment. Can I ever thank you for the faith that you have shown in our cause? It is difficult for me to express this; in person, I know, it is not necessary. How painful it was for me for instance to hear from Straube, after his organ concert: "This is a great honor for me" (said twice): what should I reply to that? And yet I am compelled to say at least once, if {5} not face to face, at least on paper: Whenever and whatever I have heard played, conducted, in short performed by musicians – to an even greater extent in most recent times – your ears remain the most refined, your art is the truest and most sublime, flowing so easily from Nature! What a pity that for such a noble currency – the analogy is something I shall want to develop in Der Tonwille – there are no connoisseurs! Where otherwise people go about their lives in search of dollars and pounds, and leave our worthless currency to one side, the same people behave differently in art: here they are in pursuit of the worthless Austrian [contemporary] junk and scorn the noble currency. Even the currency hawkers ought to understand this picture but, with the best will in the world, they cannot help themselves even if they wanted to emigrate to [the land of] the noble currency, because they do not use it enough. I have read Busoni's letter. 7 Interesting enough! I hear that a Dr Pisk has replied to him in the Anbruch , i.e. expressed the dissatisfaction of the party. 8 Where did Halm write? That would interest me. Was the word in quotation marks, or actually his own? The D-major Trio that you played 9 is something I ought to know; is it not the same piece that I once heard at Mrs. Hauser's? {6} From the newspaper reviews I see that you have gained a lot of recognition in a short space of time; they notice your superiority, but are unfortunately much too stupid to give it a name. But what words could even be used to express that superiority? I can vouch for it by means of noteheads, but the others…? How could they begin to explain it? The summer is almost upon us. The visit to the doctor 10 is still closer, on Tuesday evening. Eduard is so kind, always to be there for me. If the tribulations of the week have not resulted in a setback, perhaps their lordships will finally decide on the first transitional form, off the strictest diet. It is high time. For we do not want to go to Galtür again, after a difficult two years, merely to do nothing but thumb through books. But Galtür does not have a good cuisine and the doctors there are very prying. Well, there are still two weeks to go before then: we shall see. I am enclosing the two documents. 11 I am of the opinion that you should do without Hans. What he read out to me was, at any rate, very good, and yet it is better to drop the plan. He is afraid of the damage that I could cause him; and his help is, to me, dispensable. It will be all right, quite all right, rest assured. To you and yours, from me and LieLiechen (who at this moment is writing up the Bekker essay!) most cordial greetings, [signed:] Your Heinrich [left margin, written sideways:] This is the first letter that I have written since I finished the last works. 12 © Translation William Drabkin, 2011 |
Footnotes1 Writing of this letter is recorded in Schenker's diary at OJ 3/3, p. 2430, May 7, 1922: "An Floriz Bericht, Kritik über Weisse." ("To Floriz report, criticism of Weisse."). 2 Schenker's diary entry for April 18, 1922 (OJ 3/3, p. 2426) reads: "Von Floriz (Br.): schändliches Schreiben von Weisse beigelegt: er empfinde keine Befriedigung u. Brief von Hertzka, der 50 Hefte als Beitrag einzusenden bereit ist." ("From Floriz (letter): disgraceful note from Weisse inclosed: he does not sense contentment, and letter from Hertzka, who is prepared to send 50 issues as a contribution."). 3 The Tonwille pamphlets, though published by UE, appeared under the imprimatur of "Tonwille-Flugblätterverlag." This was the publisher's condition for giving Schenker a free hand in determining their contents. 4 Paul Bekker's review of Ernst Kurth's Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners Tristan appeared in the Frankfurter Zeitung on March 25, 1922; his review of Schenker's facsimile edition of the "Moonlight" Sonata appeared exactly a month later. Both are preserved in Schenker's scrapbook at OC 2/p.60. 5 "mir und sich das "TW"-Leben zu verderben": i.e. to ruin the chances of Der Tonwille creating a sensation, which would be beneficial to both its publisher and its author, by suppressing anything that was controversial. 6 Schenker lists composers for whom writing about music had been an important part of their professional life, i.e. C. P. E. Bach's Essay on the True Art of Playing Keyboard Instruments; Schumann's activities as editor and critic; and Wagner's voluminous writings on music, drama and other subjects. 7 Ferruccio Busoni's "Offener Musikbrief" [Open Letter on Music] was the lead article in a recent issue of Melos (ed. H. Scherchen, Berlin, 1920–26, then moved to Mainz), Jg. 3, No. 2. 8 Musikblätter des Anbruch, a house magazine of UE, published Paul A. Pisk's "Ferrucio Busoni's 'Offener Musikbrief'," Jg 4, Nos. 7-8, April 1922, pp 104–05. 9 Violin's Trio in D major does not appear to be part of the Oswald Jonas Collection. 10 "Ordination": an archaic term for "visit to the doctor," here a visit to a diabetes specialist. 11 Two documents: i.e. letters from Weisse to Violin and Hertzka to Violin 12 Schenker refers to the completion of his Kontrapunkt 2, which went to press on May 30, 1922, and probably also of the proofs for Tonwille 2, which was published on June 10, 1922. |
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Commentary
Digital version created: 2011-06-20 |